Um zu verstehen, um was es hier geht, musst du eines wissen. Ich bin kein Mensch. Und ich bin kein Tier. Ich habe zwei Gesichter, gehöre aber weder dem einen, noch dem anderen an. Meine Rasse gehört zu den ältesten unserer Welt und zu den seltensten. Wir sind weise und stark, mutig und friedvoll. Unsere Anführer waren die mächtigsten unserer Art, tapfer und edel. Und wenn Nachts der Mond aufging, war unser Gesang erfüllt von Glück und Zuversicht. Wir lebten für uns und trotzdem wiesen wir nie einen Hilfesuchenden zurück und ließen sie an
unserem Leben teilhaben - solange sie bewiesen, dass sie es wert waren. Denn niemand konnte uns finden, wenn wir nicht gefunden werden wollten und niemand konnte uns bezwingen, denn unser Wille war unbezwingbar - war.
Vor einigen Jahren veränderte sich alles. Es erschienen fremde Wesen, Wesen die wir nicht kannten und die unsere Gesetze nicht achteten. Die zerstörten unsere Wälder, plünderten unsere Heimat. Viele unserer Clans haben diese Zeit nicht überlebt. Sie haben uns alles genommen. Unsere Gefährten, unser Zuhause, unsere Freiheit...
Wir sinnen nach Vergeltung, doch sind wir nicht stark genug, uns zur Wehr zu
setzen. Wie müssen warten, bis jemand kommt, der stärker ist, als wir. Und reiner ist, als wir. Jemand, dessen Kraft nicht in den Muskeln liegt, denn Muskeln können gebrochen werden. Sondern jemand, dessen Kraft in seinem Herzen liegt. Und er wird uns retten und uns leiten und Gerechtigkeit bringen. Ein wahrer Held, wie man ihn nennt. Doch jeder Held muss seinen Weg finden. Niemand wird als Held geboren. Es ist kein Geburtsrecht, keine Vorherbestimmung oder ein Anspruch. Es sind unsere Gedanken, unsere Gefühle und unsere Entscheidungen, die uns zu Helden machen.
Der Wind stand still, kein Zweig rührte sich. Die Nacht schwieg.
Keine guten Jagdbedingungen für einen Wolf. Oder einen Bären. Oder einen Menschen.
Milo hob den Kopf. Ein langer Atemzug ergab nichts und es schien, als wolle der Wald ihn in dieser Nacht einmal wieder nicht belohnen. Entmutigt schnaubte der Junge. So würde er niemals ein guter Jäger werden. Er würde für immer ein jämmerlicher Schwachkopf und Schwächling bleiben, genauso, wie sein ach-so-perfekter Bruder Kelan es immer gerne ausdrückte. Ja, Kelan war ein guter Jäger. Aber er bildete sich viel zu viel darauf ein. Trotz der Tatsache, dass
sie Beide in der selben Vollmondnacht geboren wurden, und dank dessen wohl etwas besonderes sein sollten, teilten die Brüder nicht mehr als ein und das selbe Gesicht. Kelan war stärker als Milo und das zeigte er ihm in jeder ihm möglichen Situation. Er hatte seine erste Beute bereits mit acht Jahren nach hause geschleppt. Nun, vermutlich war es daher gerechtfertigt, dass er sich und sein Ego auf eine andere Stufe stellte als den Rest der Welt. Trotzdem konnte Milo es nicht unterdrücken, eine leichte Eifersucht zu verspüren. Immerhin hatte er es mit zwölf Jahren noch immer nicht geschafft, ein winzig kleines Reh oder nur einen Hasen zu erbeuten. Er war
wohl wirklich ein hoffnungsloser Fall. Vielleicht konnte er sich garnicht verwandeln. Vielleicht war er einer von den Wölfen ohne Gesicht, einer von denen, die nur eine Last für den Rest des Rudels waren. Aber wenn es so wäre, wie sollte er jemals eine Familie verosrgen oder sie beschützen?
Zu etwas größerem bestimmt. Tse. Nur weil jemand von seiner Art in einer Vollmondnacht geboren wurde, bedeutet das doch noch lange nicht, dass man einmal Heldentaten vollbringen muss, oder? Tja, zumindest gebührt diese Ehre offentsichtlich Kelan. Wütend trat Milo einen kleinen Kiefernzapfen ins düstere Unterholz, wo er klackend auf die hohle
Rinde eines Baumes traf und im schwarzen Nichts verschwand. Da legte sich eine große Hand auf seine Schulter, die dagegen winzig, fast schon zerbrechlich wirkte. Milo blickte zu seinem Vater auf als dieser einen Finger an die Lippen legte und leise sagte: "Nur mit der Ruhe, mein Sohn. Verlang nicht zu viel vom Wald." Er lächelte. "Vertrau auf deine Fähigkeiten." Er schob den Jungen zur Seite, bis sein Blick direkt zwischen die Wurzeln zweier der beiden Bäume fiel, zwischen denen der Zapfen nun wohl liegen musste. Doch da war nichts zu erkennen. Nichts, außer die schwärze der Nacht.
