Teil 2
II
Vom Stehen müde setze ich mich hin. Meine Jacke ist dick, meine Schuhe warm. Zwei Paar Hosen schützen meine Beine. Hier könnte ich lange sitzen und warten. Der Regen könnte mir nichts anhaben, der Wind ebenso wenig. Hotel Bushaltestelle. Hier hat man immer jemanden zum Sprechen, man ist nie allein. Und die Bekanntschaften bleiben nicht lange, sind alle unter Zeitdruck und unterwegs. Manche wollen gar nicht reden, sind in Gedanken irgendwo anders gefangen und nur physisch hier, an der
Haltestelle.
Eine ältere Dame setzt sich neben mich.
„Kalt heute“, sagt sie beiläufig mit einem Ausdruck des gespielten Ernstes auf dem Gesicht; – reibt sich die Hände.
Ich nicke.
„Wobei früher die Winter um einiges schlimmer waren. Kein so wischi-waschi Brei. Damals fror man im Winter und schwitzte im Sommer. Aber richtig – keine halben Sachen. Und jetzt kommt dieser Klimawandel, Erderwärmung, bla, bla, bla. Mein Enkel kennt sich damit aus. Er studiert. Da bekomme ich auch was mit, verstehe zwar nur die Hälfte, aber das reicht mir schon. Man muss ja nicht alles wissen, sonst wird man ja
ganz meschugge. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, hehe, Erderwärmung hin oder her, hehe. Sie sehen aber so aus, als ob Sie viel wüssten. Studieren Sie auch?“
„Nein. Ich arbeite.“
„Ja, arbeiten muss man. Natürlich. Arbeit macht … ach Gott, das darf man ja gar nicht mehr sagen. Ich hab früher als Näherin geschafft. Von nichts kommt nichts. Hat mir aber Spaß gemacht. Natürlich war nicht immer alles rosig, aber ein paar Sonnenblumen tuns auch zur Not. Doch, doch, ich bin zufrieden. Würde es noch mal genauso machen. Ach, jung müsste man sein. Sie haben noch alles vor sich, so viele Chancen,
Möglichkeiten und Freuden. Greifen Sie zu, Jüngchen!“
„Sind sie einsam?“, frage ich, ohne sie anzuschauen.
„Wie bitte?“
„Sind Sie einsam?“, frage ich im selben Tonfall und schaue die Straße vor mir an.
Sie schweigt. Eine Minute. Kein Wort.
„Nein, ich bin nicht einsam. Ich habe meinen Enkel und … meine Tochter … ja.“
Der Bus kommt und nimmt sie mit. Ich bleibe sitzen und sinne ihren Worten nach. „Nein, ich bin nicht einsam.“ – Eine Lüge? Eine Fassade, ein Ornament der Leere, die das Alter mit sich bringt? Egal was sie sagt – sie ist einsam. Ich
weiß es. Ich habe es gesehen, an ihrem Verhalten erkannt. Allein ihres Alters wegen muss sie nahe Menschen verloren haben. Ihr Mann ist sicher tot, weil sie nichts von ihm sagte. Wieso sprach sie mich an? Aus Einsamkeit, aus dem Drang heraus, sich jemandem mitzuteilen, mit jemandem zu reden, seine Stimme zu hören und sich zu versichern, dass sie gehört wird.
„Nein, ich bin nicht einsam.“ – Eine Lüge? Ich weiß es nicht, kann es nur vermuten. Wieso sollte sie mir ihre Einsamkeit anvertrauen? Auch wenn ich sie gefragt hätte, hätte sie mir nicht die Wahrheit verraten. Diese Geschichte wird unerzählt
bleiben.
III
III
Vorstellung und Wirklichkeit verschmelzen in meiner Fantasie zu einem Buch, aus dem ich lese. Das Drehbuch meines Lebens. – Unergründliche, ziellose Dramaturgie trifft auf einen schlaffen Spannungsbogen. Ich lese aber immer noch jede Seite, überspringe keine Zeile. Der Stil gefällt mir. – Schöne Metaphern, Sprach- und Wortspiele schmücken die Leere des Inhalts. Selbst zwischen den Zeilen ist nichts zu finden, egal wie sehr man das dritte Auge bemüht. Die Dialoge sind
unrealistisch, weil immer nur einer spricht und auch antwortet. Eindimensionale Ansichten lassen Unreife und Ängstlichkeit vermuten. Nein, es ist nicht einmal Angst – Ängstlichkeit – eine Andeutung, Vermutung eines Gefühls. Theorie.
„Wenn ich Sie bitten dürfte, mich ausreden zu lassen, könnte ich Ihnen erklären, worum es mir geht.“ – „Sie dürften und könnten.“ – „Also, der Punkt ist folgender: Der Mensch ist nur ein Tier, das zu viel nachdenkt. Dadurch wird er krank.“ – „Ach, was Sie nicht sagen.“ – „Sie glauben mir nicht?“ – „Doch sicher. Sie sind gerade das Paradebeispiel für Ihre These.“ – „Wie
meinen Sie das?“ – „Sie denken, dass sie denken, und das zu viel, mein Freund. So kommen Sie auf solch einen Unsinn, wie das eben.“ – „Aber dann ist es ja kein Unsinn. Dann hätte ich ja recht.“ – „Denken Sie?“ …
„Entschuldigung, hätten Sie mal nen Euro?“
Ich schaue verwundert auf und sehe einen gut gepflegten Penner vor mir. Er trägt einen wohl gestutzten Drei-Tage-Bart, eine modische Jeans und eine Jacke mit einem flauschigen Kragen. Doch es handelt sich zweifelsohne um einen Penner, was der Pappbecher in seiner Hand bezeugt.
Ich hole einen Euro aus meiner Tasche
und lasse ihn in den Becher plumpsen.
Der Kaffee spritzt im hohen Bogen auf seine Jacke und Jeans.
„Spinnst du, du Penner“, schreit er entsetzt, hält den Becher hoch und schaut sich die Spritzer an. Mit der nächsten Bewegung kippt er den Rest des Kaffees auf mich und stampft murrend davon.
Nein, ich gebe ihm den Euro besser in die Hand, dann gibt’s auch keinen Ärger.
Ich hole einen Euro aus meiner Tasche und gebe ihn dem Penner. Er bedankt sich herzlich.
„Wieso tragen Sie so gute Kleider und betteln um einen Euro“, will ich wissen.
„Betteln!?“, fragt er verwundert. „Ich
brauche Geld für den Parkautomaten.“
„Ach so“, nicke ich verständig. „Entschuldigen Sie meine Frage.“
„Kein Problem. Danke für Ihre Hilfe“, sagt er und geht davon.
Und doch lügt er. – Ich gebe ihm keinen Euro, weil er sich davon eh nur Alkohol kaufen wird. Ich sehe ihm an, dass er trinkt: Sein Gesicht ist rot und aufgedunsen, die Nase wie eine reife Erdbeere – mit vielen kleinen Poren.
„Nein, ich habe keinen Euro. Tut mir leid“, sage ich zu ihm.
„Trotzdem danke.“
Er geht davon. Nimmt einen Schluck aus seinem Becher.
So hätte ich das gemacht, wäre es dazu
gekommen. Hoffentlich. Aber auch diese Geschichte wird es nicht schaffen. Deswegen – zurück zur Wirklichkeit. Wo bin ich? Wer bin ich? Wo komme ich her? – Ich muss mich erinnern.