21. Kapitel Lissy Doll ist unschuldig „Willst du mir keine Strafpredigt oder so was in der Art, halten?“, fragte ich Elly auf der Autofahrt nach Hause. „Oh, ja. Leonie du hast Hausarrest, weil du einen Goldfisch vor dem Tod gerettet hast. Und weil du bei so einem warmen Wetter schwimmen warst“, erst klang sie ernst, dass brach sie in Lachen aus. „Das war aber kein Goldfisch“, meinte ich. Irgendwie konnte ich mir immer noch nicht vorstellen, dass Judith die Schwester von Iska war. Sie waren so unterschiedlich trotzdem waren sie
verwandt. Dennoch hatte ich beide noch nie zusammen gesehen. „Wie war eigentlich die Mathearbeit?“ „Hör auf damit! Die Arbeit ist jetzt vergessen. Viel wichtiger ist, dass ich alle überreden konnte, meinen Geburtstag zu vergessen.“ „Warum willst du denn nicht, dass deine Freunde dir eine Party veranstalten?“, sie klang verwundert. „Weil … keine Ahnung. Ich feiere lieber mit meinen besten drei Freunden allein.“ „Elias darf aber nicht mit übernachten!“, meinte sie streng. Wenn sie wüsste, wie oft wir schon zusammen gezeltet hatten. Aber wenn ich es mir recht überlegte, waren wir nie
allein. Beim ersten Zelten waren Mandy und Max dabei gewesen. Bei den anderen zwei Mal, hatte Phillip bei Saskia Punkte sammeln können, weil er unser Zelt so schnell aufgebaute. Ohne ihm etwas davon gesagt zu haben, steckten Elias und ich die letzten Stangen noch in die richtigen Schlaufen. „Ich dachte mir schon, dass du so was sagst!“, ich verzog den Mund. „Deshalb hab ich mir was Besonderes überlegt!“ „Und was? Wenn ich fragen darf“, sie zwinkerte mir zu. „Wenn du ins Kino willst, vergiss es!“ „Nein, das wollte ich nicht, aber auch eine gute Idee. Eigentlich hatte ich mir
gedacht, dass wir eine Schnitzeljagd machen.“ Diesen Plan hatte ich auch durchdacht. Wir hätten alle Zeit der Welt, unsere Verdächtigen zu befragen. Ich könnte ihnen die Höhle im Feld zeigen, falls ich sie wieder fand. Wir könnten uns auch im Hotel einchecken, um Informationen über der Inhaberin zu bekommen. „Eine Schnitzeljagd? Wie alt seid ihr denn? Soll ich die Spuren legen?“, scherzte sie. „Elly bitte, wir wollen zelten. Saskia, Mandy und ich wollen uns ein Zelt teilen und Elias und seine Freunde auch“, versuchte ich sie zu überzeugen. Zwar würden keine Freunde von Elias
mitkommen, aber sicherheitshalber. Vielleicht würde Elly mich sonst nicht gehen lassen. „Warum macht ihr das nicht in den Ferien?“, fragte sie mürrisch. „Warum an deinem Geburtstag?“ „Wann haben wir denn Ferien?“, ich wunderte mich darüber, dass die Ferien in Rheinland Pfalz anders lagen, als in Nordrhein-Westfalen. „Dein Geburtstag ist am Donnerstag. Am Montag fangen die Ferien an. Ihr könnt ja dann am Sonntag losgehen. Aber wo wollt ihr eigentlich zelten? Bei Mandy?!“ „Nein, spinnst du?“, hätte ich sie am liebsten gefragt. Zu Mandy nach Hause
und vor allem auf den Speicher wollte ich nie wieder in meinem Leben. Obwohl, von da ja eigentlich keine Gefahr mehr drohen sollte. Denn die Puppe lag ja in unserem Haus. In dem Zimmer gegenüber meinem. Genau in diesem Augenblick parkte Elly das Auto in unserer Einfahrt. Jetzt war ich zuhause. Wo jemand auf mich wartete, um mich verrückt zu machen. Lissy Doll verfolgte mich, da war ich mir sicher. Plötzlich verspürte ich den seltsamen Drang, Lars zu treffen. Ich wollte ihn komischerweise ärgern. Ich wollte mich wieder von ihm demütigen lassen und endlich wieder unbeschwert lachen
