Biografien & Erinnerungen
Wie Strumpfmasken meine Kindheit zerstörten

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"Ach, das waren schon schlimme Zeiten, damals auf dem Sofa ..."
Veröffentlicht am 27. Februar 2014, 18 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Ich bin PhanThomas, aber Leute, die mich kennen, dürfen mich auch gern Thomas nennen. Oder ach, nennt mich, wie ihr wollt. Denn ich bin ja ein flexibles Persönchen. Sowohl in dem, was ich darzustellen versuche, als auch in dem, was ich schreibe. Ich bin unheimlich egozentrisch und beginne Sätze daher gern mit mir selbst. Ich bin eine kreative Natur, die immer das Gefühl hat, leicht über den Dingen zu schweben - und das ganz ohne Drogen. Man ...
Ach, das waren schon schlimme Zeiten, damals auf dem Sofa ...

Wie Strumpfmasken meine Kindheit zerstörten

Es gibt viele Gruselfilmfiguren. Dracula, Frankensteins namenloses Monster, Alice Schwarzer, Freddy Krueger, um nur einige zu nennen. Doch meine fürchterlichste Gruselfilmfigur war nicht einmal wirklich gruselig. Sie trug keine angsteinflößende Maske, keine zerlumpte, mit Blut bekleckerte Kleidung, schwang keine Axt und tat auch sonst nichts wirklich Schauriges. Sie trug einen piefigen Anzug, dazu eine dicke Hornbrille, das Haar war immer konservativ gut frisiert. Sie tat also niemandem direkt weh, und doch löst schon ihr Name Angstschweißausbrüche bei mir aus: Eduard Zimmermann! Zimmermanns Kabinett des Grauens lief

alle paar Wochen im ZDF, ein Schauergeschichtensammelsurium namens »Aktenzeichen XY ... ungelöst«. In dieser Abendsendung, die bei uns zu Hause eigentlich immer nur »Aktenzeichen« genannt wurde, brachten in nachgestellten Szenen vermeintlich echte Verbrecher ebenso vermeintlich echte ahnungslose Opfer entweder um Geld und Klunker oder einfach um. »Aktenzeichen« - eine Sendung, die mich kleinen Hosenscheißer auf der durchgesessenen Couch in unserem Wohnzimmer hockend wie gebannt auf den dicken Röhrenfernseher starren ließ und mich eines lehrte: Egal, was Mama

und Papa auch erzählten und versprachen, man war nirgends sicher, wenn erst das Verbrecherduo mit übergezogener Strumpfmaske an der Tür klingelte und um Einlass bat, weil, äh, angeblich die Milch bei ihnen alle war oder sie nachts um zwo einfach mal nach dem Weg zur nächsten Tankstelle fragen wollten. »Aktenzeichen« trug maßgeblich dazu bei, dass ich mein Leben lang Angstzustände in Wohnungen erleiden werde, deren Haustür eine Glasscheibe hat und sich nicht mittels mindestens dreier Schlösser verriegeln lässt. Als Kind half da auch nicht das ansonsten

sichere Bett. Jedes Kind weiß, und das ist wissenschaftlich erwiesen, dass Buhmänner und andere Monster keine Chance haben, solange Hände und Füße sicher unter der Bettdecke versteckt bleiben. Aber wenn sich erst die maskierten Räuber Einlass verschafft haben und sich mit Seil und Paketband oder schlimmer, mit dem dicken Küchenmesser dem Bett nähern, dann hilft auch dieses Bollwerk der Kinderzimmeridylle nicht weiter, dann ist man, nun, ziemlich gearscht. Während die Angst vor tödlichen Gefahren wie schlimmen Krankheiten und den Jungs aus der sechsten Klasse an mir vorüberging, sorgte »Aktenzeichen«

dafür, dass ich es mir mental nie allzu behaglich in meiner Kindheit einrichtete. Männer mit übergezogenen Strumpfmasken warteten theoretisch überall und konnten jederzeit an der Tür läuten. Dabei lief so eine Sendung ziemlich unspektakulär ab: Eduard Zimmermann erklärte kurz, was sich zugetragen hatte, dann folgte ein Einspieler mit Laienschauspielern aus der Fußgängerzone. Hier saßen meist Leute wie Hubert und Traute Mustergültig in ihrem Wohnzimmer und genossen die bedrohliche Stille des Abends. Traute strickte Socken, während Hubert ein