"Versuch, die Dunkelheit nicht als deinen
Feind anzusehen. Siehe nicht mit den Augen. Horche, rieche und schmecke mit der Luft. Sie erzählt dir alles, was du wissen musst." Milos Vater war ein weiser Mann und ein brillianter Jäger. Er wusste, wie man etwas zur Strecke bringt und noch wichtiger, er wusste wie man die Beute findet.
"Konzentriere dich auf deine Umgebung. Hör genau hin, bis sich jedes Detail offentbart."
Milo tat wie ihm geheißen und schloss die Augen. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, was seine Augen nicht sehen konnten. Doch in seinem Kopf wirbelten viel zu viele Gedanken, die ihn anschrien und nicht zur Ruhe
kommen lassen wollten. Er wusste, dass irgendwo hinter ihm in den Schatten Kelan hockte und sich über seine verzwickte Situation amüsierte. Er konnte sein hämisches Grinsen förmlich im Nacken spüren.
"Achte nicht auf ihn.", flüsterte sein Vater. "Achte auf dich und auf das, was vor dir liegt." Milo atmete noch einmal tief ein und schloss wieder die Augen.
Er hörte einer einsamen Amsel einen Augenblick lang ihrem Sommerlockenden Lied zu, welches eigentlich schon vor Sonnenuntergang hätte verstummt sein sollen. Doch nach dem harten Winter dieses Jahr schienen alle Lebewesen hier in diesem Wald den
Drang zu verspüren, alles mögliche zu unternehmen, um dem ersehnten Frühling ein Stückchen näher zu kommen. Dann wanderte seine Aufmerksamkeit hinüber zu dem plätschernden Fluss, der erst seit einigen Wochen aufgetaut war. Als er noch zugefrohren war, waren Kelan und er dort auf dem Eis geglitscht und hatten sich darum gestritten, wer die bessere Bahn bekommt. Im Sommer waren sie Beide einmal so dumm und unvorsichtig gewesen, nach einem Gewitter in dem reißenden Fluss schwimmen gehen zu wollen. Doch dann hatte Milo kalte Füße bekommen und weigerte sich. Daraufhin bezichtigte Kelan ihn als einen Feigling
und schubste ihn in die kalten Fluten. Ein Schaudern druchlief ihn, als er an diesen Augenblick dachte. In diesem Moment, als das erbarmungslose Wasser ihn unter sich zu erdrücken versuchte und ihn mit sich fortriss, war Milo sich sicher, dass er sterben würde, was sicher auch passiert wäre, wenn sein Vater ihn nicht herausgezogen hätte. Milo hatte keine Ahnung, wo er auf einmal herkam, aber es war das erste und einzige Mal, dass er Kelan angsterfüllt erblickte. Anfangs wollte er sich noch einreden, dass es Angst um seine Wenigkeit war. Doch mit der Zeit war er sich sicher, dass es nur die Schreckensstarre war, die ihn überrascht hatte, als Vater ihm
eine ordentliche Standpauke versetzte.
Darays Aufmerksamkeit gelangte zu dem Ameisenhaufen driekt neben seinen Füßen. Er sah sie nicht, doch er konnte ihre tausend kleinen Füße auf dem weichen Waldboden hören.
Er hörte das leise und nervenraubende Summen kleiner Mücken, die sich langsam ihren Opfern näherten und den kühlen Wind, der sich pfeifend seinen Weg durch die tiefen Furchen und Schluchten der Berge bahnte, welche dieses Tal wie einen Kessel einschlossen. Irgendwo tief im Boden grub sich eine kleine Maus durch ihre unterirdischen Gänge und in einer großen Kiefer einige Meter neben ihnen
erwachte ein Uhu aus seinem langen Schlaf, genau wie er, bereit zur Jagd. Sie alle waren gerade aus der Winterpause erwacht. Doch was wollte sein Vater ihm damit verdeutlichen? Mit all dem hier? Sollte ihn das Erkennen eines tödlichen, nach Blut siefenden Mückenschwarms vor einem grausemen, ausgesaugten Tod bewahren? Nein, das hier sagte ihm nichts, was auch annähernd wichtig für das spätere Leben wäre.
