Frida
Vor sieben Jahren. Meine Frau und ich wollten nach Rom. In Südtirol wollten wir Pause machen.
Vom Brenner aus schauten wir auf eine kleine Stadt, die sich hinauf in die Berge ausdehnte. Die Häuser klebten an den Hängen. Sattgrüne Wiesen säumten die Höfe. Jedes der Häuser hatte Gott vielleicht persönlich dort hingestellt.
Wir fädelten uns aus der Autolawine heraus. Bogen ab in die Stadt Chiusa. Hoch hinauf führte uns die Serpentinenstraße. An jeder Kehre wies uns der uralte Toyota meiner Frau
stöhnend darauf hin, dass es nicht unbedingt seine Wunschregion sei.
Dennoch hielten wir erst am letzten erreichbaren Haus. Dem abgelegensten von allen. Ich glaube, es stand direkt im Himmel und … es war ein Zimmer frei. Wir vergaßen Rom.
Stattdessen eroberten wir die höchsten Berge. Besuchten entlegene Sennerhütten und schlichte Wallfahrtskapellen.
Und immer erlagen wir ehrfürchtig dem Zauber der Almwiesen und den Blumen darauf. Die van Goghche Farbenpracht füllte unsere hungernden Seelen mit Frieden und Stille.
Ein Tag gehörte dem Besuch des nahe
gelegenen Kloster Säben.
Ihm zu Füßen liegend fanden wir einen kleinen, scheinbar verwilderten Garten, an dessen Ende ein unscheinbares Häuschen stand.
Der Wildwuchs entpuppte sich als liebevolle Ansammlung exotischster Kräuter.
Vor dem Haus saß ein Mütterchen. Ihr faltiges, sonnengebräuntes Gesicht ließ ein langes Leben mit einer endlos scheinenden Erfahrungsspirale vermuten.
Sie war 98. Vor zehn Jahren starb ihr Mann. Sie verkaufte das gemeinsame Haus. Zog in dieses Kleinidyll. Das übrige Geld ging an ihre Töchter und die Klosterverwaltung. Frida, so hieß das Mütterchen
sie sprach auch deutsch begnügte sich seitdem nur mit dem Nötigsten.
Da meine Frau der Kräuterkunde recht kundig ist, hatten die zwei sich viel zu erzählen.
Mir wurde gestattet, mich im Haus umzuschauen. Dies bestand aus zwei Räumen. Im ersten standen ein kleiner Herd, ein winziges Schränkchen und ein Tisch mit drei Stühlen daran. Ein kleines Fenster ließ spartanisch Licht herein.
Die vielen Blumen im Raum, hüllten diesen in ein freundliches, angenehmes Ambiente.
Mein Blick fiel auf einen Hausaltar. Ruhte darauf. Zweiundvierzig Kerzen
hüllten ihn in warmes Licht. Frida achtete argusäugig darauf, dass keine der Kerzen lange erloschen blieb. Jede einzelne stand für ein gemeinsames Jahr mit ihrem Mann. Den Altar hatte dieser liebevoll aus einer Platanenwurzel geschnitzt.
Im angrenzenden Raum verbargen sich ein winziges Sieben-Zwerge-Bettchen und ein Handwaschbecken. Darüber ein halbblinder Spiegel. An einer Wand ein Bild ihres Mannes. An einer anderen Bilder ihrer Töchter, die unten in der Stadt verheiratet sind.
Als ich wieder heraus kam, saßen Frida und meine Frau beim Kräuterschnaps und ließen es sich gut gehen.
Mir aber lag die Frage auf der Zunge, wie man mit diesem doch sehr eingeschränkten Lebensstil Zufriedenheit erlangt.
Ich stellte die Frage nicht. Die vielen Gespräche, die wir im Laufe der verbleibenden Zeit noch mit ihr führen durften, waren mir Antwort genug.
Viel mehr stellte sich mir nach unserem Urlaub die Frage, warum ich, in scheinbar viel günstigeren Umständen lebend es nicht schaffe, auch nur annähernd so zufrieden zu sein.