können. Ihm könnte ich von diesem seltsamen Tag und dem armen kleinen Fisch erzählen, der mir sein Leben zu verdanken hatte. Vielleicht hatte ich bei ihm mehr Chancen, meinen Geburtstag ausfallen zu lassen. Ich hatte keine Lust auf weitere Peinlichkeiten, wie die Überraschung im Wohnzimmer. Jetzt fiel mir wieder ein, dass Lars mir bereits ein Geschenk gemacht hatte. Aber er schenkte es nicht allein. Iska und er hatten zusammengelegt. „Lars, wir sind da!“, rief Elly nach oben. Sie verschwand in der Küche und begann das Mittagessen vorzubereiten. „Leonie?“, klopfte jemand an meine Tür. „Kann ich rein
kommen?“ „Klar“, ich hatte keine Ahnung, wer da vor meiner Tür stand. Die Stimme kam mir zwar bekannt vor, ich erinnerte mich aber nicht an das passende Gesicht. Die Klinke wurde senkrecht nach unten gedrückt und ein trauriges Gesicht erschien in der Tür. Judith! Was wollte die denn hier? „Hey, tut mir leid, dass, was heute in der Schule passiert ist … tut mir leid“, sie traute sich nicht, mir in die Augen zu sehen. Woher kam der plötzliche Seitenwechsel? „Mach die Tür zu“, ich hoffte, sie würde es von außen
machen. „Klar.“ Die Tür ging zu. Sie setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl. Ich lag in meinem Lesesessel, hatte ein gutes Buch in der Hand und war enttäuscht, dass Lars bei einem Mädchen namens Paula war. „Ich fand wir waren immer so gute Freunde“, fing sie schmollend an. Sie schaute kurz zu mir, bevor sie wieder auf ihre Nägel, die schwarz lackiert waren, starrte. Sie wurde Iska immer ähnlicher. „Ach, auf einmal?“, irgendwie wurde ich immer sauer. „Ich fand schon, nur dann hast du dich mit dem Feind verbrüdert und …“ „Mit dem Feind?“, die Worte glitten über
meine Lippen. „Du nimmst die Bandensache aber ganz schön ernst.“ „Was soll das denn heißen? Ihr habt unser Baumhaus geschrottet!“, fuhr sie mich wütend an. „Wir? Nein! Das war Herr Kessel. Der Förster!“, half ich ihr auf die Sprünge. „Quatsch. Rache ist süß- nicht wahr?“, lächelte sie mich an. Ich überlegte kurz, was ich ihr sagen sollte: „Warum ist dann unser Bandenquartier auch weg?“ Auch sie musste kurz nachdenken: „Damit ihr die Spuren verwischt!“, schlug sie vor. „Ach hör auf!“, ich zog die Brauen nach
oben. „Albern, oder?“, fragte sie freundlich. „Ja!“, rutschte es aus mir heraus. Ich biss die Zähne zusammen. Jetzt bloß nichts Falsches sagen!!! Wir quatschen noch was. Ich hatte wirklich das Gefühl, das wir wieder Freunde waren. „Bist du dir sicher, dass sie dich nicht ausnutzen will?“, fragte Saskia am Telefon. „Ja, Leo, pass auf. Du kennst sie doch“, auch Mandy nahm an unserer Telefonkonferenz teil. „Leute, aber was ist, wenn sie sich wirklich geändert hat?“, ich konnte mir
nicht vorstellen, dass Judith so fies wie ihre Schwester sein konnte. Obwohl, eigentlich war sie das, wenn man sich gegen sie wendete. „Warten wir, wie es sich entwickelt. Vielleicht hat sie ja nur Schuldgefühle!“, meinte Mandy. „Ja, weil sie Leo fast umbrachte“, meinte Saskia amüsiert. „Könnt ihr mal aufhören, damit? Ich werde ihr nichts verraten“, versprach ich. Ich berichtete ihnen noch von meinen Plänen für das Wochenende. „Super Idee mit dem Hotel. Wir checken uns für Sonntag und Montag, oder auch länger ein und brechen in das Büro der Leiterin