Da verstärkte sich der Druck von der Hand auf Milos Schulter. Sein Vater hatte seine Abwesenheit gespürt. Er wollte ihn auf etwas aufmerksam machen. Er lenkte seinen Blick wieder in
Richtung der Bäume und Milo konzentrierte sich. Er versuchte so leise wie möglich zu atmen und hielt ganz still. Und dann erkannte er Kelan, der einige Meter hinter ihm auf dem Ast eines großen Baumes saß. Sein langsamer, aber stetiger Atem hatte ihn enttarnt. Und da war noch etwas an ihm. Nicht nur sein vertrauter Geruch, der ihm nun durch die Zweige entgegenwehte, sondern auch sein Herzschlag. Das stetig pulsierende Leben in ihm. Er konzentrierte sich darauf und seine Gedanken beruhigten sich im klaren Einklang des rhytmischen Pochens. Doch auf einmal schreckte Daray auf. Kelans Herz lief nicht
gleichmäßig. Es überschnitt sich manchmal sogar, so als wären es zwei -
Es waren zwei Herzschläge. Sie waren nicht allein und es war nicht sein eigener oder der seines Vaters. Es kam aus dem dunklen Schattenstück zwischen den beiden Bäumen. Sein Vater hatte es schon ewig bemerkt, das wusste Milo jetzt. Er beobachtete seinen Vater, wie dieser sich langsam herunterbeugte und einen weiteren Kiefernzapfen aufhob. Er holte aus, und warf ihn gezielt zwischen die Wurzeln. Milo spürte den Herzschlag, wie er einen erschreckten Sprung machte, denn das Tier wusste genau, dass es beobachtet wurde und er spürte auch Kelans steigende
Anspannung, denn auch er hatte das Wesen zwischen den Wurzeln bereits bemerkt. Wenn Milo jetzt nicht aufpasste, schnappte ihm sein Bruder seine Beute vor der Nase weg.
Das Tier zögerte. Es wusste nicht, ob es rennen sollte, oder auf sein Glück in der Dunkelheit vertrauen sollte. Kelan machte einen Satz vom Baum herunter. Das hätte ein guter Jäger nie getan, es sei denn, es wäre genaue Absicht, das Tier damit aufzuschrecken. Er wollte die Jagd also in Gang setzen. Gehetzt schoss ein kleines Kaninchen aus den Wurzeln hervor und floh in die Tiefen des Waldes. Milo knurrte verärgert. Er war noch nicht nah genug dran, um es
schnappen zu können. Trotzdem lief er los. Er sah das Tier vor sich und er merkte, wie sein Jagdinstinkt stärker wurde. Er lief schneller. Er spürte eine Kraft in sich, die er mehr als einmal zu unterdrücken versucht hatte. Doch dieses Mal wollte er es Kelan zeigen. Sein Bruder hatte es darauf ankommen lassen, das ihm das Kaninchen entwischte. Jetzt musste Milo beweisen, dass er das Zeug dazu hatte, ein guter Jäger zu werden.
Er spürte, wie seine Muskeln stärker wurden, wie seine Augen schärfer wurden und er nach und nach den Wald und seine Geheimnisse immer besser erkennen konnte. Er roch die Angst des
Kaninchens und sein rasendes Herz.
Er spürte, wie er sich duckte, wie sich sein Körper veränderte. Es passierte. Jetzt. Zum ersten Mal in seinem Leben. Kelan hatte sich schon mit acht damals in sein zweites Ich verwandelt. Wenn dieser Moment gekommen war, bedeutete das, dass man bereit war, das Erbe seines Clans anzutreten. Und nun war auch Darays Moment gekommen.
Er spürte das Feuer durch seine Adern pulsieren wie die heiße Glut eines ausbrechenden Vulkans. Diese Macht, die einen Jäger ausmachte.
Er kannte diesen Teil des Waldes. Er musste das kleine Tier nur nach links treiben, um es in eine Sackgasse zu
hetzen. Alles ging auf einmal so leicht von der Hand. Sein Gesicht veränderte sich, sein Brustkorb größer und mit einem entschlossenen Sprung vollendete Daray seine Verwandlung. Sein Körper war nun nicht mehr der eines Menschen. Er war kein Außenseiter, keine Last mehr oder ein Wolf ohne Gesicht. Er hatte seines gefunden. Er war nun ein wahres Mitglied der Wölfe aus dem Ghazir-Tal.
Der Wolf in ihm den Kaninchen den Weg abgeschnitten. Ängstlich versuchte es sich zwischen die Wurzeln des umgestürzten Baumes zu zwängen, welcher den Weg blockierte.
Es sah Milo an, mit riesigen, angsterfüllten Augen, zitternd und hoffnungslos, ohnmächtig, etwas gegen den Tod tun zu können, welcher es gleich überfallen würde.
