Es war 17:30 Uhr, als Robert Wagner als Letzter das Großraumbüro, welches er mit einem Taubenschlag verglich, verließ. Er schloss die schwere, metallene Eingangstür, drehte den klobigen Schlüssel um und stand in der dunklen Produktionshalle. Feierabend. Er war alleine, selbst die Ameisen hatten schon vor Stunden die Fabrik verlassen. Ruhe. Ein früher Freitagabend, seine Kollegen und die Ameisen würden schon bei ihren Familien sitzen und essen, vielleicht einen frühen Film im Fernsehen schauen. Seine Familie saß mit einem anderen Mann am Tisch, oder vor dem Bezahlfernsehen.
Sein Sohn würde sich an diesen Mann kuscheln, der nicht schlecht war, auch wenn er, sein Glück zerstört hatte. So war das Leben, es schlug Kapriolen. Heute sitzt du mit deiner Familie vor der Glotze, morgen stehst du alleine da und kaust an einem trockenen Brot. Nicht weil dir das Geld fehlt, nein, nach Unterhalt hatte Robert noch genug zum Leben, dies war nicht das Problem, sondern weil man alleine war. Niemand war mehr da, der einen begrüßte, wenn man sein Tagwerk abgeschlossen hatte. Niemand war mehr da, der einen in den Arm nahm. Bei dem man entspannen konnte.
Er schlürfte durch die dunkle Halle,
die von dem Notausganglicht ein wenig erhellt war, so dass er den Weg zur Türe fand. Er hatte alle Bestellungen erledigt, so dass die Ameisen am Montag wieder los buckeln konnten. Draußen, im freien, atmete er einmal schwer ein, dann blies er die Luft raschelnd aus. Selbst das Büro seines Chefs war nur ein schwarzes Loch, an der weißen Fassade des Verwaltungsgebäudes. Er blickte die Schwärze nur einen Augenblick an und wünschte sich, in ihr aufgenommen zu werden.
Als er beim Wärterhäuschen angekommen war, sah er nur den grauen Schnurrbart, von Ralf in dem
Flimmern seiner Glotze, aus der Dunkelheit aufleuchten.
„Tschö!“ drang leise das Gebrüll des Pförtners durch die Scheiben. Es würde wieder eine lausig kalte Nacht werden, keine Wolke am Himmel, nur einige Sterne schienen eisig und herzlos vom Firmament. Keine Nachtvögel, nur das stetige Rauschen vom Vater Rhein, auf dem hier und da ein Kohlenschiff fuhr. Atemschwaden stiegen von seinen Lippen auf, als er rief: „Schönes Wochenende!“
Er stieg in seinen Mini, sein linker Fuß blieb noch einen Augenblick auf dem Asphalt und prüfte, ob es Reifglätte gab. Ein wenig. Nun, er
würde ehe nicht schnell fahren. Niemand erwartete ihn. Der neue Mini sprang sofort an, das blaue Licht des Cockpit erhellte schemenhaft seine Augen im Rückspiegel und die Musik der Söhne Mannheims erklang. Xavier Naidoo und Co. sangen Sommerlied und die Melancholie, die ihm bei der Musik der Söhne immer überkam, füllte sein Herz. Suizidmucke. Er lachte kurz und geräuschlos auf. Legte den Rückwertgang ein und verließ die Parklücke.
Erster Gang, leichtes Beschleunigen, einmal hupen für Ralf und einmal die Lichthupe und er bog auf die einsame Straße Richtung Stadt, seinem Zuhause.
Der Mini war logisch. Er war sparsam, billig beim Unterhalt, teuer beim Kauf, was die Kollegen und Ameisen beeindruckte. Er brauchte keinen größeren Wagen, sein Sohn besuchte ihn sowieso nie.
Die Fahrt war, außer mit zwei Begegnungen von LKWs, belanglos. Wenn diese Brummis auf ihm zukamen, überlegte er, immer für einen Moment, ob er nicht kurz nach links fahren sollte. Doch er wollte das Leben eines Anderen nicht zerstören. Der Feierabendverkehr war schon vorbei und er kam gut durch die Straßen seiner Stadt, in der sich die Menschen auf das Wochenende vorbereiteten. Er parkte vor
seinem Apartmenthaus, und stieg wieder in die kalte, ruhige Nacht. Das Vorjet war schwach erleuchtet und der Mann am Empfang steckte seine Nase in ein Buch. Dickens , „Christmas Carol“ das englische Original, ein Outjobler mit Bildung. Da waren sie wieder, die Kapriolen. Auch wenn Marlay tot war, ließ er einen nicht in Ruhe.
