Romane & Erzählungen
Zweites Leben - Teil 9

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"Zweites Leben - Teil 9"
Veröffentlicht am 24. Februar 2014, 56 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Zweites Leben - Teil 9

Zweites Leben - Teil 9

9. Kapitel Das Gerücht verbreitet sich Marc und Elly wunderten sich nicht, dass ich früher nach Hause gekommen war. Madleén stellte meine schwere Tasche vor der Haustür ab, dann verabschiedeten wir uns. „Bis Montag!“, hatte sie mir winkend nachgerufen. Lars war nicht zuhause. Wahrscheinlich mit Elias´ Schwester unterwegs. „Und, wie war´s?“, fragte Elly seltsamerweise gutgelaunt. „Schön, nur meine Schiene ist etwas verrutscht. Wir haben aber wieder alles repariert!“, antwortete ich genauso strahlend wie sie. „Und du bist also mit Elias zusammen!?“,

lächelnd drückte sie mich in ihre feste Umarmung. Mit offen stehendem Mund überlegte ich, wer ihr das gesagt haben könnte. Lars? Fin? Paula? Elias? „Wir haben Judith und Lara in der Stadt getroffen. Wir haben uns gewunderte, warum sie nicht bei eurem Bandentreffen waren!“ „Sie sind nicht mehr meine Freundinnen, sie sind in einer anderen Bande.“ „Naja, Laras Handy hat stundenlang geklingelt, irgendwann hat sie es dann mal ausgemacht. Dann hat Judith sich mit mir unterhalten.“ „Und über was?“ „Über dich und Elias. Erst hat sie nur

gefragt, wie es uns geht. Da habe ich ihr erzählt, dass du bei Saskia übernachtest. Ich konnte ja nicht wissen, dass ihr Streit habt!“ „Und was war dann?“ „Sie hat gefragt, ob ich schon wüsste, dass du mit Elias zusammen bist. Ich hab Nein gesagt. Sie hat irgendwie traurig ausgesehen, als sie gesagt hat, dass …“ Wie es immer ist, wenn mir jemand was Wichtiges sagen möchte, kommt etwas oder jemand dazwischen. In diesem Moment kamen Lars und seine Ronja rein. „Hallo, Schwesterchen, wie war´s?“, fragte er neugierig. „Schön, großer Bruder“, antwortete ich

frech. „Wie schön für dich“, er wuschelte mir alles andere als sanft durch die Haare, die ich heute Morgen nur mühsam auseinander bekommen hatte. Die ganze Arbeit und der Schmerz waren umsonst gewesen, er hatte wieder alles verwuschelt!!! „Ach, Ronja - Leonie, Leo - Ronja“, stellte Lars uns vor. Anscheinend kannten Marc und Elly sie schon. „Hi“, sagte sie schüchtern und musterte mich eindringlich. „Hallo“, ich lächelte freundlich und strich mir über die Haare. „So dann machen wir mal Abendessen!“, Elly ging mit mir und

Ronja in die Küche. „Micky kommt am Mittwoch.“ Als sie das sagte, fingen meine Augen an zu leuchten. Micky war mein bester Kumpel nach Lars. Ronja und ich halfen Elly beim Abendessen, es gab wieder Spagetti. Gemeinsam deckten Lars´ Freundin und ich den Esstisch, während Lars und Marc Fußball sahen. Anscheinend gehörte Ronja jetzt mit zur Familie. Ob Elly und Marc über Lars´ ersten Freundinnen Bescheid wussten? Wahrscheinlich nicht. Während des Essens musterte Ronja mich die ganze Zeit. Wusste sie auch, dass Elias und ich zusammen waren? Ich wollte es, aber Elias, glaub ich