Der Instinkt in Milo schrie ihn förmlich an. Töte es! Beweise dich! Bringe es deinem Vater! Es ist nur ein kleines Tier! Töte es!
Milo sah dem kleinen Tier in die Augen. Es sah so hilflos aus. Es wirkte fast wie... Er selbst. Sollte er nur töten, um etwas zu beweisen? Nur um seiner Familie zu zeigen, dass er kein hoffnungsloser Schwachkopf war? Nein. Das mochte etwas für Kelans Gewissen sein, jedoch nicht für Darays. Er konnte
es nicht töten. Nicht, solange noch ein Funken Menschlichkeit in seinen Knochen steckte. Er trat zurück und spürte, wie sein menschliches Ich sich von dem Wolf zu lösen begann. Er richtete sich auf und atmete tief durch. Vermutlich würde er das hier schon bald bereuen. Dann drehte er sich um, und ging zurück zu seinem Vater, darauf bedacht, dem kleinen Tier keinen Blick mehr zuzuwerfen. Und dann spürte er ihn. Den weißen Wolf.
Er stand auf einem hohen Vorsprung, still und aufmerksam. Und er beobachtete ihn. Und noch bevor Milo einen Blick auf sein schneeweißes Fell werfen konnte, wusste er, wer der
Wer-Wolf war, der ihn die ganze Jagd über beobachtet hatte, ohne auch nur einen Gedanken an das zu verlieren, was ein wahrer Wolf in seiner Situation getan hätte. Denn ein Wolf hätte keine Gnade erwiesen.
Milo erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem Kelan sich das erste Mal verwandelte. Vater und Mutter waren sehr stolz gewesen, als ihr jüngster Sohn den großen Schritt tat und den Wolf in sich freigab. Kelans Fell war schwarz wie die Nacht. Wieder ein Punkt für ihn, wenn man bedenkt, dass schwarze oder weiße Wer-Wölfe dazu auserwählt sind, einmal ein Rudelführer zu werden. Das
Fell eines Wolfes lässt sich nicht von dem Aussehen des Menschen in ihm ablesen. Es verdeutlicht nur die Stärke des Selbst. Kelan ist stark, in allem was er tut. Daher ist er der perfekte Alpha.
Normalerweise verwandeln sich junge Wer-Wölfe das erste Mal mit zehn Jahren.Genauso, wie es sein und Kelans älterer Bruder Badrio tat. Er war ein beinahe genauso guter Jäger wie sein Vater und sein Fell war so weiß wie Schnee. Er hatte früher immer auf die beiden Streithähne aufpassen müssen. Milo hatte ihn sehr gerne gehabt und genoss es, mit ihm zu spielen. Badrio war liebevoll aber hartnäckig und diszipliniert. Vor etwa einem Jahr hatte
er die Familie dann verlassen, um sich einem anderen Rudel anzuschließen. Heute ist er in einem Rudel, in dem er zu einem Anführer ausgebildet wird. Und wenn er gut genug ist, wird er vielleicht den Platz des jetzigen Alpha-Wolfs übernehmen. Oder er tut sich mit anderen jungen Wölfen zusammen und gründet sein eigenes, wanderndes Rudel, bis er einen Platz gefunden hat, den er Revier nennen kann. Aber das kommt nurnoch selten vor. Unsere Rasse starb aus. Einige nannten es ein Wunder, dass unsere Familie gleich zwei Alphas hervorbrachte, da heutzutage kaum noch welche geboren wurden. Also steckten
viele Erwartungen in Badrio und Kelan. Milo beachtete man vorsorglich garnicht, was ihn teilweise wirklich nicht weiter störte. Andererseits vermisste er seinen Bruder Badrio, der seine Familie verlassen hatte, um ein neues Rudel zu gründen. Doch dieses Rudel lag weit hinter den Bergen. Eines der wenigen Rudel, die dieses Land noch beheimatete. Er besuchte die Familie nur noch selten, aber heute wollte er kommen. Es war Neumond und ein Instinkt sagte den Wölfen, dass heute Nacht etwas großes geschehen würde.
Milo schaute zu dem weißen Wolf auf.
"Und?", fragte er. Da richtete sich der
ihm gegenüber auf und seine Züge wurden menschlicher. Mit einem fast bedauerlichen lächeln sagte er: "Mausgrau."
Milo nickte. Ja, das hatte er erwartet, aber immerhin.
"Aber", sagte der ältere und sprang mit einem Satz von dem Vorsprung herunter, "du wirst immer mein kleiner Lieblingsbruder sein." Er ging zu seinem Milo und legte ihm einen Arm um die Schultern. Milo grinnste. "Ein schwacher Trost. Du bist spät." "Am Besten wir gehen zurück, sonst sehen Kelan und Vater noch, dass du dem Hasen zur Flucht verholfen hast."
