Das Geschenk
Die junge Frau schaut zur Uhr, die unaufhaltsam Sekunde an Sekunde zu Minuten, zu Stunden reiht im ewigen Kreislauf der Zeit, hier, im großen Terminal des Wiener Flughafens. Noch 15 Mal wird der große Zeiger rücken, dann wird sie den Schalter öffnen mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen. Sie wird mit freundlichem Kopfnicken die Passagiere
begrüßen, die an diesem Abend nach Dubai weiter reisen.
Schnell schüttelt sie nochmals ihr langes dunkles Haar auf, bindet es dann straff am Hinterkopf. Die Zunge streicht über
die vollen roten Lippen.
Der rote enge Rock und die weiße Bluse bringen ihre schlanke Gestalt wirkungsvoll zur Geltung.
Am Schalter hat sich bereits eine lange Menschenschlange gebildet, Geschäftsleute, Scheichs mit mehreren Frauen und kleinen Kindern, Freaks mit schweren Rucksäcken, ältere Paare mit schweren Kofferpyramiden. Die junge Frau hinter dem Schalter arbeitet ruhig und gewissenhaft. „Ihren Pass bitte, die Flugtickets …“ Schon verschwindet das nächste Gepäckstück im Schlund des Flughafengebäudes. Sein Besitzer eilt erleichtert von dannen.
Der Zeiger der großen Uhr nähert sich
Mitternacht, als die junge Frau einen einsamen Passagier in der großen Halle bemerkt, der sie beobachtet. Der junge Mann hat kurzes dunkles Haar und dunkle Augen, eine kräftige Gestalt, insgesamt ein gepflegtes Äußeres. Wartend sitzt er da und blickt unentwegt zu ihr. Selbstbewusst geht das Mädchen auf ihn zu und spricht ihn auf Englisch an: „Ich beobachte dich bereits eine Weile, wohin möchtest du fliegen?“
„Nach Astana, der kasachischen Hauptstadt. Ich habe meinen Flieger verpasst. Der nächste fliegt erst morgen früh. Ich komme aus Paris.“
„Und du hast keine Unterkunft hier und willst die Nacht auf dem Flugplatz
verbringen?“
„Muss ich ja wohl.“ Er lächelt, eine Mischung aus Verschmitztheit und Zerknirschtsein.
Die junge Frau überlegt.
„Warte einen Augenblick, ich habe gleich Dienstschluss. Du kannst bei übernachten. Ich wohne nicht weit von hier.“ sagt sie nach kurzem Zögern.
Gemeinsam begeben sie sich auf den Weg zu ihrer Wohnung. Im Gespräch lernen sie sich näher kennen. Andrej ist Kasache, er möchte Elektrotechnik studieren, am liebsten in Paris. Später möchte er in seiner Heimat arbeiten. Sie breiten ihre Zukunft wie bunte Fächer voreinander aus. In ihrer kleinen
Wohnung schenkt sie ihm noch ein Glas Rotwein ein. „Französicher“ sagt sie und lächelt dazu. Dann klettert sie in ihr Hochbett, Andrej soll es sich in der unteren Etage gemütlich machen. „Gute Nacht, Andrej, süße Träume.“ Sie kuschelt sich in ihre Decke und schläft sofort ein nach der anstrengenden Schicht.
Wenig später spürt sie seinen Arm, der sich um sie legt, sein Mund sucht den ihren. Hellwach setzt sie sich auf. „Andrej, was soll das?“ herrscht sie ihn ärgerlich an.
„Warum hast du mich sonst mitgenommen?“ fragt er, sichtlich verwundert.
„Meine Eltern sind oft in der Sowjetunion gewesen. Sie haben mir so viel von der Gastfreundschaft der Russen, Kasachen, Georgier, Ukrainer erzählt. Das hat mich beeindruckt. Du kommst von dort und du brauchtest heute einen Schlafplatz.“
Einen Moment sitzt Andrej wie versteinert, dann nimmt er seine Kette mit dem mit Diamanten besetzten Kreuz ab und legt sie ihr um den Hals.
„Ich habe es nicht verdient, aber du“, sagt er, bevor er die Leiter hinab steigt zu seinem Schlafplatz.
Die Kette mit dem Kreuz trägt meine
Tochter ständig als Talisman.