nicht. Wir waren nicht zusammen, noch nicht. Wollte ein so hübscher Junge mich eigentlich? Was war an mir denn so besonders? Außer meinen tollen Talenten: Tollpatschigkeit, Fotografisches Gedächtnis und es zu schaffen, sich mehr als zweimal in einem Sommer denselben Arm zu brechen, war ja nichts Besonderes an mir. Okay ich hatte meine Familie verloren, aber das zählte nicht, als etwas Besonderes, eher als ein Nachteil. Am späten Abend verabschiedete sich Ronja mit einem langen, zärtlichen Kuss

von meinem Bruder. Elly und Marc grinsten nur über meinen Gesichtsausdruck. Ich war nur sauer auf Lars, irgendwann würde er auch ihr das Herz brechen, und dann vor ihr mit einer anderen rumknutschen. Ronja, Elias´ Schwester, wie konnte sie nur auf diesen Schleimer reinfallen? Und wie konnten die beiden Elias klar machen, dass sie sich wirklich lieben? Montagmorgen wachte ich schweißgebadet aus einem meiner natürlichen Albträume auf. Wie immer hatte ich von dem Autounfall und den Leuten aus dem Krankenwagen geträumt. Ich hatte gesehen, wie Mona

mich angeschaut hatte, so als ob sie sich verabschiedete. Und ich hatte von Nuni geträumt, ich werde den Mord aufklären. Mit Nina, Madleén, Saskia, Elias, Phillip, Jill und den anderen zusammen. Wir werden Elly glücklich machen, das hatte ich mir hoch und heilig geschworen. Elly setzte uns wie jeden Schultagmorgen an derselben Ecke ab. Ich ging noch ein Stück mit Lars, als Ronja mit ihrem Bruder im Schlepptau auftauchte. Lars und sie fielen sich um den Hals, als ob sie sich wochenlang nicht gesehen hätten. Ich verdrehte nur die Augen, als ich

mich neben Elias stellte. „Morgen“, grüßte er freundlich und drehte sich um. Ich folgte seinem Blick. „Morgen“, ich legte den Kopf schräg und betrachtete sein vertrautes Gesicht. „Heute ignorierst du mich mal nicht!“, ich staunte nicht schlecht, über das Lächeln, das er mir dann schenkte. „Nein, heute mal nicht!“ Wir gingen zusammen über den Schulhof zu unserem Klassenraum. Alle Blicke folgten uns. Was war denn los? Vor der Klasse blieben wir stehen. „Die denken, wir sind zusammen“, Elias wartete auf meine Reaktion. „Ich weiß“, antwortete ich nur und sah Lars und seine

Schwester. „Sind wir das denn?“, fragte er schließlich, um mich von meiner Wut abzulenken. „Ich find schon“, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Ich wollte, dass er es sagte, dass seine schönen Lippen diesen Satz beendeten. Als Saskia und meine anderen Freunde kamen, wendete sich Elias auch Phillip und Sebastian zu. „Hi“, grüßten alle. „Was war denn das?“, fragte Jill und stupste mich mit ihrem Ellenbogen in die Seite. Ich schaute immer noch auf meine Hände. Saskia wedelte mit ihrer Hand vor

meinen Augen herum. „Hallo?“ „Lasst sie erst mal aus ihrem Traumland heraus kommen!“, befahl Jill. „Was hat er gesagt?“, fragte sie, als ich sie wütend anschaute. Es kam mir vor, als sei sie eifersüchtig, dass der hübscheste Junge der ganzen Schule mich fragte, ob wir zusammen waren. „Wer hat erzählt, dass ich mit ihm zusammen bin?“, fragte ich aufgebracht in die Runde. Ich erwartete eigentlich keine Antwort, ich wusste ja, dass Judith das Gerücht verbreitet hatte. In diesem Moment gingen Lara und Judith an uns vorbei in die offene Klasse. Keinen Blick würdigten sie uns. Alle