"Badrio...", fing Milo an, doch dieser
schnitt ihm das Wort ab. "Ich weiß, das ist nicht unbedingt gewöhnlich und ich will es auch nicht unbedenklich nennen, aber ich werde es schon niemandem erzählen, versprochen." Sie gingen nebeneinander her, zurück zum Heim der Familie. "Das war dein erstes Mal, nehm ich mal an?", meinte Badrio und lächelte. "Ich wusste, du würdest es noch schaffen." Milo schnaubte. "Danke. Trotzdem bin ich das schwarze Schaf mit dem grauen Fell." "Sei nicht immer so negativ! Wie oft hat Mutter dir die Geschichte von Warek dem großen erzählt? Der silberne Wolf, der seinen Clan aus der Gefangenschaft gerettet hat. Niemand hat an ihn geglaubt und
trotzdem wurde er ein Held." Milo verdrehte die Augen. "Das ist ein Märchen, Badrio. Nichts davon ist wirklich passiert." "Legende.", verbesserte ihn sein Bruder. "Das ist etwas anderes. Ein Märchen ist nur eine ausgedachte Geschichte, von alten Greisen am Lagerfeuer erfunden, um den Jüngsten Angst zu machen. Eine Legende ist eine... Etwas aufpolierte Erzählung einer Wahrheit. Es hat Warek gegeben."
"Ja, aber vermutlich war er garnicht silber, sondern schwarz oder weiß und jemand brauchte eine interessante Geschichte, daher dann silber. Oder er hat solche Heldentaten nie vollbracht,
und sich nur für die eines Anderen rühmen lassen." "Na, ganz bestimmt. Und vermutlich war er auch noch ein Gauner, Plünderer und Verräter. Alle schlimmen Dinge werden ihm aufgedrängt, weil ich versuche dir zu helfen." Er tippte gegen Milos Kopf. "Oder dem da. Lass dich nicht so sehr von Kelan beeinflussen. Nur weil er schwarzes Fell hat, bedeutet das nicht, dass er im Leben glücklicher wird. Vielleicht bringen ihn die Verantwortungen, die er einmal tragen muss um den Verstand. Es heißt ja nicht, dass seine Innere Stärke niemals gebrochen werden kann. Du bist ebenso besonders wie jeder andere Wolf auf
dieser Welt. Immerhin bist du genauso in einer Vollmondnacht geboren wie er."
Daray lachte und schüttelte den Kopf. "Okay, vergessen wir diesen esoterischen Quatsch!"
Badrio stimmte in sein Lachen ein und legte im Gehen seines Arm um Milos Schulter, genauso, wie es Vater immer tat.
Einen Moment schwiegen sie.
"Badrio, was wird heute geschehen?"
Badrio antwortete nicht sofort. "Soweit ich weiß wird der alte Gran wieder eine seiner Ankündigungen machen, über die Rettung unserer Rasse oder..." "Unsere Vernichtung.", vollendete Milo seinen Satz. Badrio schwieg.
"Weißt du, es steht nicht gut um unsere Clans. Hast du gehört, was mit dem westlichen Clan der Ebenen geschah? Mit dem Abdara-Clan?"
Milo zog die Bauen zusammen und schüttelte den Kopf. "Zu uns dringen kaum mehr Informationen von den anderen Wölfen vor. Was ist passiert?"
Badrio ballte die Hand zu einer Faust.
"Sie existieren nicht mehr."
"Was?"
"Sie haben den kompletten Clan vernichtet. Auch die Kleinen."
Milos Augen wurden groß und e blieb stehen.
"Was bedeutet das? Ich meine, was heißt das für uns?" Doch bevor Badrio
antworten konnte, dröhnte die harte Stimme seines Vaters zu ihnen herüber.
"Hör sofort auf, ihm diese Geschichten zu erzählen! Keiner von uns war da und niemand kennt genau die Wahrheit."
Er kniete sich vor Milo auf den dunklen, moosbewachsenen Boden.
"Hab keine Angst, mein Junge. Wir sind hier sicher. Sie haben keine Ahnung, wo wir sind und das wird auch so bleiben!" "Sag das mal nicht zu voreilich!" Badrio biss die Zähne zusammen. "Ich war da. Ich habe gesehen, was passiert ist. Und ich weiß, was sie getan haben. Sie zeigten keine Gnade! Vater, das hier ist kein Spiel mehr! Wir müssen gehen!"
"Nein! Das hier ist der einzige Ort, an
dem noch nie Blut vergossen wurde und das wird so bleiben!"
