Angst. Da war sie wieder, schüttelte ihn, ließ ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es war endgültig. Endgültig zu Ende. Er hob die Hand und legte sie behutsam an seinen Kopf. Sie hatten Recht. So sehr er sich auch wünschte, sie hätten es nicht. Langsam wich alles von ihm. Sein Glück, seine fröhliche Zukunft, alles verschwand im Nebel der Angst, die ihn umgab. Die immer wieder versuchte, in ihn zu dringen und Besitz von ihm zu ergreifen. Er durfte nicht daran denken. Nicht an all das, was ihn
zu zerstören drohte. Nicht an all das, was ihn letzten Endes um sein Leben bringen würde. „Es gibt keine Hoffnung mehr für dich, hm?“ Die Stimme ließ ihn hochschrecken. Der Nebel um ihn herum schmolz als wäre er Schnee in der Sonne. Zurück blieb nur der Blick auf den tristen grauen Himmel und die Klippe, die jetzt mehr als vorher ins Meer zu fallen drohte. „Es gibt kein Leben für dich“, sagte die Stimme. Er drehte sich um und erblickte den Mann, der soeben das Wort an ihn
gerichtet hatte, sah in die kalten hellblauen Augen, in das starre, zu einem gefühllosen Lächeln verzerrte Gesicht. „Wer sind Sie?“, fragte er, doch eigentlich war es nicht so, als wollte er es wissen. Als spielte das noch irgendeine Rolle. Es gab nichts mehr, das noch eine Rolle spielte. Nichts mehr. „Sagen wir einfach, ich bin jemand, der dir helfen möchte. Sagen wir, ich bin ein Freund.“ Er blickte den Mann
an. „Wobei kann man mir jetzt noch helfen?“, fragte er. „Ich hörte davon“, sagte der Mann. Er schob seinen schwarzen Hut zurecht. „Kein Heilmittel. Eine unheilbare Krankheit, nicht wahr? Eine tödliche.“ Der Mann blickte ihn an. Eine Augenbraue war hochgezogen, er heuchelte Anteilnahme. Doch selbst das war kein Grund mehr, um ihm nicht zu antworten. „Ich habe nur noch diesen Tag zu leben.“ Die Worte wurden schon in
seinem Mund fahl und begannen zu welken, als er sie aussprach. Sie waren so lebendig und warm wie Marmor, der vom Mond bestrahlt wurde. Der Mann nickte und das Lächeln wurde breiter, aber nicht echter; es klebte an seinem Gesicht wie eine Maske. Er ließ sich neben ihm nieder und legte ihm seinen Arm über die Schulter. „Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst“, sagte der Mann und lächelte immer noch. Er schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Nein, das können sie nicht. Niemand kann das. Niemand kann wissen, wie es sich anfühlt, wenn man
sich sicher sein kann, dass man in den nächsten Stunden sterben wird. Niemand kennt das Gefühl, wenn man sich bewusst ist, das es das letzte mal sein kann, dass man diese Luft atmet, dass man diesen Himmel oder dieses Meer sieht. Niemand kann so etwas auch nur ahnen.“ Der Mann zupfte an seiner schwarzen Anzugjacke. „Ich kann“, sagte er und die kalten hellblauen Augen fixierten ihn, wie ein Reptil seine Beute fixiert. „Ich weiß, wie es ist, Angst zu haben. Angst davor, nicht zu wissen, was einen nach dem Tod erwartet. Angst davor, nicht zu wissen, ob man Schmerzen beim
Tod haben wird oder ob man vielleicht nicht alles erlebt hat, was man erleben sollte. Die Menschen, die einem etwas bedeuten – werden sie wohl den Schmerz vergessen? Du sagst, ich weiß nichts über das Sterben. Aber das stimmt so nicht. Ich weiß ALLES darüber.“ Er starrte ihn an. „Wie meinen Sie das?“, fragte er leise und blickte ihm in die eiskalten Augen. „Sind sie ein Geistlicher oder etwas in der Art?“ Der Mann lachte und bückte sich dann, um sich den Schnürsenkel zu binden. „Sagen wir, ich bin etwas in der Art.“ Dann blickte er auf. „Ich sagte, ich bin