anderen starrten nur zu uns- zu mir. Ich verschwand als erstes im Gedränge. Und schwang mich elegant, so gut es eben ging, auf meinen Platz neben Elias. „Hast du es dir überlegt?“, fragte er ganz unauffällig in der Mathestunde. „Ja!“, ich schrieb die Rechnung von der Tafel ab, dann schaute ich zu ihm rüber. Seine funkelnden Augen musterten meine. „Und?“ „Und was?“, fragte ich schnell. Sonst kannte er doch auch immer meine Antworten. Er wollte mich bestimmt damit ärgern, weil er merkte, wie unangenehm es mir war. „Elias, Leonie, könnte die ganze Klasse

vielleicht an eurem Gespräch teilnehmen?“ Verlegen schaute ich zum Lehrer, dann auf mein Heft. „Gerne“, antwortete Elias frech. Stirnrunzelnd schaute ich zu ihm auf. „Was soll das?“ „Ich improvisiere!“ Das war klar. „Also, dann schießt los!“, Herr Hansen war richtig neugierig. Oder er erwartete, dass ich im Erdboden versank. Alle Blicke waren auf uns gerichtet. Die Kinder aus den ersten Reihen drehten sich zu uns um. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Als ich die Hände dann wegnahm, seufzte ich und

pustete nervös meine Haare aus dem Gesicht. Ich wartete darauf, dass Elias antwortete. „Ich habe sie nur gefragt, ob …“ „Ob was? Dann frage sie doch, aber so, dass es alle hören können!“, befahl der Mathelehrer streng. „Sind wir zusammen, oder nicht?“, fragte Elias übertreiben laut. Erschrocken schaute ich in seine funkelnden grauen Augen. Erwartete er jetzt im Ernst, dass ich antwortete. „Äh“, mehr bekam ich momentan nicht heraus. Ich spürte die Blicke, vor allem Lara und Judiths, auf meinem Rücken. Mir schossen kleine Tränen in die Augen, am liebsten wäre ich jetzt raus

gelaufen, oder hätte meinem Mathelehrer eine gescheuert. Elias strich die kleinen Tränen vorsichtig weg, dann zwinkerte er mir zu. Ich zog einmal kurz die Nase hoch, dann verstand ich, was er wollte. Er wollte, dass ich das Spiel mitspielte. Okay, wenn er mich schon auf dem Kicker hat und die halbe Schule morgen, oder in der nächsten Pause über mich lachen würde, könnte ich ja auch Spaß, anstatt Leid haben. „Natürlich sind wir zusammen, und was ich dir noch sagen wollte, Elias, ich liebe dich!“, oh, so viel wollte ich gar nicht gesagt haben. Er lächelte wieder, dieses breite Grinsen, das ich so

liebte. Unterm Tisch nahm er meine Hand und gleichzeitig schauten wir unseren Lehrer an, der überhaupt nicht mit dieser Antwort gerechnet hatte. „Das war alles, was wir uns zu sagen hatten!“, versicherte ihm Elias. Völlig baff wandte sich der Lehrer wieder der Tafel zu. Ich konnte ein Lachen kaum noch unterdrücken. Es hatte richtig Spaß gemacht, und jetzt war es raus! Elias merkte meine Erleichterung und drückte sanft meine Hand, er wollte es also auch. Ich drehte zaghaft den Kopf zu ihm und sah Phillip schräg neben mir, der seine Daumen in die Höhe

schießen ließ. Zu Saskia, die am anderen Ende der Klasse saß, schaute ich auch kurz. Sie lächelte mir unterstützend zu und war anscheinend genauso baff, als sie Elias Hand in meiner ruhen sah. In der Pause führte Elias mich ein wenig herum, die ganze Zeit hatte ich seine warme Hand gehalten. „´Tschuldigung!“, hatte er gesagt und mir seine Hand entzogen, „ich hab schwitzige Hände.“ Er hatte die Hand an seiner Hose abgewischt und mir wieder gegeben. Ich hatte gar keinen Unterschied gespürt, bestimmt, weil meine Hand genauso war. An Lars und Ronja, die knutschend an