Hinter einem Baum trat Kelan langsam aus dem Schatten und betrachtete Badrio mit einem kalten, abschätzigen Blick.
"Warum warst du überhaupt da?", fragte er. "Müsstest du dann nicht genauso tot sein, wie der Rest des Clans? Und hättest du nicht bei deinem eigenen Clan sein müssen? Bei deinem neuen Clan?"
Badrio schnaubte verärgert.
"Es wird der Tag kommen, an dem auch du dein Nest verlassen wirst, kleiner Bruder. Und ich war bei dem Abdara-Clan, weil sie nach Hilfe sandten. Sie haben meinen Clan um Hilfe gebeten. Aber als ich und meine
Männer dort ankamen, war es bereits zu spät und wir konnten nur noch fliehen." Er wandte sich an seinen Vater. "Sie werden immer stärker, ich bitte dich, Vater! Du kannst diesen Krieg nicht gewinnen. Zumindest nicht, indem du dich hier versteckst wie eine eingekesselte Maus!"
Sein Vater baute sich langsam und bedrohlich auf. "Du vergisst, dass es noch immer mein Revier ist auf dem du gerade stehst und mein Rudel, zu dem du gleich trittst. Ich weiß, was gut für meine Familie ist und ich weiß, dass wir jede Konfrontation verlieren würden."
Er sah zu seinen beiden kleinen Söhnen herunter. "Keine Angst, uns wird nichts
passieren." Kelan sah mit hartem Blick zurück. "Ich habe keine Angst."
Sein Vater lächelte ihn an und strich ihm über den Kopf. "Natürlich."
Badrio drehte sich um und ging in Richtung Dorf. "Vorerst. Aber unterschätze meine Worte nicht Vater. Wenn du die Gefahr erkennst, ist es vielleicht schon zu spät. Vergiss nicht, ihr sitzt hier in einem Hexenkessel aus dem es kein entrinnen gibt."
Badrio ging nur langsam in Richtung Dorf zurück. Siene Gedanken kreisten immernoch um das Gespräch mit seinem Vater. Sicher, er hatte schon viele Auseinandersetzungen mit ihm gehabt, aber in diesem Fall war es eine ganz andere Situation. Er selbst kannte die Gefahr in der sie sich alle bafanden und er wusste was passieren würde, wenn sie nichts unternahmen. Aber genauso dachte er, dass sie seinen Vater kennen würde. Nie hätte er erwartet, dessen Stolz so sehr zu unterschätzen. Er hatte erwartet, dass der Mann, der sonst alles erdenkliche tun würde, um seine Familie
zu schützen, ihm wenigstens zuhören würde. Woher kam dieser plötzliche Trotz und diese unbekannte, unbezwingbare Furcht in ihm?
Er war der Alpha dieses Rudels. Er kannte den Feind und zu was er im Stande war. Wenn er doch nur...
Da packte ihn auf einmal jemand am Arm. Badrio wirbelte herum.
"Who, ganz ruhig Weißer!"
"Evelyn!" Badrio stöhnte auf. "Hast du mit der Zeit nicht lernen müssen, dass es kein gutes Ende nimmt, wenn man mich aus meinen absolut präzisen und extrem tiefgründigen Gedanken reißt?"
"Und du solltest im Laufe der Jahre erkannt haben, dass mir deine
ach-so-philosophischen Einfälle noch nie sonderlich nahe gekommen sind." Sie grinnste ihn an. Sie war hübsch, etwas kleiner als Badrio, schlank, mit wilden, braunen Locken und einem bezaubernden Lächeln.
"Ja, das hab ich mal mitbekommen", meinte Badrio. "Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, Eve." "Zu lange.", stimmte sie zu. "Wie geht es dir?"
Badrio zog scharf die Luft ein.
"Fantastisch! Ich weiß etwas, das kein anderer weiß, oder zumindest glaubte ich das, und in dem guten Glauben, es meinem Vater zu erzählen wäre der richtige Schritt, muss ich erfahren, dass genau dieser die wohl einzige Person ist,
die meine Gedankengänge nicht nachvollziehen kann."
"Puh. Hört sich nach ziemlichem Chaos an, in deinem Leben."
"Das kann man wohl sagen."
"Aber eigentlich meinte ich eher dein jetziges Leben. In dem anderen Rudel. Seit du uns verlassen hast, ist es irgendwie nicht mehr das Gleiche." Sie schaute zu dem Dorfplatz hinüber, auf dem ein großes Lagerfeuer brannte, um die darum Sitzenden zu wärmen. "Es ist so still." Badrio seufzte. "Mir geht es gut. Das Rudel ist wie meine zweite Familie. Aber euch kann und wird niemals jemand ersetzen!" Er lächelte Evelyn aufmunternd an.
