Prolog
Die Erde bebte. Ein Tross von Wagen ratterte auf die Stadt zu, begleitet von Männern mit Lanzen und grimmigen Gesichtern. Kettenhemden und Schwerter klirrten mit jedem Schritt, Peitschen knallten, zuckten über den schweißglänzenden Körpern der Pferde wie blutige Versprechen.
Ihre eisernen Hufen donnerten über den harten, ausgedörrten Boden und wirbelten Staub auf. Anaka hustete bitterlich, ein tiefer, röchelnder Husten, und streckte flehend die Hand aus. Einige der anderen Namenlosen hatten sich ebenfalls aus ihren dunkle Ecken erhoben, jammerten und krochen auf die
Gefährte zu. Sie hatten Hunger, einen Hunger, der an ihren Eingeweiden nagte und sie zittern ließ. Er war stärker als ihre Angst vor den blitzenden Waffen der Soldaten. Und die Wagen stanken nach Geld.
Poliertes Holz glänzte in der unerbittlichen Hitze, feine Stoffe zierten ihre Fenster, und manchmal, alle Mittsommerwenden, warf jemand eine Münze hinaus. Anaka kroch nach vorne. Klein und wendig wie sie war, schaffte sie es so nah, dass sie fast die goldene Achse des Wagens berühren konnte. Die Straße ruckelte, und sie sah den nächsten nahen. Ein Mann mit verhülltem Gesicht saß vorne auf dem Bock und lenkte. Sie konnte die fließenden Mähnen der Pferde sehen,
ihre kraftvollen Beine, und die Angst in ihren Augen. Eine Stimme schallte über den Platz. „Du da, zurück, Abschaum!“.
Anaka wandte sich ängstlich um, und sah, dass der Rest der Namenlosen sich verkrochen hatte, zurückgetrieben von den wütenden Männern mit ihren spitzen Waffen. Ihr Anführer, ein stämmiger Mann mit einer schweren, zerkratzten Rüstung, deutete mit seinem Finger auf sie und hatte wütend sein Schwert erhoben.
Sie war allein, allein vor dem rasenden Wagen und den Soldaten. Ihr Herz pochte wild, aber zwischen ihrer heilloser Angst formte sich ein verrückter Gedanke. Was,
wenn sie den Wagen anhielt? Vielleicht würde jemand aussteigen. Sie würde sich vor die Knie dieser Menschen werfen, die es sich leisten konnte, feine Stoffe in den Wind zu hängen und in geschlossenen Wagen zu reisen. Vielleicht war heute ihr Tag, und man würde ihr eine Münze geben. Sie stand auf, schnell, bevor die nächste Hustenattacke sie wieder zu Boden riss, und rannte auf die Kutsche zu.
„Verflucht! Bringt die Göre da weg!“, schimpfte der Hauptmann, und sie sah einen Mann auf sie zu rennen. Er war groß, stark und stank. Er wollte sie im Nacken packen und fortschleifen, doch geschickt wie sie war, wich sie seinem Griff aus und schleuderte ihm
eine Hand voll Sand ins Gesicht.
Fluchend rieb er sich die Augen, griff blind nach ihr, doch er konnte sie nicht aufhalten. Sie rannte, der Wind in ihrem Haar, dem donnernden Gefährt entgegen. Die Pferde rollten mit den Augen, sie konnten sie riechen und wollten ihr ausweichen, doch der Mann mit der Peitsche trieb sie unerbittlich. Der Hauptmann brüllte weit hinter ihr Befehle, doch es war bereits zu spät.
Anaka breitete die Arme aus. Der Kutscher sah sie, und unter dem schwarzen Stoff sah sie, wie seine Augen sich weiteten, und er den Mund zum Schrei aufriss. Dann zerrte er an den Zügeln. Tödliche, blitzenden Hufen
schwebten über ihr, als die Pferde stiegen, und die Angst ließ fast ihr Herz erstarren. Dann landeten sie mit einem dumpfen Aufschlag harmlos vor ihr auf dem Boden.
Die Tiere schnaubten, und die Wagentür ging auf. Eine Gestalt kam aus dem Inneren, so fremd und exotisch, das Anaka laut aufatmete. Es war wohl eine Frau, dem Anschein nach, doch ihre schlanke Gestalt verschwand unter den weiten, farbenfrohen Gewändern, die sie trug.
Ein mit Gold beschlagener Gürtel zierte ihre Taille, und um ihre Kehle prangten kleine, schillernde Perlen, zu einer Kette aufgereiht. Ihr Gesicht war hell, unberührt von Schmutz
und Pocken und für Anaka sah sie aus wie ein Engel. So rein, so schön, so jenseits von dem Elend, was sie umgab. „Warum haben wir angehalten?“, fragte sie mit einer leisen, gebrochenen Stimme.
