I
Wir leben, wie wir träumen – einsam. – Joseph Conrad „Herz der Finsternis“
I
Irgendwo zwischen Tag und Nacht breche ich auf, ohne mich umzusehen. Mein Ziel ist unklar – allein das Gehen ist sicher, muss sein, ergibt sich aus dem Atemreflex und folgt diesem. Hier gestehe ich mir keine Luft mehr zu, darum atme ich mich los.
Bin ich allein? Neben mir geht jemand, genauso unbeteiligt wie ich schaut er nach vorne. Er weiĂź genau, dass ich an seiner Seite seiner Einsamkeit folge, sie
ignoriere, weil ich sie kenne. Weiß er um meine Einsamkeit? Er lässt es sich nicht ansehen, bleibt aber stets neben mir, geht nicht schneller und nicht langsamer. Wir schweigen im Gleichschritt.
Ich habe kein Ziel. Sein Ziel wird zu meinem, Schicksal und Zufall reichen sich die Hand – sie kennen sich gut, sind alte Bekannte der Unsicherheit, Kinder der Hoffnung. Doch was ist, wenn er kein Ziel hat und genauso wie ich auf jemanden hofft? Auf mich vielleicht? Gehen wir dann ziellos bis in die Unendlichkeit? Und kreuzen sich unsere Wege dort?
Ich bleibe stehen, bücke mich und löse
den Schnürsenkel meines linken Schuhs. Ob mein Begleiter weitergegangen ist? Ich wage es nicht hochzuschauen, binde langsam und voller Zweifel. Hoffe, dass er weggeht und doch bleibt. Was will ich? Hätte ich bloß nicht angehalten. Ich wünsche mich zurück an seine Seite. Lege alle Zuversicht in den nächsten Blick und lasse ihn aufschauend fliegen.
Er ist weg.
Ich richte mich auf und gehe weiter. Enttäuscht und zufrieden. Immer noch ohne Ziel. Meine Gedanken legen sich schlafen, Emotionen emigrieren in Meditation. In meinem Kopf ist Nacht. Der Himmel ist sternenschön. So viele Sterne! Sie erzählen Geschichten. Einer
nach dem anderen – und ich höre jedem zu, lasse sie aussprechen und warte auf die nächste Geschichte. Es sind unendlich viele, weil es unendlich viele Sterne sind und jeder seine Geschichte hat. Keine wiederholt sich, jede ist einzigartig und hell – an Weisheit reich. Geschichten aus fernen Reichen, geschrieben von fremden Leben und vertrauten Zufällen. Manche Dinge sind überall gleich: Liebe, Gott, Hoffnung, Tod und Einsamkeit. Jede Geschichte pflegt eines dieser Themen, entwickelt es und nährt sich von ihm. Nur schade, dass ich mir nicht alles merken kann, was die Sterne erzählen. Die erste Geschichte verschwindet aus meinem
Gedächtnis, wenn die nächste es zu bezirzen beginnt. Ein kurzes Vergnügen, ein flüchtiger Bericht, erzählt, um zu gehen, nicht um zu bleiben. So viele Geschichten, so viele Schicksale und Zeit, Zeit, unendlich viel Zeit, die beschrieben, belebt und bedacht wurde. Und so wenig darf ich erfahren, erlesen, erhören. Durch Zufall. Welcher Stern zu mir spricht, kann ich nicht bestimmen. Der Stern genauso wenig. Schicksal und Zufall reichen sich die Hand und ich hoffe dazwischen, das Richtige erleben zu dürfen.
Mein einsamer Begleiter steht wieder vor mir. Er wartet an einer Bushaltestelle. Ich sehe ihn an und habe
nun keinen Zweifel daran, dass er auf mich wartet.
Ich stelle mich neben ihn. Sein Blick liegt immer noch fern, begibt sich auf Wanderschaft über graue Blockbauten, kahle Gewächse und schweigende Straßen. Was sucht er? Ich schaue ihn an. – Sein Kopf ist groß, das Gesicht weich, die Augen blind.
„Was suchst du?“, frage ich.
„Wie bitte?“
„Was suchst du?“, wiederhole ich meine Frage im selben Tonfall.
„Kennen wir uns?“, fragt er irritiert.