ein.“ „Das ist aber leichter gesagt als getan, Saskia“, meinte ich. „Außerdem müsste jemand sie ablenken“, bemerkte Mandy. „Kommt Elias denn auch mit?“, fragte Saskia hoffnungsvoll. „Klar!“, versicherte ich ihr. „Ich muss ihn nur noch anrufen.“ „Hoffentlich, ohne einen starken Mann traue ich mich nicht in das dunkle Hotel der Dornbrechts“, wimmerte Mandy. „Warum nicht? Was ist denn an dem Hotel so schlimm?“, wollte ich wissen. „Nichts!“, versicherte Saskia. „Es ist nur etwas altmodisch.“ „Altmodisch?“, schrie Mandy vor Panik
in den Hörer. „Wohl eher antik!“ „Warum? Was ist denn da Besonderes?“, wiederholte ich meine Frage. „Überall sind tote Tiere, dunkle Ecken und kleine Fenster. Ein Ort zum Fürchten!“, meinte Mandy. Bei ihrer Beschreibung erinnerte ich mich an die alte Fabrik. Sollte ich Mandy wirklich im Dunklen lassen? Ich fand es schrecklich, ihr nicht die Wahrheit sagen zu dürfen. Der Donnerstag kam schneller als erwartet. In den vergangenen Tagen hatte ich einige Theaterproben und Aufräumaktionen mit Judith hinter mich bringen müssen. Sie wurde immer netter. Ihre Freunde schienen das
allerdings nicht zu verstehen, was ihre Freundin von mir wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mich nur benutzte, um Informationen zu bekommen. Natürlich hatte ich auch am Donnerstag Geschenke bekommen. Elias bestand darauf, dass ich am Nachmittag mit ihm ins Kino fuhr. Ich stellte mir diesen Geburtstag nicht so romantisch vor, aber es war auch klar, dass sie mich ablenken wollten. – Ich sprach extra im Plural, denn Elly und Marc wollten genauso wenig wie meine Freunde, dass ich an meinem vierzehnten Geburtstag Trübsal blies. Während des Films hatte Elias mich die
ganze Zeit angeschaut. Ich hatte gar keine Chance, mich auf den Film zu konzentrieren. Wollte er nur sehen, ob ich heimlich weinte oder bewunderte er meine „Schönheit“? Und jedes Mal, wenn unsere Hände sich in der Popkorntüte berührten, lächelte er noch dabei. Er wendete nur einmal kurz den Blick von mir, um zu sehen, wer ihn angerempelt hatte. Ein dicker Mann mit einem kleinen Mädchen hatte sich neben ihn gesetzt und seinen Arm von der Lehne geschoben. „Danke. Es war wirklich schön“, bedankte ich mich später, am Ende der langen Autofahrt, bei ihm. Wir mussten in den Ort auf der anderen Seite des
Waldes fahren, um den neusten Film sehen zu können. Er lächelte gequält. „Happy Birthday“, er gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor er wieder in den Wagen seines Vaters einstieg. Ich blieb noch lange vor unserem Grundstück stehen und winkte dem davon fahrenden Auto nach. Erst, als der PKW um die Ecke gebogen war, ging ich auf die kleine Veranda zu. Wie es zu erwarten war, hatte Elly schon hinter der Tür auf mich gewartet. Gut gelaunt umarmte sie mich. „Es war schön, oder?“, kicherte sie. Ich war irgendwie nicht in der Stimmung zu scherzen. Auch, wenn ich
ab heute arbeiten gehen durfte (Darauf, Zeitungen austragen zu dürfen, hatte ich schon Jahre gewartet), war ich eher traurig. Der erste Geburtstag ohne meine Eltern, ohne meinen kleinen Bruder, der mal wieder mein Geschenk vergessen hatte und mir dann etwas von sich geschenkt hatte. Meist hatte ich die Spielzeugautos oder was er sonst so geschenkte, irgendwann wieder in seine Spielzeugkiste geschmuggelt. „Komm, wir machen was zusammen“, schlug sie vor, als ich mich träge auf das Sofa schmiss. „Und was?“, fragte ich gelangweilt. Was war nur aus mir geworden? Hätte ich je gedacht, dass ich mich bei einer fremden