"Du solltest mich mal besuchen kommen! Es ist ganz anders als hier. Nicht von Bergen eingezäunt, sondern zwischen hügeligen Feldern voller saftiger Graßlandschaften. Und das Meer! Du solltest einmal das Meer sehen! Es ist genauso, wie der alte Gran es uns als Kinder immer erzählt hat, nur noch viel schöner!"
Das Mädchen konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. "Du hast so viel Leidenschaft in deiner Stimme wenn du von diesem anderen Ort redest. Ich würde das Meer gerne einmal sehen - Ich würde dich gerne öfter sehen!
Aber mein Vater würde das niemals erlauben. Seine Treue gilt deinem Vater
und das wird sich nicht ändern.Vermutlich werde ich in diesen Bergen versauern."
"Das werden wir noch alle, wenn mein Vater nicht zur Vernunft kommt."
"Aber ich kann ihn auch verstehen.", wandte das Mädchen ein. "Ich meine, welchen Kampf könnten wir schon gewinnen? Und ist die Flucht die einzige Lösung?"
"Wo liegt denn der Unterschied zwischen Flucht und Verstecken? Wenn ihr hierbleibt, werden sie euch irgendwann finden und wenn es soweit ist, kann euch niemand mehr retten. Verlasst ihr diesen Ort, könnt ihr diesen Untergang noch etwas herauszögern."
Evelyn riss die Augenbrauen hoch.
"Aber es wird zu diesem Untergang kommen, früher oder später? Sonst warst du es immer, der mir das Schwarzdenken austreiben wollte." "Das ist kein Schwarzdenken. Es ist die einfache Wahrheit. Niemand kann sie aufhalten."
"Warek hätte es gekonnt."
"Eve, das ist ein Märchen.", seufzte Badrio.
"Hast du deinem Bruder vorhin nicht etwas anderes erzählt?"
"Ach, das war doch nur um ihn... Warte, du hast uns belauscht?"
"Hm.", machte Eve und schlenderte elegant an Badrio vorbei, in Richtung Dorfplatz. "Ich würde es lieber als
positiv aufzufassendes Interesse bezeichnen."
Badrio schüttelte den Kopf. "Ich hätte es wissen müssen!"
Als Antwort zeigte Eve ihm ihre blanken Zähne, nahm ihn bei der Hand und zog ihn zu den anderen.
Als sich Badrio in dem Dorf umschaute, erkannte er es kaum wieder.
Die Hütten, die einst rund um den großen Platz mit dem Lagerfeuer errichtet ware, waren verfallen und leer.
Es war verlassen. Die wenigen Menschen, die um das Feuer saßen, schwiegen düster in die Flammen.
Das letzte Mal, als Badrio hier war, war nur ein knappes Jahr her, damals lag der
Winter zwischen ihm und seiner Familie.
"Was ist hier passiert?", fragte er, mehr zu sich selbst als zu Eve.
"Sie sind gegangen.", sagte Eve leise und wandte den Blick von den verfallenen Häusern ab. "Gran hat immer wieder Andeutungen gemacht. Er hat gesagt, dass Crole uns nicht mehr beschützen kann."
"Mein Vater konnte uns noch nie beschützen. Er hat uns nur versteckt."
"Hätte er etwas anderes getan, wären wir genauso tot wie der Clan, dem du nicht mehr helfen konntest."
"Aber so kann es nicht mehr weitergehen, Eve. Sie haben Recht daran getan, zu gehen.", murmelte er. "Wie
viele sind es?" "Brown, Jack, Alerk und Karene sind mit ihren Familien weitergezogen. Jetzt sind nurnoch Finjus, Berck und mein Vater hier. Sie werden standhaft bleiben und deinen Vater nicht verlassen!" "Aber das sollten sie! Ich verstehe nicht, was meinen Vater so stur macht."
Evelyn knuffte ihn freundschaftlich in die Seite. "Findest du nicht auch, dass du dich gerade genauso anstellst, wie er?" Badrio schnaubte. "Ich will nur das Beste für euch." "Das will Crole auch!", meinte Eve und blickte Badrio in die Augen. "Er ist ein großer Alpha, Badrio. Genauso wie du es eines Tages sein wirst. Doch ich denke, wir werden ihm
jetz einfach vertrauen müssen."
Vorsichtig spähte Kelan um die Ecke.