Nein, so mache ich es nicht. Ich frage ihn nicht. Werde seine Einsamkeit nicht gefährden. Sie ist immerhin alles, was
uns verbindet. Fällt sie, bleibt uns nichts mehr. Sie ist alles, was uns trennt und eint.
Der Bus kommt und er steigt ein, nimmt am Fenster platz und schaut mich zum ersten Mal richtig an. Er schaut mir in die Augen und ich sehe … mich. Durch das Busfenster spiegelt sich mein Bild und meine Augen liegen auf seinen. Es sind seine Augen, mein Gesicht. Mit einem Ruck trennt sich unsere Symmetrie. Ich starre vor mich hin und verliere mich im Grau der Blockbauten, im Kahl der Gewächse und im Schweigen der Straße. Meine Augen sind blind.
II
II
Vom Stehen müde setze ich mich hin. Meine Jacke ist dick, meine Schuhe warm. Zwei Paar Hosen schützen meine Beine. Hier könnte ich lange sitzen und warten. Der Regen könnte mir nichts anhaben, der Wind ebenso wenig. Hotel Bushaltestelle. Hier hat man immer jemanden zum Sprechen, man ist nie allein. Und die Bekanntschaften bleiben nicht lange, sind alle unter Zeitdruck und unterwegs. Manche wollen gar nicht reden, sind in Gedanken irgendwo anders gefangen und nur physisch hier, an der
Haltestelle.
Eine ältere Dame setzt sich neben mich.
„Kalt heute“, sagt sie beiläufig mit einem Ausdruck des gespielten Ernstes auf dem Gesicht; – reibt sich die Hände.
Ich nicke.
„Wobei früher die Winter um einiges schlimmer waren. Kein so wischi-waschi Brei. Damals fror man im Winter und schwitzte im Sommer. Aber richtig – keine halben Sachen. Und jetzt kommt dieser Klimawandel, Erderwärmung, bla, bla, bla. Mein Enkel kennt sich damit aus. Er studiert. Da bekomme ich auch was mit, verstehe zwar nur die Hälfte, aber das reicht mir schon. Man muss ja nicht alles wissen, sonst wird man ja
ganz meschugge. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, hehe, Erderwärmung hin oder her, hehe. Sie sehen aber so aus, als ob Sie viel wüssten. Studieren Sie auch?“
„Nein. Ich arbeite.“
„Ja, arbeiten muss man. Natürlich. Arbeit macht … ach Gott, das darf man ja gar nicht mehr sagen. Ich hab früher als Näherin geschafft. Von nichts kommt nichts. Hat mir aber Spaß gemacht. Natürlich war nicht immer alles rosig, aber ein paar Sonnenblumen tuns auch zur Not. Doch, doch, ich bin zufrieden. Würde es noch mal genauso machen. Ach, jung müsste man sein. Sie haben noch alles vor sich, so viele Chancen,
Möglichkeiten und Freuden. Greifen Sie zu, Jüngchen!“
„Sind sie einsam?“, frage ich, ohne sie anzuschauen.
„Wie bitte?“
„Sind Sie einsam?“, frage ich im selben Tonfall und schaue die Straße vor mir an.
Sie schweigt. Eine Minute. Kein Wort.
„Nein, ich bin nicht einsam. Ich habe meinen Enkel und … meine Tochter … ja.“
Der Bus kommt und nimmt sie mit. Ich bleibe sitzen und sinne ihren Worten nach. „Nein, ich bin nicht einsam.“ – Eine Lüge? Eine Fassade, ein Ornament der Leere, die das Alter mit sich bringt? Egal was sie sagt – sie ist einsam. Ich
weiß es. Ich habe es gesehen, an ihrem Verhalten erkannt. Allein ihres Alters wegen muss sie nahe Menschen verloren haben. Ihr Mann ist sicher tot, weil sie nichts von ihm sagte. Wieso sprach sie mich an? Aus Einsamkeit, aus dem Drang heraus, sich jemandem mitzuteilen, mit jemandem zu reden, seine Stimme zu hören und sich zu versichern, dass sie gehört wird.
„Nein, ich bin nicht einsam.“ – Eine Lüge? Ich weiß es nicht, kann es nur vermuten. Wieso sollte sie mir ihre Einsamkeit anvertrauen? Auch wenn ich sie gefragt hätte, hätte sie mir nicht die Wahrheit verraten. Diese Geschichte wird unerzählt
bleiben.