Familie aufs Sofa schmeißen würde und mich über mein Leben beschweren würde?- Nein, sicher nicht. „Wir können ein Spiel spielen!“, antwortete sie schnell. „Wohl eher nicht“, las sie von meinem Gesicht ab. „Wir könnten eine Party feiern!“, schlug Lars vor, der gerade die Treppe herunter kam. „Haben wir das nicht schon?“, fragte ich lustlos. „Schon, aber heute ist dein …“, meinte Elly. „Mein erster Geburtstag ohne sie“, flüsterte ich und Tränen stiegen in meinen Augen auf. „Es tut mir leid“, Elly küsste mich auf
die Stirn. Ich sah noch, wie Lars ihr eine Hand auf die Schulter legte, bevor sie nach oben verschwand. „Ich weiß, wie das ist“, sagte er sanft. „Komm schon, denk nicht daran. Denk einfach, dass sie noch da sind. Irgendwo anders auf der Welt. Und, dass sie auch gerade so an dich denken, wie du an sie. Leo, sie sind ja da“, er tätschelte sanft meine Schulter, dann verschwand auch er irgendwo. „Kann ich?“, fragte Marc, als er sich neben mich auf das Sofa setzte. Ich musste nicht lange nachdenken, was er mit „Kann ich“, meinte. Schnell nickte
ich und der Fernseher flimmerte auf. „Was willst du sehen? Heute kannst du entscheiden!“, verkündete er fröhlich. „Ja? “, brüllte Elly von oben. Ich lauschte dem Stimmengewirr, das von ober herunter drang. „Bitte sag, dass wir Bundesliga gucken sollen“, versuchte Lars mich zu überreden. „Nein, sag, dass wir „Wer wird Millionär“ sehen“, auch Elly wollte mich beeinflussen. „Leute, ich schalte nur auf das, was mir von Leonie gesagt wird“, Marcs Stimme klang ungewohnt streng. Mein neuer Vater erschien auf den ersten Blick sehr streng und edel, aber wenn man ihn
näher kannte, wusste man, dass es weder das Eine noch das Andere war. Marc war sehr kindisch, spielte oft mit uns Kicker oder Playstation. Und edel passte gar nicht zu ihm. Er war schon über vierzig und konnte sich noch nicht mal selber eine Krawatte binden. Sein Büro war genau wie Lars´ Zimmer - ein Saustall. Und von seinem Kleiderhaken im Flur wollten wir gar nicht erst anfangen. Trotzdem stand Elly mir viel näher. Das lag aber wahrscheinlich daran, dass wir beide dasselbe Geschlecht haben. Komischerweise kommt aber auch Lars besser mit Elly
klar!? Am Freitagnachmittag trafen wir uns alle im Park. Elias, Saskia und ich hatten bereits unsere Taschen für die Übernachtung gepackt. „Was sollen wir der Frau denn sagen?“, fragte Saskia und schaute zu Elias. „Letztes Mal waren wir ja ein wenig planlos!“ „Warum guckst du mich so an?“, Elias war empört und das zu Recht. Was dachte Saskia sich eigentlich? Und warum machte sie ihn jetzt so doof an? „Ach, nur so. Wir müssen das raus finden“, meinte sie schließlich. „Und noch mal in den Wald“, fügte
Mandy hinzu. „Aber ohne mich.“ Elias drehte kurz den Kopf in meine Richtung. Ich verstand sofort, warum er nicht mitkommen wollte. Wenn Saskia ihn später wieder verantwortlich machen wollte, war das nicht nur unfair, sondern auch total uncool. „Ich auch nicht“, es war wohl das Richtige, an Teamwork und Zusammenarbeit, statt an Streit zu denken. „Was soll das denn jetzt?“, Mandy verstand die Welt nicht mehr. „Wir streiten, teilen uns auf. Und später hassen wir uns“, erklärte ich ihr. Sie runzelte die Stirn. „Aber, was ist mit unserer Bande?“, Mandys Stimme
zitterte. „Wollt ihr das Rätsel wirklich im Alleingang lüften?“, Saskia fixierte sich vollkommen auf mich. „Wenn du nicht damit aufhörst“, drohte Elias. „Nein“, brüllte ich. „Wir halten zusammen. Genau das wollen Lara, Iska und der ganze andere Haufen hinkriegen. Wir lassen uns gleich auf unsere Zimmer führen, danach schauen wir uns etwas um. Am Abend gehen wir eine Runde durch den Wald spazieren. Und in der Nacht …“, ich machte eine kurze Pause. „… machen wir das Hotel unsicher“, stimmten alle drei hinzu. „Also, sind wir uns doch einig“, erklärte