Buch las oder Bundesliga schaute. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein besticktes Deckchen. Beide hatten natürlich ihr Leben lang schwer im VW-Werk oder bei Audi geschuftet und wollten eigentlich ihren Lebensabend genießen. Eine Weltreise, ein neues Auto noch mal, vielleicht auch eine Anmeldung im Swinger-Club. Wollten ... Eiiigentlich ... Denn plötzlich, so gegen 22 Uhr, fuhr eine dunkle BMW-Limousine vor, aus der zwei zwielichtige Gestalten stiegen, um das Grundstück der Mustergültigs zu betreten und an der Tür zu klingeln. Eine pseudohippe Bildüberblende, der biedere Bruder der Überblenden aus »Star Wars«, führte zurück ins Wohnzimmer

der Mustergültigs, wo Traute das Strickzeug zur Seite legte, auf die schwere Wanduhr guckte und mit ihrem Mann verdutzte Blicke tauschte. »So spät? Wer kann das denn wohl noch sein?«, plapperte Traute dann übermäßig betont das Drehbuch nach, und noch während ich dachte, neiiiin, geh nicht zur Tür, das sind doch die Mööörder, ging Hubert natürlich zur Tür, die er ebenso natürlich auch noch öffnete. Warum all diese Deppen am späten Abend fremden Leuten einfach die Tür aufmachten, war mir immer ein Rätsel. Erwachsene machten das offenbar so, und da meine Eltern Erwachsene waren, war auf die kein Verlass. Ich dagegen

bin - »Aktenzeichen« sei dank - so bescheuert heute nicht mal am hellligten Tag, es sei denn, der ungebetene Gast trägt was Gelbes, hat einen DHL-Aufdruck auf der Jacke und einen Karton in der Hand. Jedenfalls verschafften sich die maskierten Einbrecher im Einspieler flugs Zugang zum Wohnraum der Mustergültigs - schließlich hatte der blöde Opi die Tür ja schon aufgemacht - klauten dann zentnerweise Schmuck, den alte Leute offenbar horten wie Drachen einen Goldschatz und den sie selbstverständlich immer in großen abgeschlossenen Stahlkassetten aufbewahren, und wenn bei den armen Rentnern zu allem Unglück noch ein

bisschen Pech dazukam, wurden sie - zack zack - hinterher umgebracht. Meine Mutter kommentierte das gerne mit Sätzen wie: »Das ist aber auch eine Sauerei!«, so als hätte es sich um die Verkündung einer Mehrwertsteueranhebung gehandelt. Weiter ging es in etwa so: Am Morgen nach der Nacht des Grauens wollte die freundliche Nachbarin Erna B. ein Körbchen frische Erdbeeren vorbeibringen, wie man das als fürsorglicher Nachbar wohl so tut, als keiner die Tür öffnete. »Wenn da mal nichts passiert ist«, las Erna dann von ihrem Merkzettel ab, ging den

Zweitschlüssel holen, den sie natürlich besaß, und fand anschließend das niedergemetzelte Rentnerpärchen in einer Ecke des Gästezimmers. Zurück ging es zu Eduard Zimmermann, der ein betretenes Gesicht machte, und dann saß ich da, ebenfalls mit betretenem Gesicht, geschockt von dieser eigentlich unspektakulären Geschichte über ein Verbrechen an einem unspektakulären Rentnerpaar. Scheiße auch, wir waren doch selber eine unspektakuläre Familie! Unsere Tage waren für mich nach einer solchen Sendung jedenfalls gezählt. Jeden Moment konnte es klingeln! Ach was, eigentlich fing es schon mit dem Beginn der Sendung an. Allein diese

Titelmusik: bäbäbäbäm bäbäbäbäm ... Das klang, als wäre der Axtmörder längst im Haus. Die ganz fiesen Verbrecher wurden zumindest in meiner Erinnerung auch nie gefunden. Wahrscheinlich waren die anderen Zuschauer vom Zwischengeplänkel der Sendung genauso gelangweilt wie ich, sodass keiner mehr aufpasste und keine wichtigen Hinweise eingingen. Die Macher der Sendung gaben sich aber auch alle Mühe, die ödeste Präsentation des Universums zu finden, und sie waren erfolgreich: Eduard Zimmermann saß in einem braunen Studio an seinem braunen Tisch.