„Guten Abend Herr Wagner.“
„'Nabend Niklas.“ Robert kannte seinen Vornamen, weil er, Robert, selbst ein Normalo war. Für das Geld, was sein Apartment jeden Monat verschlang, konnte er schon eine Vierzimmerwohnung bezahlen. Doch wofür brauchte er die Zimmer? Niemand
würde sich in den Zimmern aufhalten, niemand dort spielen. Sein Sohn besuchte ihn nicht!
„Kalt draußen!“ Niklas steckte seine Nase wieder in das Buch.
„Aber nur da.“ Robert stieg in den Aufzug und fuhr in den sechsten Stock.
Als er die Türe seines Apartment schloss warf er die Schlüssel auf den Glastisch und ging in die Küche, öffnete den Kühler und griff ins Leere. Das Bier, welches er dort vermutete, hatte er schon einander Mal getrunken. Tja. Unwichtige Ereignisse blieben nicht auf der Festplatte eines menschlichen Gehirns gespeichert. Er klaubte den Schlüssel wieder vom Tisch, schloss
seine Jacke, die er noch trug und kehrte wieder in die kalte und einsame Nacht. Als er vor seinem Mini stand, ließ er den Schlüssel in der Hosentasche und entschied sich für den Aldi um die Ecke. Um die Ecke war vielleicht ein wenig übertrieben, drei Kilometer musste er schon laufen, aber heute war ihm danach. Normalerweise ging er Nachts nicht dort hin, da dort der Sperrbezirk lag. Aber es war noch keine sieben und für Nutten war es noch zu früh. Er stand nicht auf käufliche Liebe. Mit fünfundvierzig schickte es sich nicht für Sex zuzahlen, seiner Meinung nach. Als er gerade achtzehn war und sein Pimmel wie eine Schnupfennase
lief, da war er Stammkunde in den Bordellen der Stadt, doch seit er dreißig war, holte er sich seine Befriedigung in Partnerschaften, von der er eine sogar geehelicht hatte.
Nun, seit gut fünf Jahren war er keiner Frau mehr näher gekommen, als seinen Kolleginnen, wenn er ihnen eine Tasse Kaffee reichte. Jetzt wo er drüber nachdachte, fiel ihm auf, wie viele Jahre seit der Scheidung ins Land gezogen waren und es war für einen Mann nicht normal, keinen Sex zuhaben. Doch jedes Mal, wenn er mit einer Frau ein Gespräch anfing, verkrampfte sich sein Magen und er ließ sie stehen. Die Einsamkeit hatte ihn
impotent gemacht. Nicht im wahren Sinne, nein! Er onanierte kräftig, mindestens jeden zweiten Tag. Es war mechanisch, kalt und erfüllte nur den Zweck, keinen Prostatakrebs zu bekommen. Aber er dachte auch nicht weiter darüber nach. Es war wie ausspucken. Danach schlief er meistens und hatte es am nächsten Tag schon wieder vergessen.
Robert stand vor dem geschlossenen Aldi. Selbst die Angestellten waren schon nicht mehr in der Nähe und der Parkplatz war verlassen. Eine Plastiktüte wehte hier und dort hin, raschelte leise. Die Straße war nicht befahren, keine Häuser links und rechts,
nur noch ein Getränkemarkt und ein dm, die beide ebenfalls zu waren. Hier konnte man tot umfallen und erst am nächsten Morgen würden sie einen finden. Ungläubig starrte er auf den Laden, der ihm nichts verkaufen würde.
Er überlegte, ob er noch einige Meter weiter laufen sollte, wo der Strich begann als er die Frau auf sich zukommen sah.
„Die schließen jetzt immer schon um 18:30 Uhr. Wegen uns!“ Sie trug einen langen Mantel, Strümpfe schauten unter seinem Rand hervor, die in roten hochhackigen Pumps steckten.
Sie war hübsch. Blond, europäisch, nach dem guten Deutsch zu urteilen,
kam sie auch nicht aus Polen, oder Tschechien.
„Was macht so ' ne chice Schwedin wie du so spät auf der Straße?“ sagte er lapidar und verfluchte sich schon selbst, dass er einen blöden Spruch von Mel Gibson zum Besten brachte. Doch das Mädchen schien sich über ihn zu amüsieren, sie war zu jung, kannte den Film wohl nicht einmal. Er kam sich alt vor. Alt und hungrig. Und er wollte ein Bier. Sein Magen verkrampfte sich und er ging einen Schritt von ihr weg.