einer Wand lehnten, kamen wir auch vorbei und verdrehten beide die Augen. Danach hatte er mich wieder angeschaut und gelächelt. Jetzt glaubte ich auch daran, dass Lars und Ronja zusammenpassten. Mir war aber auch klar, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis er mit ihr Schluss machte. Heute war endlich einmal wieder ein sonniger Tag. Die Strahlen der hoch am Himmel stehenden Sonne wärmte meine blasse Haut nur ein wenig. Mir wäre auch bei schlechtem Wetter warm gewesen, mit dem süßesten und nettesten Jungen der Welt an meiner

Seite. Auch in Englisch hielt er noch meine Hand. Auf dem Weg zu Sport ließ er aber los. Saskia, Nina, Madleén und ich unterhielten uns über das mit dem Handy, sie wollten nicht, dass Elias´ Bande darüber Bescheid wusste. Allerdings fand ich es unsinnig, Phillip würde ja irgendwann merken, dass er sein Handy verloren hatte. Bestimmt wusste er aber schon mehr als ich, deshalb verstand ich nicht, warum die anderen die Wildkicker im Dunkeln lassen wollten. Ich berichtete von dem, was Elly mir gesagt hatte. Und erst jetzt wurde mir klar, dass Elly mir den wichtigsten Hinweis gegeben hatte. Sie

hatte gesagt, dass Laras Handy sehr lange geklingelt hatte. Und, dass sie es später ausgemacht hatte, genau das wollten die anderen hören. Lara und Judith hatten das Handy, die beiden hatten uns beobachtete, als wir an der Hütte waren. Saskia fragte Phillip beim Fußball, ob er sein Handy verloren hätte. Natürlich sagte er ja, er sagte auch, dass seine Freunde auf dem Handy angerufen hatten, aber niemand dran gegangen sei. Genau wie bei uns. Die Jungen hatten genau dasselbe gemacht wie wir. Und so beschlossen wir, mit ihnen

zusammenzuarbeiten. Nicht nur ich und Saskia fanden die Idee gut, sondern auch Madleén, die sich in Sebastian verliebt hatte. Jill wusste noch von gar nichts, sie war nicht mit uns zur Sporthalle gegangen, auch in der Umkleide hatte sie nicht in unserer Ecke gestanden. Sie wurde als Einzige aus unserer Bande in die Mannschaft mit Lara und Judith gewählt. Es schien, als wäre sie auf die andere Seite gewechselt. Aber vielleicht schleimte sie sich nur bei ihnen ein, um mehr zu erfahren. Ich war im Moment viel zu verwirrt, erst wussten wie nicht, wer am Handy für Saskia geantwortet hatte, und jetzt

wussten wir, dass es Lara gewesen sein musste. Hundertprozentig sicher waren wir allerdings nicht. Jill benahm sich komisch, entweder war sie der Spion von Judith und Lara oder sie war auf unserer Seite. Warum war Elias auf einmal wieder nett zu mir? Nicht, dass ich das nicht wollte! Mir war nicht klar, warum alle diese Geheimnistuerei immer noch machten. Die Tage vergingen schnell, ohne Antworten. Ich traf mich am Dienstag mit Elias, wir gingen (bei Regen) Eis essen. Es war wunderschön. Elly hatte ihn in der Eisdiele kennengelernt und war

so stolz auf mich, dass es schon fast wieder peinlich war. Elias verstand sich natürlich auf Anhieb mit der zierlichen, netten Elly. Am Mittwochmorgen holten Saskia und Madleén mich an der Ecke ab. Es gab schlechte Nachrichten. Ich ahnte es schon, wo war Nina? „Morgen!“, grüßte ich freundlich. „Morgen!“, grüßte Madleén genauso freundlich zurück. Das „Morgen“, von Saskia war nicht mal an nähernd so freundlich. „Wo ist Nina? Ist sie krank?“, fragte ich schnell und kletterte mühsam aus dem Auto. Lars nahm mir meine Tasche ab und grüßte meine Freundinnen. Elly