ich meinen besten Freunden. „Und jetzt holst du deine Tasche.“ Mandy schaute kurz auf. „Soll ich allein gehen?“ „Nein, wir kommen mit“, Elias nahm meine Hand und zog mich die Straßen entlang. „Ich will aber nicht noch mal rein“, flüsterte ich, als wir in dem kleinen Innenhof standen. „Lissy Doll ist nicht mehr da“, Elias verstand sofort, wovor ich Angst hatte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er mich besser verstand als ich mich selbst. Das Herz hat Gründe, die der Verstand
nicht kennt. Saskia und ich gingen mit Mandy rein. Elias wurde von Herrn Müller aufgefordert, die Kühe herein zu treiben, da seine Hüfte kaputt war. „Ich hab meine Tasche schon vor zwei Tagen gepackt, weil ich es nicht erwarten konnte, hier weg zu sein“, Mandy flüsterte nur, damit die Wände es nicht ihren Großeltern weitersagen würden. In diesem alten Bauernhaus hörte man im Keller, wie jemand auf dem Speicher eine Stecknadel fallen lässt. „Man, du hast dein Zimmer ja immer
noch nicht gestrichen“, beschwerte sich Saskia. „Tut mir leid, ich hätte ja gerne, aber …“ Das leise Murmeln meiner Freundinnen, das ich kaum noch verstand, hüllte die obere Etage in eine unheimliche Stimmung. Und noch unheimlicher war die Tür zum Dachboden, der ich den Rücken zuwandte. Ich hielt das nicht mehr lange aus. Ich presse mich gegen die Wand. Wenn sie nachgab, würde ich drei Meter tief auf das harte Pflaster im Hof fallen. Zu den beiden wollte ich auch nicht, dann müsste ich zugeben, dass ich Angst
hatte. Obwohl gar nichts zu fürchten da war. Vielleicht die komischen Stützbalken, die den Weg zum Badezimmer beschwerten. Oder die Spinnenweben, die über dem schweren Bücherregal hingen. Oder das unheimliche Gemälde von den vier Männern in schwarzen Umhängen. Die Männer standen hier vor dem Hof. Man erkannte die drei Gebäude wieder, sie waren nur noch etwas weißer, sahen größer und prächtiger aus. Offensichtlich stammten sie aus einem anderen Jahrhundert. Unheimlich war aber auch, dass die Männer alle nach rechts guckten, neugierig folgte ich ihrem Blick, der zu der Speichertür
führte. War das beabsichtigt? Was mich aber am meisten verrückt machte, war, dass der Schein trübte. So wundervoll und märchenhaft sah der Hof von außen aus. Doch niemand, nicht einmal die Bewohner wussten, was für ein Geheimnis diese drei Gebäude hüteten. Ein Windzug, denn das Fenster am Ende des Flurs stand auf Kipp-Stellung, stieß die Speichertür auf. Der leichte Hauch des warmen Abendwindes kitzelte an meinen Wangen. War das ein Zeichen? Sollte wirklich hochgehen? Warum nicht, es war ja nichts da oben. Und vielleicht würde ich etwas finden. Etwas, was uns weiterbringen
würde. Steif vor Angst schlich ich die kurze Treppe, hinter der Speichertür hinauf. Die Wohnungstür stand wie immer einen Spalt offen. Das war eigentlich sehr dumm, denn jeder Einbrecher kam locker herein und heraus. Genau wie wir damals. Wir hatten ein Seil an einem hervorstechenden Pfosten und den Ästen des dicken Baumes festgebunden, um so schnell wie möglich zu fliehen zu können. Und wie immer hatte ich ein seltsames Gefühl wie ein Schatten über der Wohnung. Auch wenn hier kein Mord passiert wäre, könnte ich niemals hierher ziehen.