Der Stapel Feuerholz, hinter dem er sich verbarg, bot einen optimalen Ausguck um die Menschen zu beobachten, die sich am Feuer tummelten. Badrio war auch da. Und er flirtete ganz offentsichtlich absolut konzentriert mit Tervas Tocher Evelyn. Sein Vater wäre begeistert. Doch Terva würde seine geliebte Tochter in keines anderen Hände geben, als in seine eigenen. Immerhin lebt Badrio noch nicht einmal in diesem Dorf. Er würde seine Kleine kaum noch sehen wenn sie mitihm ginge. Kelan verdrehte innerlich die
Augen. Es war doch einfach albern, wie er sich anstellte. Niemand durfte Evelyn zu nahe kommen, ihr am besten noch das Herz brechen. Wenn es um Evelyns Wohl ging, war alles mit dem alten Kauz vorbei. Trotzdem war er ein wichtiger Verbündeter seines Vaters. Und ein guter Freund. Kelan schaute zu den anderen Leuten herüber. Sie drängten sich um die wärmenden Flammen und erzählten sich gegenseitig Geschichten. Alle warteten sie auf den alten Gran und eine seiner seltsamen Prophezeiungen. Alles Quatsch. Zwar hatte er seine und Milos Geburt vorhergesehen, doch er hatte auch behauptet, dass sie beide einmal ein großes Schiksal haben werden. Bei
ihm selbst war das ja klar, er war zu höherem berufen, dazu brauchte er nicht die weisen Worte eines senilen alten Wolfes mit weniger Zähnen als klarem Verstand. Trotzdem warteten sie alle auf eben seine Worte. Und es sollte heute geschehen. Was genau, war wohl keinem wirklich klar, dennoch glaubten sie fest daran, dass der alte Knochen ihnen Hoffnung geben würde.
Kelan fragte sich, ob der alte Gran überhaupt noch in seiner kleinen Hütte etwas außerhalb des Dorfes lebte, oder ob er den Geist des Lebens nur eingehaucht bekommt, wenn er den anderen Wölfen etwas zu sagen hat. Möglich wäre es, immerhin bekommt ihn
kaum noch einer zu gesicht. Vermutllich hat er sich sein Haus außerhalb gebaut, um nicht von den nervigen Kindern belästigt zu werden, die ihm seinen Krückstock geklaut und sein Toupee im Fluss versenkt haben. Gut, zu diesen Kindern hatte Kelan genauso gehört, aber jetzt waren alle anderen Kinder weg. Nur er und Milo waren noch mögliche Nervenzusätzer. Aber Milo war von einer Weichheit gesegnet, dass er sich nicht einmal traute, einen Haufen Bärenmist vor Onkel Bercks Haustür anzuzünden. Es war so langweilig, dass man sich beinahe sogar dazu hinabließ, sich mit dem wohl beklopptesten Wer-Wolf den dieses Land je gesehen hat
zu beschäftigen. Ein Wolf, der nicht jagen kann. Erbärmlich... Kelan schüttelte den Kopf. Dann sah er seinen Vater, der sich unauffällig durch die Menge zu drängeln versuchte. Er verschwand zwischen den verlassenen Häusern von Kelans alten Freunden Sem und Gosh, die mit ihren Eltern novh vor dem Winter gegangen waren. Sie hatten sie zurückgelassen, hatten sie verraten. Kelan spuckte innerlich aus. Es war erbärmlich, seinen Clan zurückzulassen, weil sie vor Furcht den Schwanz einzogen wie feige Hunde. Aber es war ihre eigene Entscheidung und man konnte sie nicht aufhalten. Aber er würde seinen Vater niemals im Stich
lassen.
Da tauchte dieser wieder aus den Schatten auf und schlich in den Wald.
Kelan kannte die Richtung. Er ging zu Grans Haus. Das war nicht normal. Normalerweise warteten alle, bis Gran zu ihnen kam, nicht anders herum. Vorsichtig sah Kelan sich um. Dann stand er geduckt hinter dem Holzstapel auf, und folgte seinem Vater in die dunkle Nacht.
PorterThomson Fantastisch! Man hat mir empfohlen dieses Buch zu lesen. Ich wurde nicht enttäuscht. Stilistisch ausgereift, dramaturgisch überzeugend, man war vom Anfang an dabei und gefesselt. Wundervoll hast Du das ganze Umfeld, die Gefühle und Empfindungen rüber gebracht. Einfach Klasse! Bleib am Ball und mach weiter so! |
Angel2014 Super geschrieben! Es ist so spannend, dass ich nicht aufhören wollte zu lesen. Und glaub mir, das passiert nicht oft :-) Ich hab noch was auf Seite: 28 steht: e Ich glaube in dem Fall heißt es: er. Paar Fehler solcher Art gibt es auch noch, aber die stören nur beim lesen. Wie gesagt immerhin nur ein paar. Ich hoffe es geht bald weiter! :-) |