wünschten uns einen schönen Tag, bekam aber keine Antwort. „Was ist?“, fragte ich wieder, als Lars weg war und Ellys Auto nicht mehr zu sehen war. „Nina zieht am Wochenende weg“, seufzte Madleén. Saskia starrte traurig in den Regen. „Und warum?“, fragte ich wieder und merkte, dass ich keine Antwort bekam. „Nina kann nicht wegziehen!“ „Doch, kann sie schon, aber wie sollen wir ohne sie?“, fragte Saskia entmutigt. „Wir kennen uns, seit wir drei sind, und jetzt wo wir sie am meisten brauchen, zieht sie weg!“ „Kommt sie noch mal zur

Schule?“ „Nein.“ „Und warum nicht?“, fragte ich. „Die kann doch nicht wegen eines Umzugs die Schule schwänzen. „Doch, sie ist schon von der Schule hier abgemeldet. Und da wo sie jetzt wohnen wollen, hat sie noch eine Woche Ferien. Meine Oma hat ihre Mutter gestern in der Stadt getroffen“, sagte Madleén schnell und gedankenverloren. „Kommt sie sich wenigstens noch verabschieden?“, fragte ich traurig. „Nein, sie meint, dass sie dann nicht mehr gehen kann. Sie meint sie wäre zu traurig …“, Madleén schrie fast vor Wut. „Sie verabschiedet sich nicht mal von

uns?“, fragte ich empört. „Nein!“, schnurrte Saskia. „Okay, dann knacken wir das Geheimnis des Mordes eben nur zu dritt“, meinte ich und probierte es so aufmunternd und selbstbewusst zu sagen, wie es nur ging. „Und außerdem haben wir ja noch die Jungs!“, fügte Madleén genauso hinzu. „Toll, wir sind ja ne tolle Clique, unsere Anführerin will sich nicht mal von uns verabschieden!“, meckerte Saskia. „Dann gehen wir eben bei ihr vorbei“, meinte ich. „Wenn sie uns nicht mehr sehen will, dann sollten wir sie in Ruhe lassen!“, meinte Saskia schnell. Es war ein regnerischer Tag, genau wie

der vorige. Heute Nachmittag sollte Micky endlich wieder zu Besuch kommen. Vielleicht wusste er ja mehr über Nuni. Zwar hatte er das Mädchen nicht kennengelernt, wurde aber ein Jahr nach dem Tod des Kleinkindes geboren. Auch Elias merkte, dass irgendwas nicht stimmte. Dank seiner guten Menschenkenntnis fragte er nicht, weil er wusste, dass ihm niemand antworten würde. „Wann kommt Micky denn?“, fragte er mitten in der Stunde. „Das hast du behalten?“, fragte ich erstaunt. Das hatte ich ihm mindestens schon vor einer Woche gesagt. „Natürlich, ich will ihn ja auch

kennenlernen!“ „Ich wette, nur dank Lars oder Ronja hast du dich daran erinnert!“, kicherte ich. Wenigstens er konnte meine Laune ändern. In der Pause machte er dasselbe auch mit Saskia und Madleén. Am Ende des Tages gingen wir fünf, Saskia, Madleén, Elias, Phillip und ich gut gelaunt zur Bushaltestelle. Es stand nicht wie sonst Ellys Auto an der Ecke, sondern Micky kleiner Wagen. Schnell verabschiedete ich mich von meinen Freunden und rannte zu dem Miniwagen. Lars saß schon hinten, wo ich immer gesessen hatte. Ich schwang mich auf den Beifahrersitz. „Micky!“ „Lio“, er nannte mich immer Lio, genau