Die Sonne ging hinter den Hügeln am Ende der Felder unter. Das war das Einzige, was man durch die verschmutzten Fenster sehen konnte. Solle ich es riskieren, das Licht anzumachen? Besser nicht. Ich kramte in meiner kleinen Tasche, die mir noch immer an der Schulter hing. Meine Taschenlampe leuchtete hell auf, denn heute Morgen vor der Schule hatte ich mir extra noch drei neuere Batterien aus der Garage stibitzt. Ich leuchtete den Boden ab und hoffte, dass man meinen Lichtstrahl von draußen nicht sah. Quiekend hielt ich mir die Hand vor den
Mund, um nicht zu schreien. Die Lampe fiel mir aus der starren Hand. Es war wieder dunkel - Lissy Doll saß auf ihrem normalen Platz. Wie immer, als wäre nichts passiert. Meine Beine ließen sich nicht mehr bewegen. Stocksteif stand ich da. Auf was wartete ich? Ich wusste es selber nicht. Vielleicht darauf, dass jemand meinen Namen rief, weil er mich suchte. Oder dass Lissy Doll kam, um mich auch zu holen. In diesem Moment blitzte die Birne in der Lampe. Für einen Moment wurde der Raum wieder beleuchtet, und ich sah Lissy Doll, in ihrem leuchtenden weißen Kleidchen, ihren lockigen Haaren,
die mit zwei weißen Bändern aus ihrem Gesicht gebunden wurden. Das Püppchen lächelte mich an, als ob es mir etwas zeigen wollte. Aber was? Nur wenige Strahlen der fast untergegangenen Sonne schafften ihren Weg noch durch die Rillen der Fensterläden, die an einem Fenster hingen. Der orangene Schein ließ Lissys Kleid gefährlich grell aufleuchten. Erst jetzt erkannte ich, dass sie anders war als sonst. Ich schaute etwas genauer hin. Mir fiel auf, dass ihre Hände nicht wie sonst auf ihren Oberschenkeln lagen, sondern gefaltet an ihrem Bauch. Irgendwas Helles klemmte zwischen ihren Fingern. Sollte ich es
nehmen? Ich zögerte kurz, bevor ich meine immer noch steifen Beine, in Richtung Lissy Doll zwang. Vor ihr blieb ich stehen und sank auf die Knie. Mein ganzer Körper zitterte. Es fiel mir nicht gerade leicht den sich seltsam anfühlenden, alten Zettel aus ihren steifen Fingern zu ziehen. Das raue Blatt lag in meiner unruhigen Hand, während ich wieder zur Wohnungstür lief. Die beiden Türen schlossen sich fast geräuschlos hinter mir. Ich war im Flur, in Sicherheit. Erleichtert atmete ich auf. Ich lebte noch! Neugier überkam mich und ich konnte
mich nicht zurückhalten, das Blatt zu lesen. Es war zusammengerollt worden. Vorsichtig, um das alte Blatt nicht zu zerbröseln, strichen meine Finger, die sich nur ein wenig beruhigt hatten, über die Seiten. Natascha; denke immer an mich! Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Wer war Natascha? Ich überlegte gründlich, ich kannte niemanden mit dem Namen Natascha. Vielleicht aber meine Freundinnen. Ich stürmte in Mandys Zimmer, doch es war
leer. „Hallo?“ „Leo, wo warst du?“, fragte Mandy aufgeregt. „Wir haben den ganzen Hof nach dir abgesucht!“ „Wir haben uns echt Sorgen gemacht“, fügte Saskia zwingend hinzu. „Tut mir leid, ich war auf dem Dachboden und seht mal, was ich gefunden hab“, ich hielt ihnen das Blatt hin. Beide lehnten sich darüber und runzelten die Stirn. „Wer ist Natascha?“, fragte Mandy, während Saskia fragte: „Wer hat das geschrieben?“ „Keine Ahnung“, meine Antwort passte zu beiden Fragen. „Woher hast du das?“, Mandy klang