hier, weil ich dein Freund bin. Freunde sind in schwierigen Lebenslagen in der Nähe. Sie sind da, wenn du sie brauchst. Sie helfen. Deswegen bin ich hier. Ich bin hier, weil du mich brauchst. Ich helfe.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist doch unnötig. Ich... was soll mir jetzt noch helfen? Ich sterbe!“ Der Mann lächelte. Diesmal war es ein echtes Lächeln, gemischt mit Verachtung. „Ich sagte, dass ich dir helfen kann. Ich bin in der Lage, dich nicht sterben zu
lassen.“ Er blickte ihn an. „Aber ich bin todkrank!“, schrie er. „Machen Sie sich nicht über mich lustig! Es gibt keine Chance für mich, ich werde sterben! Finden Sie das etwa lustig, mir falsche Hoffnungen zu machen und dann doch sterben zu lassen?!“ Der Mann schwieg. „Ich scherze nicht. Ich scherze nie.“ Stille. Für einige Zeit sagte niemand etwas. „Sie können mich wirklich retten?“, fragte er dann leise. Der Mann nickte. „Ich kann.“ Er nickte ebenfalls, nachdenklich. „Es gibt so vieles, was ich noch nicht gesehen habe“, sagte er.
Sein Blick glitt über das Meer und verlor sich in der Ferne. „So vieles, das ich gerne einmal sehen würde. Ich bin erst 22 Jahre alt, wissen Sie? Ich habe mein Leben lang hier gelebt, aber ich wollte immer von hier weg und fremde Orte sehen.“ Er seufzte. „Ich werde sterben. Sie machen sich einen Spaß daraus und ich werde doch sterben, obwohl ich so jung bin. Obwohl ich niemals herausgefunden habe, ob der Himmel überall gleich ist.“ Er verstummte, eine Träne kullerte aus seinem Auge und schmiegte sich an seine Wange, bis sie vom Kinn auf den grobkörnigen Sandboden herabtropfte. Bald fiel eine zweite, dann eine dritte.
„Ich kann dir helfen“, hörte er die Stimme des Mannes hinter ihm. „Ich kann dir das Leben schenken. Unterschreibe hier und du wirst heute nicht sterben, morgen nicht und auch nicht den Tag danach. Unterschreibe meinen Vertrag und ich schenke dir dein Leben.“ „Was kostet mich das?“, flüsterte er. „Was schulde ich Euch dafür?“ Der Mann lachte. „Nichts, denn wir sind Freunde. Aber du musst mit mir kommen, und vielleicht gibt es dann
doch noch den ein oder anderen Gefallen...“ Er nickte. „Einverstanden.“ Der Mann reichte ihm eine Feder und ein Pergament. Er versuchte, die Buchstaben zu lesen, doch die Tränen verschleierten seine Sicht. Mit der rechten Hand ergriff er die Feder und schrieb seinen Namen auf das Pergament. Kaum hatten sich die Buchstaben auf dem Papier verfestigt, glühten sie orange auf und verschwammen dann wie die restlichen Buchstaben zu unleserlichen Worten. Der Mann riss sofort Pergament und Feder an sich und ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. „Joel Finnian
also“, sagte er. Ein böses Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sich dem jungen Mann zuwandte. „Weißt du, wem du gerade die Freundschaft unterschrieben hast, Joel?“, fragte der Mann. Ein zögerliches Kopfschütteln als Antwort. „Ich bin der Tod“, sagte der Mann und nahm den Hut ab. „Du hast Glück, Joel, dass du mich getroffen hast. Niemand sonst hätte dir helfen können. Nur ich. Ich habe deine Zeit gestoppt. Erst, wenn ich entscheide, dass deine Zeit gekommen ist, werden wir uns wiedersehen. Mein Freund.“ Der Tod schloss die Augen. Er zog die
Kapuze über, öffnete seine Augen wieder, blicke gen Himmel und verschwand. Joel blickte ihm nach. Die Angst verschwand. Sie ging mit dem Tod, Joel fühlte nichts mehr. Keine Erleichterung, kein Glück. Da war nichts. In ihm war nichts mehr. Er war leer.