Der Kutscher sah sie erschrocken an. „Mylady Sidyana, es ist nichts. Kehrt ins Innere zurück, wir fahren sofort weiter“. Doch die hellblauen Augen des Engels sahen das kleine Mädchen, das vor den schnaufenden Pferden stand. Ihre Knie waren schmutzig, ihre Kleider zerrissen, und ihr Atem ging rasselnd. „Wer ist dieses Kind?“, fragte die schöne Frau entsetzt. „Wo sind wir hier?“.
Der Kutscher schüttelte den Kopf. „Wir sind in
den Außenvierteln von Miazzanta, Mylady, ich flehe euch an, kehrt in den Wagen zurück. Erspart euch den Anblick“. Der Hauptmann stapfte auf sie zu, sein Gesicht glich einem aufgedunsenem Geschwür, so verzerrt war es vor Wut. Anaka spürte, wie er sie an den Haaren packte, und der Schmerz trieb Tränen in ihre Augen. „Nein!“, rief die Frau, ihre Hand hoch erhoben. „Lasst sie! Tut ihr nicht weh“.
Der Hauptmann erwiderte ihren Blick kühl. „Mylady, das ist töricht. Dieses Mädchen hat sich vor die Räder geworfen. Hört auf euren Gefolgsmann, geht in den Wagen“. Die Frau hielt sich die Hand vor den Mund und trat einen Schritt auf sie zu. „Geht es dir gut? Hast du dich verletzt?“. Anaka näherte sich ihr
vorsichtig, ein Auge auf die Stahlfaust des Hauptmanns gerichtet. Dann kniete sie sich hin und streckte die Hand aus, in der einzigen Geste, die sie in und auswendig kannte. „Du wagst es!“ knurrte der Hauptmann, doch Anaka hörte nicht auf ihn. Der Engel sah ihre Wunden und die Zeichen von Prügel, ihren ungesunden Hautton, die hoffnungslose Leere in ihren Augen, und eine Träne trat in die hellen Augen. „Du armes, armes Ding“.
Anaka spürte neue Hoffnung in sich aufsteigen. Dieser Engel, dieser wunderbare, saubere Mensch, war auf ihrer Seite. Vielleicht würde er sie sogar retten. Sie wollte die Frau berühren, nur um sich zu vergewissern, dass sie echt war. Doch die
Frau hatte nach ihrer Kehle gegriffen. Ihre schlanken, anmutigen Finger lösten den Griff der Kette, und legten die schimmernden, runden Perlen in Anaka's Hand. Fasssungslos starrte sie auf diesen Schatz, das Geschenk des Engels, was mehr war, als je ein Namenloser besessen hatte, und dann auf das wundersame Antlitz.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn der Anführer der Soldaten schaute sie an, und schwarzer Hass funkelte in seinen Augen. „Hab keine Angst“, sagte der Engel zart, und plötzlich strichen kühle Finger über ihr lausiges Haar. „Alles wird jetzt gut“. Und Anaka glaubte ihr, denn sie hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so weiße Haut
hatte und so erhaben war. Es war ein Engel, also musste es die Wahrheit sein. „Mylady!“, keuchte der Kutscher entsetzt. „Ihr bringt euch in schreckliche Gefahr... diese Bettler haben alle Parasiten! Geht nun hinein, bei den Göttern“.
„Aber...“, begann die Frau, von hinten kam ein Ruf. „Weiter!“. Eine Reihe von Wagen wartete, und der Hauptmann musterte den Engel mit einem finsteren Blick. Er griff sie am Arm. „Geht hinein, oder ich muss eurem Bruder darüber berichten“, mahnte er sie, und die Frau schenkte Akana ein unglückliches Lächeln. „Mach es gut“, murmelte sie, und die Männer schlossen die Tür hinter ihr. Akana hielt die kleine
Perlenkette fest umklammert, während sie zuschaute. Tränen liefen über ihr Gesicht, halb vor Glück, halb vor Kummer. Sie war einem Engel begegnet... und jetzt trug sie ihr Zeichen. Doch warum konnte sie nicht mit ihr gehen?
Sie trat einen Schritt nach vorne, wie, um nach der Wagentür zu greifen, doch dann schloss sich ein umbarmherziger Arm um ihre Kehle. Zerrte sie fort von der Straße. Die Peitschen zischte durch die Luft, und die Pferde zogen an. Akana wollte weinen und nach dem Engel schreien, doch der eiserne Griff schnürte ihr die Luft ab. „Du Miststück“, sagte eine harte, grausame Stimme, „du dummes Ding. Du hast keine Ahnung, was du
damit angerichtet hast. Und die Lady... die Lady zu berühren. Du und deinesgleichen, ihr gehört alle ausgeräuchert!“. Das von Abscheu verzerrte Gesicht des Hauptmanns schwamm vor ihr, bevor mit einem Knacken ihr Genick brach.
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