verunsichert. „Lissy Doll, sie hat es mir gegeben“, stammelte ich. Erst später merkte ich, dass sich diese Antwort etwas komisch anhörte. „Sie hat sie dir gegeben?“, entsetzt starrten sie mich an. „Naja, sie hatte sie in der Hand und ihre Augen sagte das so was …“ „Leo, du bist verrückt“, bemerkten sie. „Ja, ich glaub auch. Aber was noch komischer ist, die Puppe ist wieder hier. Dann ist sie nicht mehr bei mir zuhause.“ „Wir müssen sofort nachsehen, ob sie noch bei euch ist“, Mandy sprach so schnell, wenn sie aufgeregt war, dass
man sie fast nie richtig verstand. „Ja“, das glaubte ich auch. „Elias warte bitte unten, dann besprechen wir alles!“, schlug Saskia vor. Wir vereinbarten, dass ich und Elias zu mir gingen, um nachzusehen, ob Lissy Doll noch da war. Saskia und Mandy sollten auf dem Dachboden Lissy Doll im Auge behalten, denn vielleicht wollte der Mörder, oder irgendjemand anders, dass wir denken, dass die Puppe uns verfolgt. „Geh in unseren Garten, aber pass auf, dass dich niemand sieht! Ich mach dir die Balkontür auf.“ Zum Glück gehört Elias zu der schlauen Sorte von Jungs.
Er wusste, welche Tür, nämlich die zum Büro, ich meinte. Er nickte kurz, küsste mir auf die Wange und rannte durch die Dunkelheit. In Lars´ Zimmer brannte Licht, dass machte die Sache schwieriger, denn wie sollte ich unbemerkt unter Lars´ Bett schauen, ob Lissy Doll noch da ist, wenn er im Zimmer ist? Zögernd klingelte ich, hoffentlich waren Marc und Elly zu Hause. „Na, Schatz“, Elly freute sich wirklich, mich zu sehen. „Hi.“ „Was ist, wo sind deine Freunden? Hab ihr euch gestritten?“ „Nein, sie warten alle bei Mandy. Ich
hab nur was Wichtiges vergessen!“, hoffentlich nahm sie mir diese bescheuerte Ausrede ab. „Na dann flitz mal schnell hoch“, sie trat einen Schritt zur Seite und ließ mich eintreten. So schnell ich konnte verschwand ich in meinem Zimmer. Ich musste mir irgendwas ausdenken, um Lars abzulenken. Das Handy in meiner Hand summte. „Akku fast leer!“, teilte es mir mit. Da kam mir eine Idee. „Lars, hast du schon ne Idee, was wir Marc und Elly zu ihrem Hochzeitstag schenken sollen? Ich schon …“, quasselte ich eine Sprachmemo von fünf Minuten voll. Danach machte ich Elias die Balkontür
auf. „Hast du schon einen Plan?“, fragte er verzweifelt. „Klar“, meinte ich selbstverständlich. „Versteck dich erst mal im Büro. Wenn Lars in mein Zimmer geht, weil er meine Stimme hört, schau ich schnell unter seinem Bett nach“, das war mein Plan. „Warum lenkst du ihn nicht einfach ab, und ich schau nach?“, fragte er verständnislos. „Ganz einfach, weil du die Lissy Doll heute nicht gesehen hast. Wenn die Puppe hier nun ein anderes Kleid, oder sonst was anders hat, merkte ich das sofort …“ „Das klang
vernünftig.“ „Soll schon mal verkommen. Und jetzt ab in die Besenkammer!“, ich schob ihn sanft in den kleinen Spind neben Lars´ Zimmer. Das Handy legte ich in mein Badezimmer, stellte sie Lautstärke auf die höchste Stufe, danach rannte ich in Büro. „Lars, hast du schon ne Idee, was wir Marc und Elly zu ihrem Hochzeitstag schenken sollen? Ich schon …“, brüllte ich. Sofort ging die Rockmusik in meines Bruders Zimmer aus und er streckte den Kopf aus der Tür. „Leo, nicht so laut, die hören