wie Elias auch. Ich umarmte ihn flüchtig, denn ich sah, dass meine Freunde immer noch an der Ecke standen und mich beobachteten. Ich winkte ihnen zum Abschied, als wir an ihnen vorbei fuhren. Elias und Madleén waren die Einzigen, die mir zurückwinkten. „Na, was habt ihr so gemacht?“, fragte Micky neugierig. „Ich bin dabei einen Mord aufzuklären und Lars hat schon wieder eine Neue.“ „Wie ich gehört habe, du auch!“, er zwinkerte mir aus den Augenwinkeln heraus zu. „Niklas Schmitz!“, fluchte ich. „Hey, ich war´s nicht“, verteidigte er

sich mit erhobenen Händen. „Elly?“, fragte ich lachend. „Genau, sie hat´s schon der ganzen Familie gesagt!“, Micky klang erleichtert, als ob er ein schweres Verbrechen gestanden hat. „Was für eine Familie?“, fragte ich verwundert. Alle wussten es doch schon. Marc, Elly, Lars und Micky jetzt auch. „Meine Verlobte und meine Töchter.“ „Du willst heiraten?“, fragte ich entsetzt. „Du bist doch erst neunzehn.“ „Ja und?“, er schaute aus dem Fenster. „Ich habe einen Job, ein großes Haus und kann für meine Familie sorgen!“ „Wie alt sind deine Kinder denn?“, fragte

ich erstaunt. „Ich dachte immer, dass du nicht so der Typ für Familie und Kinder bist.“ „Erstens, sie sind acht Monate alt, und zweitens danke, das denken die meisten.“ „Wie heißen sie denn?“, fragte ich weiter. „Das wirst du gleich sehen!“ Wir fuhren durch die, um diese Zeit, fast überfüllten Straßen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Micky schon zweifacher Vater war. Warum hatte er mir das verschwiegen? Vor unserem Haus blieb er stehen und seufzte. Lars hielt mir die Tür auf und nahm mir wie gewöhnlich die Tasche ab. Elly riss,

kurz bevor ich klingeln wollte, die Tür auf und lächelte herzlich. „Na wie war´s?“ Anscheinend hatte sie die Enttäuschung in meinem Gesicht geschrieben gesehen. Was verheimlichte mir diese Familie noch? Meine Familie! Über das mit Nuni waren wir alle hinweg. Keiner sprach noch darüber. Ich wäre auch gestorben, wenn ich dieses Thema noch mal angesprochen hätte. Diese Trauer und diesen Verlust, den Elly erlitten hatte, tat mir jedes Mal aufs Neue im Herzen weh, wenn ich daran dachte. Unsere Schultaschen landeten in einer Ecke unter der schmalen Treppe. Lars zog mich am Arm mit sich in die Küche,

wo eine Frau auf einem der weißen Ikea-Küchenstühle saß. Auch sie lächelte so freundlich, dass meine Lippen einen schiefen Halbmond zeichneten, bevor mein Hirn auf die Idee gekommen wäre. „Hallo, Leonie, ich bin Heike!“, sie streckte mir ihre dünne Hand hin. Als ich sie ergriff, wunderte ich mich über ihren festen Händedruck. Ihr Körper war eher klein und zierlich. Ihre Adern traten an den kleinen Handgelenken hervor, als sie festdrückte. Eiskalt lag ihre Hand in meiner Eisflosse. Ich hatte aber schon immer kalte Hände gehabt, bei der kleinen Frau, die nicht älter als sechzehn aussah, konnte man sich das

gar nicht vorstellen. „Hi“, antwortete ich nur schüchtern. Heike hatte braune Haare, die genauso hell waren, wie ihre Augen. Sie hatten ein warmes Schokoladenbraun. Ihre Wangenknochen traten nur leicht unter der weißen Haut hervor. Irgendwie sah sie krank aus. Sie musterte mich genauso neugierig wie ich sie. Ihren Pony hatte sie sich mit einem schwarzen Haarreifen aus dem Gesicht gestrichen. Leichte Strähnen fielen aus der lässigen Frisur heraus. Sie war nicht besonders modisch gekleidet. Aber irgendwie passte ihr Style zu ihrem Aussehen. Unter den langen Wimpern, die sich nicht