Der Hintergrund war braun, das Logo sowieso, und wenn man nicht gerade stümperhaft angefertigte Phantombilder zeigte, die eher wie schlecht rasierte Disneyfiguren statt wie Verbrecher aussahen, oder der in die Sendung eingeladene und unter Valium stehende Oberwachtmeister Gümpelstein von Ziegenbrecht mit monotoner Stimme in süddeutscher Einfärbung die Zuschauer zur Mithilfe aufrief, dann wurden potenzielle Spuren und Beweise gezeigt: die Geldbörse des Opfers aus braunem Leder, das handgeschliffene Mordmesser mit braunem Holzimitatgriff, ein braunes Stück Stoff oder die am Tatort zurückgelassene C&A-Lederjacke des

Täters in brauner Ausführung. Herrgott, die Sendung war brauner als jeder NPD-Ortsverein! In meinem ganzen Leben sind mir seither nur drei Dinge begegnet, die ähnlich braun waren: die massive DDR-Schrankwand meiner Großeltern, ein Eimer brauner Farbe und Bonn. Und trotz der tristen Farbgebung hat »Aktenzeichen« mich nachhaltiger geprägt als die konventionelle Erziehung meiner sozialistischen Kindergärtnerin. Die Haustür öffne ich heute überhaupt nicht mehr, was mir nebenbei auch Rundfunkbeauftragte, Zeugen Jehovas und andere Kackspaten vom Hals hält, allerdings einmal auch die Feuerwehr,

die mich nachts laut klopfend aus dem brennenden Haus retten wollte. Auch gibt es bei mir keinerlei Schmuck zu klauen. Was das angeht, biete ich wenig Angriffsfläche. Potenzielle Einbrecher fänden bei mir allenfalls eine Videospielesammlung von zweifelhaftem Wert, einige Zauberer-von-Oz-Comics und eine Packung abgelaufenes Müsli. Und in meiner mit Wrestling-Stickern aus den 90ern beklebten Geldkassette liegen lediglich alte Glückwunschkarten von meiner Jugendweihe. Da lohnt sich definitiv kein Hammermord der Welt! Ich bin vorsichtig geworden seit meinen

Kindheitstagen. Über zwanzig Jahre später läuft die Sendung übrigens immer noch auf jenem sagenumwobenen Sender, den meine Generation allenfalls vom versehentlichen Drüberzappen kennt. Eduard Zimmermann weilt zwar inzwischen im Reich all der Opfer, die einst in den Einspielern nachgestellt wurden, dafür versetzt die Sendung in ihrer unspektakulären Art wahrscheinlich wie gehabt ganze Generationen von Kindern mehr in Angst und Schrecken als Pennywise der Clown aus Stephen Kings »Es«. Nur eines ist »Aktenzeichen« heutzutage dann doch

nicht mehr: braun. Na immerhin.

