Vor mir liegt ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier. Es ist schon spät. Mit leisem Ticken kündigen die Zeiger der Uhr vom Lauf der Zeit. Nichts wird sie aufhalten können. Außer, ich selbst halte die Zeiger an. Wird die Zeit für einen Moment den Atem anhalten? Ob ich es einfach einmal versuche? Welche Bilder werden mich einholen, mich zurückführen in die Zeit, als ich mir meiner Zukunft so sicher war. In Gedanken versunken und vom gleichmäßigen Ticken der großen Wanduhr mir gegenüber, lasse ich mich tragen von einer Welle voller Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Das unbeschriebene Blatt scheint
sich mit Leben zu füllen. Seltsam, wie von unsichtbarer Hand geführt, erscheint Buchstabe um Buchstabe, von geradezu anmutig geführter Handschrift. Ich fühle, wie mein Herz klopft. Wie kann dies sein? Ich beuge mich vorsichtig über das Blatt, welches nun als Brief vor mir liegt. Noch immer reiht sich Buchstabe an Buchstabe. Formt sich Satz für Satz und ich beginne zu lesen:
"Meine Liebe, mein Leben.
Du warst zu jung damals, als ich dich das erste Mal sah. Sah dich nur auf einem Bild. Du hast nie viel von dir selbst preisgegeben. Ich hoffte, ich
würde eines Tages mit dir den Sonnenaufgang sehen. Die Tage reihten sich wie Perlen auf einer Kette aneinander. Ich begrüßte jeden neuen Tag in der Hoffnung, dir zu begegnen und dich näher kennenzulernen. Manches Mal war mir, als spürte ich deinen Atem in meiner Nähe. Doch nur allzu schmerzhaft musste ich immer wieder erkennen, dass es nur der zarte Hauch des Windes war, der mich streifte. Du warst mir oft so nah und doch wohl für immer so weit entfernt. Es schmerzt so sehr, zu wissen, das ich dich nun allein zurück lassen muss, denn die Zeiger meiner Lebensuhr drehen sich mit jedem Tag ein wenig
langsamer. So, wie die Nächte im Winter lang und dunkel sind, so fühlt es sich in meinem Herzen an. Meine Kraft schwindet und ich sehne mich nach ewiger Ruhe. Ich habe es versäumt, dir meine Liebe zu gestehen. So will ich es jetzt mit diesen Zeilen tun.Trage meinen Brief ganz nah an deinem Herzen und vergiss mich nie ganz. Denn dann haben wir vielleicht die Chance, dass wir uns in einer anderen Welt noch einmal kennenlernen dürfen. Lebe wohl, du Liebe meines Lebens."
Ich spürte nicht die Tränen, die sich ihren Weg hinunter auf meine Hände suchten, die den Brief hielten. Ich spürte
auch nicht die Kälte, die mittlerweile Einzug gehalten hatte, nur den schweren Ring, der sich um mein Herz gelegt hatte und der mir fast die Kraft zum Weiterlesen nahm, den spürte ich. Und ich sah nur allzu klar ein Bild vor mir:
Ein Bild in einem Profil. Es sind schon viele Jahre seitdem vergangen, doch wir hatten nie die Chance, dass wir uns näher kennenlernen durften. Und immer wieder frage ich mich, warum haben wir die Zeiger der Uhr damals nicht einfach angehalten...Der Brief hat seinen Platz gefunden.
(frei erfunden, aber mit dem Herzen geschrieben)