mal geschminkt hatte, schaute sie mir eindringlich in die Augen. „Wie alt bist du noch mal?“, fragte sie, um meine Laune aufzubessern. „Dreizehn“, murmelte ich und musste an meinen vierzehnten Geburtstag denken, der in einigen Wochen bevorstand. Ich konnte mir noch immer nicht vorstellen, hier zu wohnen. Es waren immer noch Ferien bei alten Bekannten für mich. Und dann sollte ich auch noch hier meinen Geburtstag feiern? - Ohne meine richtige Familie. Vierzehn, wollte ich noch nie werden, ich wollten immer dreizehn bleiben, für den Rest meines Lebens. Ich wollte immer ins Nimmerland, in dem meine

Familie jetzt war. „Was können wir dir denn zum Geburtstag schenken?“, fragte sie, als sie bemerkte, was sie angerichtet hatte. Sie und Micky wechselten einen schnellen Blick. „Keine Ahnung!“, ich wusste echt nicht, was ich mir wünschte, außer meiner Familie, aber das war ja unbezahlbar- unmöglich! Oder vielleicht zu wissen, wer der Mörder ist. Das konnte ich ja schlecht jetzt sagen, vor Elly und Lars. „Vielleicht ein Buch?“, fragte Micky. „Ein Buch? Das ist das Schlimmste, was man schenken kann!“, empört warf sie ihrem Verlobten einen strengen Blick

zu. „Doch, über ein Buch würde ich mich wirklich freuen!“, versicherte ich. „Und was für Bücher liest du so?“, fragte Heike interessiert. Ich drehte mich um, weil es auf einmal so leise war. Micky, Heike und ich waren allein. „Von Vampiren und Zombies hab ich erst mal genug!“, na toll, sie hatte meine Schwachstelle getroffen, wenn es um Bücher ging, konnte ich kaum noch aufhören. „Ich habe alle Bücher von Cornelia Funke, Stephanie Meyer und Mark Twain, also ganz unterschiedliche Richtungen!“ Begeistert hob sie den Kopf. Diese

Sprache verstand Micky nicht, seufzte und verschwand im Wohnzimmer. Nach unserer langen Diskussion über Bücher führte sie mich rüber ins Wohnzimmer. Zwei Mädchen tippelten über eine Krabbeldecke. Eine von ihnen sah Micky so ähnlich, sie hatte nur die Augen von ihrer Mutter. Die Andere sah aus wie Heike, hatte nur die Augen des Vaters. Echte Zwillinge eben. Sie waren total unterschiedlich, also Zweieigig. Interessiert kroch einer der beiden zu mir rüber und streckte ihre kleinen Fingerchen nach mir aus. Ich konnte nicht anders und musste sie einfach

hochnehmen. „Na, wer bist du denn?“, fragte ich mit einer fremden Stimme. Ich hörte mich so glücklich an. Endlich. „Das ist Maike“, stellte Heike uns vor. Maike hatte braune Augen, blonde Haare und das ganze Gesicht voller Sommersprossen. Ihre wirren Locken hatte sie anscheinend von einem der Großeltern geerbt, denn weder Heike noch Micky hatten auch nur eine Welle. Maike war also das Mickykind. „Und wer bist du?“, fragte ich das andere Mädchen, das eifersüchtig an meiner Hose zog. Natürlich wartete ich auf keine Antwort, sondern schaute direkt zu Heike.