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PhanThomas
Ich bin PhanThomas, aber Leute, die mich kennen, dürfen mich auch gern Thomas nennen. Oder ach, nennt mich, wie ihr wollt. Denn ich bin ja ein flexibles Persönchen. Sowohl in dem, was ich darzustellen versuche, als auch in dem, was ich schreibe. Ich bin unheimlich egozentrisch und beginne Sätze daher gern mit mir selbst. Ich bin eine kreative Natur, die immer das Gefühl hat, leicht über den Dingen zu schweben - und das ganz ohne Drogen. Man trifft mich stets mit einem lachenden und einem weinenden Auge an. Das scheint auf manche Menschen dermaßen gruselig zu wirken, dass die Plätze in der Bahn neben mir grundsätzlich frei bleiben. Und nein, ich stinke nicht, sondern bin ganz bestimmt sehr wohlriechend. Wer herausfinden will, ob er mich riechen kann, der darf sich gern mit mir anlegen. ich beiße nur sporadisch, bin hin und wieder sogar freundlich, und ganz selten entwischt mir doch mal so etwas ähnliches wie ein Lob. Nun denn, genug zu mir. Oder etwa nicht? Dann wühlt noch etwas in meinen Texten hier. Die sind, äh, toll. Und so.

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MarieLue Habe ich mal wieder gern gelesen und mich von dir in meine Kindheit zurück führen lassen.
Lachende Grüße
Marie Lue
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PhanThomas Hallo Marie Lue,

gern geschehen. :-) Solche Rückblicktexte wird's von mir sicher noch öfter geben. Aus der Gegenwart heraus wirkt die Vergangenheit halt einfach zu abstrus.

Liebe Grüße
Thomas
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Gunda Es ist mir immer wieder ein Quell der Freude, deine Texte zu lesen - und dazu die Kommentare unseres lieben Dok, der mir meist aus der Seele spricht. Dieses Mal musste ich besonders lachen, denn "Peter Nidetzki" fiel mir bei deiner XY-Rückschau als Erstes ein ...
Heute werden manche Rollen in den Einspielfilmen ja von richtig bekannten Schauspielern besetzt ... ob das deren Karriere förderlich ist, sei dahingestellt ... Manche der Filme sind heute so spannend gemacht, dass man ganz vergisst, dass es sich ja um die Nachstellung eines echten Verbrechens handelt, die Qulität der Sendung hat m.E. sehr gewonnen, auch durch den Moderator. Das Zwischenspiel, das die Adoptivtochter von Zimmermann mal gegeben hat, war dagegen eine Katastrophe ...

Schmunzelnde Grüße
Gunda
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PhanThomas Hallo Gunda,

ich sehe, du bist offenbar noch dran, was die Sendung angeht. ;-) Ich hab zugegebenermaßen nur mal ergoogelt, ob's irgendwo Mitschnitte aktueller Folgen gibt und habe dann bei YouTube zu meinem Erstaunen festgestellt, dass die Kulissen gar nicht mehr so braun sind wie damals. Ist halt doch 'ne Menge Wasser die Spree runtergeflossen seither. Dass die Sabine die Sendung übernommen hatte, das hatte ich damals noch mitbekommen. Dass die dann wieder ging, eher nicht.

Liebe Grüße & danke schön
Thomas
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RogerWright Ganovenede hat deine Kindheit versaut? Das ist schon traurig aber zeigt wieder einmal, dass das ZDF schon damals seinem Bildungsauftrag nur mäßig nachgekommen ist.
Übrigens auch von Sarah alle Daumen hoch, haben dieses vergnügliche Büchlein gerde zusammen gelesen.
Vor langer Zeit - Antworten
PhanThomas Hi Jens,

vielen Dank an euch beide. :-) Einen Bildungsauftrag haben die vom ZDF hier wohl nicht wahrgenommen, das stimmt, aber an und für sich ist die Sendung immer noch tausendfach besser als alles, was im Privatfernsehen so läuft.

Viele Grüße an euch zwei
Thomas
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RogerWright Jens? Knapp daneben, Thomas ;-)
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Moena90 Na wenigstens waren noch zwei Buchstaben richtig. :D
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PhanThomas Hups. :D Ich hau die beiden Namen immer durcheinander. Sorry. ;-)
Vor langer Zeit - Antworten
shirley An diese Zeit kann ich mich auch noch erinnern. An die Farbe nicht, wir hatten noch Schwarz/weiß -Fernsehen.
Mein größter Kindheitsschock war eines Samtag Nachts...da lief ' An american werewolf in London' .Seither meide ich U-Bahnhofe und leere Rolltreppen. Schrecklich.....lach
lg shirley
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