das.“ Wie wär´s mit einem riesigen selbstgebackenen Kuchen?“, fragte das Band weiter. „Leo!“, Lars, machte die Tür meines Zimmers hinter sich zu. „Dass er so blöd ist, hätte ich nicht gedacht!“, dachte ich. Im letzten Moment hatte ich an meinem brillanten Plan gezweifelt. Doch jetzt schien er tatsächlich aufzugehen. Ich gab Elias mit einem leisen Klopfen Bescheid, dass er herauskommen sollte. Wir schwebten fast über Lars´ schmutzige Wäsche, die überall auf dem Boden verstreut lag. Es war mir ganz schön peinlich, wie viele verschieden
große BHs auf dem Boden lagen. Sammelte er sie etwa? Elias nickte mir zu, als ich mich runter bückte. Ich machte eine Liegestütze, damit nicht so viel meines Körpers an die schmutzige Sportwäsche, die nach Schweiß und versagtem Deo roch, kam. Ich musste hüsteln, als mein Gesicht unter dem Bett verschwunden war. Hatte hier noch nie jemand sauber gemacht? Gab es überhaupt ein letztes Mal?, fragte ich mich schon wieder. Dann sah ich die Puppe. Ich betrachtete sie ganz genau. Zwar ein bisschen ängstlich, aber schon wesentlich selbstbewusster, als beim letzten
Mal. Sie sah vollkommen anders als Lissy Doll aus. Ihre Gesichtszüge waren viel gröber und ihre Lippen in einer Kussform. Im Gegensatz zu Lissy, die mit ihrem Lächeln für Angst und Panik sorgte. „Das ist nicht Lissy“, flüsterte ich. „Gut, dann komm“, er nahm meinen Arm und zog mich wieder auf die Beine. Wir versteckten uns im Büro und warteten, bis Lars wieder aus meinem Zimmer kam. Doch er kam nicht. „Wie viel hast du denn drauf gesprochen?“, fragte Elias genervt. „Fast sechs Minuten“, gestand ich und bereute es jetzt
schon. „Was machen wir jetzt? Noch fünf Minuten warten? Wir müssen los! Jetzt!“ „Ist ja gut“, ich überlegte kurz und wieder war ich diejenige, die den rettenden Einfall hatte. „Gib mir mal dein Handy!“ Er gab es mir, ohne zu zögern. Ich tippte einen Buchstaben in eine SMS an mein Handy ein. Nachdem ich auf SENDEN gedrückt hatte, lauschten wir beide meiner lauten Stimme, die sich auf dem Band viel echter als meine wirkliche anhörte. Das Handy summte kurz, dann war alles still. „Leo? Alles Okay?“, fragte mein Bruder
besorgt. „Ja, alles Okay! Geh jetzt, ich hab geduscht und will mich jetzt umziehen“, stammelte ich dicht an Elias gequetscht. „Okay!“, er glaubte mir und ging aus dem Zimmer. Erst, als wieder Rockmusik zu hören war, trauten wir uns aus dem Büro. Ich holte noch schnell mein Handy, bevor ich Elias wieder über die Balkontür hinaus brachte. „Tschüss, ich hab mein Handy gefunden, ich bin dann wieder bei Mandy!“, rief ich ins Wohnzimmer. „Soll ich dich nicht lieber hinfahren?“, fragte Marc abwesend, ich wusste, dass ein wichtiges Fußballspiel für ihn lief.
„Guck lieber, zu Mandy ist es nicht so weit. Außerdem kommen meine Freunde mir bestimmt schon entgegen“, log ich. „Ja. Tschau!“, verabschiedeten Elly und Marc sich von mir. Elias legte behutsam seinen Arm um mich, als wir zurückgingen. „Das war perfekt! Ich wäre nie auf so was gekommen!“ „Es ist doch alles schief gelaufen!“, meinte ich betrübt. „Ja, und? Du hast alles wieder geradegebogen!“, er küsste mich sanft auf die Schläfe. „Gerade
so.“