Sie folgte ihm, mit einem Lächeln und fragte: „Hast du Lust!“
Robert spürte, dass sein Mittagessen auf dem Weg nach oben
war. Warum nur? Die Kleine war hübsch. Er musste sie nie wieder sehen. Zahlen. Keine Verpflichtungen! Er schluckte den Rotz runter und hauchte: „ Bin ohne Auto hier!“
„Macht nichts. Hier ist sowieso niemand.“
„Ich wohne nur eine viertel Stunde von hier weg.“
„Nee du! Ich latsche hoch, dann hast du keinen Bock und mein Platz ist flöten. Wir können' s hier beim Fahrradständer tun! Ich blas dir schnell einen und schon bist du auf dem Heimweg.“
„Kein Oralverkehr!“ gab Robert bitter wider.
„Okay, du kannst mich im Stehen an der Wand haben. Mach aber schnell - ist scheiß kalt!“ Atemschwaden hingen wie Sprechblasen in einem Comicbuch an ihrem Mund.
„Kein GV!“
„He?“ Die Kleine schaute ihn fragend an.
„Geschlechtsverkehr!“
„Du willst auch nicht ficken? Mann! Das schränkt meine Dienste aber ziemlich ein, mein Freund.“ Sie schüttelte ihren Kopf und drehte sich zum Gehen um.
„Ich will dich anfassen!“ schoss es aus Robert heraus. „Du machst es mir mit der Hand!“
„Okay!?“ Sie blickte ihm abschätzend an. „Kostet aber auch dreißig.“
Er nickte, dann setzte er sich auf den Radständer. Das Metall war eiskalt an seinem Hintern.
„Nee, mein Freund, beim Bücken krieg' ich es im Kreuz!“
Robert zog seine Jacke aus, faltete sie zusammen und legte sie vor seinen Füßen. Das Mädchen zuckte mit den Schultern und kniete sich nieder. Sie öffnete ihren Mantel und sie trug nur eine fleckige Korsage, einen Tanga und Strumpfhalter. Robert begann ohne Jacke zu zittern, sein Rücken schmerzte vor Kälte. Sie öffnete seinen Hosenstall und kalte, winzige Finger,
fischten nach seinem Penis. Seine Hände, warm und rau, schoben sich unter den eingearbeiteten BH und kneteten die warmen Brüste. Unter der linken spürte er ihr Herz pochen. Sie rieb. Seine Vorhaut machte schleimige Geräusche, ganz leise, doch Robert vernahm sie wie das Rascheln der Alditüte.
„Mach es nicht kaputt!“ schimpfte das Mädchen, als er versuchte runter zu ihrem Bauch zu gelangen und seine Handteller platzierten sich wieder auf die harten Nippel, wobei Robert nicht wusste, ob sie wegen ihm steif waren, oder wegen der Kälte.
Er spritzte ab. Alles landete auf seiner
Jacke.
Das Mädchen entwand sich seinen Händen und stand wieder. Sofort hielt sie ihm die Hand, mit der sie seinen Pimmel gewichst hatte, hin und sagte: „Macht dann dreißig, mein Süßer.“
Er stand auf und blickte sie mit verschwommenen Augen an. Griff in seine Gesäßtasche und klaubte sein Portemonnaie hervor. Nur ein Fünfziger und Kleingeld befand sich darin. Er griff nach dem Schein und gab ihn ihr. „Stimmt so!“
„Das ist aber lieb. Dafür wär ich auch mit zu dir!“ Sie blickte ihn gierig an. „Sag mal weinst du?“
„Die Kälte!“ sagte er knapp und hob
seine Jacke auf. Dann ging er an ihr vorbei zum Ausgang des Parkplatzes. Er schluchzte und zuckte beim Weggehen.
Das Mädchen rief ihm nach: „Wenn du mal wieder in der Gegend bist, frag nach Jessica! Ich bin Jessica!“
Robert hörte sie nicht mehr. Er weinte. Weil er sich für einen ganz kleinen Moment wieder glücklich fühlte. Sich wie ein Mann fühlte. Das warme Fleisch einer Gefährtin in den Händen hielt und einfach das tat, was so normal war. Doch er würde wieder in den Taubenschlag zurück müssen. In sein steriles Leben, wo er für Glück selbst zahlen musste.
Copyright 2014 (Betten/Masomi/LaTour)