Kapitel 2
Die Stunden vergingen quälend langsam und ich konnte mich einfach nicht auf den Unterricht konzentrieren. Nicht einmal in meinem Lieblingsfach Kunst war ich mit allen Sinnen dabei. Zu viele Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Zu viele Zweifel nagten an mir. Mrs Grown, meine Kunstlehrerin, bemerkte natürlich sofort, dass etwas nicht mit mir stimmte. Sie kannte mich inzwischen einfach zu gut und auch meine Zeichnungen ließen meine Zerstreutheit erkennen. Als ich die letzte im Kunstsaal war, sprach sie mich darauf an. „Jacinda, mir ist aufgefallen,
dass du nicht ganz bei der Sache warst. Möchtest du darüber reden?“ Durch ihre Rehaugen warf sie mir einen mitfühlenden Blick zu und streichelte meinen Rücken. Normalerweise fand ich Berührungen unvertrauter Menschen abstoßend, doch bei ihr war es anders. Vor mir saß plötzlich nicht mehr meine Kunstlehrerin, sondern jemand, mit dem ich reden konnte. „Ich weiß auch nicht, es tut mir leid. Es kommt nicht wieder vor.“
„Ist wieder etwas mit deinem Bruder vorgefallen?“ Woher in Gottes Namen wusste sie davon?! Mein Bruder Whyatt war zurzeit in einer ziemlich schwierigen Phase. Er neigte schnell zu
Aggressionen und hatte einen übertriebenen Beschützerinstinkt, was mich anging. Ein falscher Blick von einem Jungen und dieser wünschte sich, er wäre niemals geboren worden. Schon einmal hatte er einen Jungen wegen mir Krankenhausreif geschlagen, dabei hatte ich nur ganz norml mit ihm geredet... Ich fand es grässlich, wie er sich verhielt. Andauernd musste Mom ihn von der örtlichen Polizeiwache abholen. Sie waren dort bereits schon Per Du mit uns! Keiner von uns sprach es aus, doch Whyatt wurde genau wie er - genau wie unser Vater einst war. „Nein... Nein. Es ist nichts, wirklich nicht. Ich stehe unter Lernstress, das ist alles.“ Die Ausrede
war billig und das wusste ich auch. „Ich werde dich nicht zwingen, mir irgendetwas zu erzählen, doch ich würde dir gerne helfen. Ich spreche nun nicht als deine Lehrerin Mrs Grown zu dir, sondern als Bathilda.“ Sie lächelte mich schief an. „Na schön. Es ist vielleicht etwas kindisch, aber ich.. Es gibt da einen Jungen. Ich habe Angst ihn zu verlieren, wenn er erfährt, wie ich für ihn empfinde. Lucinda hat heute mit ihm geredet um in Erfahrung zu bringen, wie er für mich empfindet. Deswegen bin ich so unkonzetriert und hibbelig.“ Ihr lächeln wurde breiter. „Ah, eine junge Liebe, soetwas höre ich gern.“ Mrs Grown war sicher schon 60 Jahre alt.
„Dann halte ich dich mal lieber nicht länger auf. Los, geh mein Kind!“, sagte sie und scheuchte mich auf. Mir wurde klar, dass ich Mrs Grown viel lieber mochte, als ich bisher geahnt hatte. Bevor ich ging, wünschte sie mir noch viel Glück und versicherte mir, dass es keineswegs kindisch war, Angst um jemanden zu haben, den man liebt.
Im Schulhaus hielt sich niemand mehr auf. Wer blieb auch schon länger als nötig in der Schule? Auch Lucinda war schon weg. Na toll, das hatte ich jetzt davon. Wie sollte ich denn nun erfahren, was mit Jayden herausgekommen war? Eine eiserne Hand umklammerte mein Herz. Vielleicht könnte sie nicht mit
ansehen, wie es mich zerstören würde, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben wollen würde. Doch ich machte mir unnötig Gedanken. Als ich an der Stelle vorbei kam, an der Lucinda und ich uns immer trafen, sah ich dort Jayden stehen. Er war allein und er wich meinem Blick aus. Selbst als ich direkt neben ihm stand, schwieg er. Ich hatte die leise Hoffnung, dass er mich einfach nicht bemerkt hatte, doch selbst als ich ihn ansprach, kam kein Wort über seine Lippen. Da war wieder diese eiskalte Hand um mein Herz...