Als wir das Wohnzimmer betraten, sah ich, wie Jonathan und Gordy mit dem Rücken zu uns auf der Couch saßen. Das änderte sich jedoch schnell, denn Gordy bemerkte uns als Erster und stand sofort auf. Er wischte seine Handinnenflächen an der Hose ab. Warum war er nur so nervös?
„Alles in Ordnung?“ fragte er nach und ich griff automatisch nach meiner Schulter. Der Schmerz war ein wenig abgeklungen, aber ein neuer Verband musste her. Nathan hatte mit seinem Schlag volle Arbeit geleistet. Ein
hellroter Fleck zeigte, dass die Wunde wieder zu bluten angefangen hatte.
„Lass uns das alles schnell hinter uns bringen!“ sagte Nathan kühl und verschwand in der Küche.
Gordy nickte nur. Irgendwie schien die Stimmung zwischen den beiden nicht die Beste zu sein.
„Jonathan, sieh nach ihm!“ forderte er Jon auf und der befolgte die Anweisung.
Jetzt waren nur noch ich und McDavon in diesem Raum. Etwas mulmig war mir schon, denn ich wusste nicht was mich erwartete.
„Ich dachte schon, Nathan würde nicht lebend da runter kommen!“ lachte Gordy kurz, aber mir war überhaupt nicht
danach. Diese Sache war einfach nur traurig und beängstigend zugleich. Einerseits verstand ich Nathan sehr gut. Er war wütend auf seinen Vater, weil er seinem eigenen Sohn nicht glaubte. Aber Dexter hatte seine Strafe verdient, davon war ich noch immer überzeugt.
„Reden Sie jetzt endlich Klartext mit mir oder spielen wir das Spielchen weiter? Ich weiß jetzt, dass Dexter Ihr Sohn ist und das Sie ihn hängen gelassen haben. Richtig?“
„Ich konnte Dexter damals einfach nicht aus dem Gefängnis holen. Und ich glaube, das verstehst du ganz gut. Nathan gefiel das natürlich nicht. Er hätte Kleinholz aus euch gemacht, wenn ich ihn nicht
abgehalten hätte. Erst als er mit Jonathan sprach, sah er ein, dass sein Bruder keine weiße Weste trug.“
„Wussten Sie, dass Nathan Tyler entführt hat?“
„Nein, ich habe heute von Nathan einen Anruf bekommen, in dem er mir gestanden hat, dass er falsch gehandelt hätte. Er wird dich zu ihm bringen, Mason, dann kannst du deinen Sohn wieder in die Arme schließen.
„Was ist mit Lina?“
Linas Namen auszusprechen löste in mir ein unbehagliches Gefühl aus. Zwar war sie mir fremd geworden, aber ich hatte sie einmal geliebt und das konnte ich nicht einfach so abschalten. Meine Wut
gegenüber Lina war immer noch da. Sie lieferte mir mehr als genug Gründe und Tyler war einer davon. Die Vorstellung, wie man so kaltherzig sein konnte, ging mir einfach nicht in den Kopf.
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wer Lina umgebracht hat, Mason. Aber ich weiß, dass sie neben Nathan eine derjenigen gewesen ist, die Dexter am häufigsten besucht haben. Wir haben es nachgeprüft.
Und aus diesem Grund mussten wir Lina glauben lassen, dass ich tot wäre. Sie steckt mit Dexter unter einer Decke und mit Sicherheit hat sie ihn auch darüber informiert, dass ich ums Leben gekommen bin. Es verschafft uns einen kleinen
Vorteil...“
„... weil man so leicht aus dem Hintergrund handeln kann!“ vollendete ich den Satz.
„Richtig!“ stimmte McDavon mir zu.
„Dann werde ich mit Nathan und Sarah jetzt runter an die Küste fahren!“ sagte ich und erntete von McDavon einen überraschten Blick. Ich überdachte meine Worte und plötzlich ahnte ich etwas Schlimmes. Es würde zumindest Nathans Stimmung erklären.
„Er hat es dir also noch nicht erzählt!?“ hakte McDavon nach.
„Es geht um Sarah, oder?“
„Ich habe Nathan und Sarah an die Schule geschickt, um Leeman ein wenig aus dem
Verkehr zu ziehen. Sarah und Leeman sind zurück zum Auto gegangen, während Nathan noch einmal mit Jonathan an der Schule reden wollte. Ein Fehler. Als Nathan zum Auto kam, lag Sarah leblos auf dem Beifahrersitz. Er hat noch versucht, sie wiederbeleben, aber sie hatte schon zu viel Blut verloren. Sie ist tot, Mason.“
„Und Leeman?“
McDavon zuckte mit den Schultern.
„Keine Spur von ihm. Wir wissen nicht, was da abgelaufen ist, aber Nathan macht das alles zu schaffen, wie du dir vorstellen kannst.“
„Ist es denn möglich, dass Leeman etwas mit ihrem Tod zu tun hat? Ich meine, ich
kenne Leeman und der wäre nicht in der Lage dazu.“
„Ich kann deine Zweifel verstehen, aber wir sollten von nun an vorsichtig sein. Vielleicht hat er etwas damit zu tun, vielleicht konnte er aber auch vor dem Täter flüchten.“
Unglaublich. Nathan verlor seine Partnerin und ich so langsam aber sicher meinen Verstand. Es war schwierig, hier noch einen Überblick zu behalten.
Mein einziger Wunsch war eigentlich nur, Tyler wiederzusehen.
„Nathan!“ rief McDavon aus und wenige Sekunden später kam er rein.
„Verliert nicht unnötige Zeit. Und beeilt euch!“
„Wird nicht lange dauern!“
Nathan sah mich an und lächelte kurz. Wir brauchten keine Worte, denn ich wusste auch so, dass ihm all das an die Nieren ging.
Die ganze Fahrt über verlor keiner von uns beiden ein Wort. Es dauerte gerade mal eine Stunde bis wir die Küste erreichen. Meiner Aufregung nach zu urteilen fühlte es sich an wie Stunden.
Meine Beine fühlten sich an wie Pudding, als ich aus dem Wagen stieg. Ich schirmte mit meiner Hand das Gesicht ab, weil die Sonne mich blendete.
Nathan war mir bereits einige Schritte
voraus und betrat die Veranda. Er drehte sich zu mir um, weil ich immer noch am selben Fleck stand.
„Komm schon, Mason, wir haben nicht ewig Zeit.“
Er zog den Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete damit die Tür. Jetzt war es endlich soweit. In wenigen Sekunden würde ich ihn wieder sehen.
Ich betrat ebenfalls die Veranda und folgte Nathan durch die Tür.
Doch ich kam nicht weit, denn ich spürte einen leichten Druck an meinem Hinterkopf.
„Ich kann mich nicht daran erinnern, euch hierher eingeladen zu haben, Jungs!“ hörte ich die weibliche Stimme hinter
mir.
„Er ist nicht hier, Mason!“ hörte ich Nathan sagen. Er kam in einem zügigen Schritt angelaufen, blieb aber abrupt stehen, als er die missliche Lage wahrnahm.
„Das ist doch völlig unmöglich!“ platzte Nathan heraus und ab diesem Zeitpunkt glaubte ich nicht mehr daran, dass ich meinen Sohn je wieder zu Gesicht bekam.