„Levke- Leonie. Leonie- Levke“, stelle sie uns lachend vor. „Levke und Maike, warum denn schwedische Namen?“, fragte ich interessiert. „Keine Ahnung, wir haben sie nach unseren Müttern benannt“, redete sich Micky raus. „Also habt ihr doch Ahnung!“, stelle ich lachend fest. Die Zwillinge hingen wie Kletten an mir. „Sie mögen dich“, meinte Elly. Sie stand in der Mitte des Zimmers und sah sehr traurig aus. Wahrscheinlich, weil sie sie an ihre eigene Tochter erinnerten. „Ich sie auch, Micky, Heike, ich glaube ich zieh bei euch ein!“, eigentlich passte

diese Offenheit gar nicht zu mir. Aber wenn Micky da war, war ich immer so. „Gerne!“, Heike setzte sich neben mich auf die bunte Decke. „Hey, sie ist meine Tochter, sie bleibt hier!“, verteidigte Elly mich. Mein glücklicher Gesichtsausdruck über ihre Worte zauberte ein Lächeln in ihr schmales Gesicht. „Vorsicht Teenager. Wartet mal ab, in dreizehn Jahren habt ihr noch zwei von der Sorte“, Marc kam gerade aus dem Flur. Seinen Aktenkoffer hatte er unter den Arm geklemmt. Seine Krawatte hing langweilig an seinem muskulösen Körper. Der Tag verging viel zu schnell. Heike

und Micky zogen in das kleine Gästezimmer im Keller. Die Kleinen übernachteten in ihren Bettchen im Wohnzimmer. Am Wochenende wollen sie schon wieder abreisen. Ich hatte also nur noch drei Tage mit meinen neuen Cousinen. Am Donnerstagnachmittag wollten Elly und Heike in die Stadt fahren, Lars war mit Ronja unterwegs und Micky und Marc mussten arbeiten. Sie ließen mich also mit den beiden allein. Um drei fuhren sie los, und von halb zwei bis um halb drei hatte Heike mir erklärt, was ich machen sollte, wenn die beiden anfangen zu schreien, oder sich wehtun, oder

… Endlich waren sie weg und kamen erst in drei Stunden wieder. „Sturmfreie Bude“, jubelte ich. Ein Anruf bei Saskia genügte, um auch Madleén, Elias und Phillip einzuladen. Saskia brachte auch ihre kleinen Brüder mit, weil sie sonst hätte zu Hause bleiben müssen. Um Punkt 15:01 klingelte es an der Tür. Elias war, nicht anders zu erwarten, der Erste, der kam. Danach kamen Saskia, Phillip und Madleén. Max und Tim, so hießen die Zwillinge, spielten mit den Mädels auf der großen Decke. Ich ließ die Rollladen hinunter, während Elias und Phillip die DVD

einlegten. „Was gucken wir überhaupt?“, fragte ich uninteressiert. Ich freute mich eher darauf, mich in der Dunkelheit heimlich an Elias kuscheln zu können. Wahrscheinlich dachte Saskia dasselbe über sich und Phillip. Sie nannten sich seit neustem Phil und Kia (ich verdrehe die Augen). Elias nannte mich Leo, den Spitznamen spricht er aber immer in Englisch aus, also Lio. Und ich nannte ihn Elias, weil mir kein Spitzname zu seinem eh schon so kurzen Namen einfiel. Und einen Kosenamen wie Bärchen wollte ich ihm auf keinen Fall geben! „Keine Ahnung, die DVD ist von Phillip“,

antwortete Elias mit hochgezogenen Augenbrauen. „Im Kino ist er aus Avatar raus gerannt, also was gucken wir uns an? Was nicht so gruselig ist wie Avatar?“ „Haha, du weist genau, dass ich nur auf Toilette war!“, Phillip guckte einmal kurz zu Saskia, um zu sehen, ob sie lachte oder nicht. Auch ich folgte seinem Blick. Saskias Mund war zu einer geraden Linie gezogen. Anscheinend unterdrückte sie ein Lachen. Ihr Blick war aber erst. „Wir gucken hoffentlich keinen Gruselfilm!“, fragte, oder seufzte Madleén. „Warum sollten wir nicht?“, fragte

Phillip launisch. Hatten wir seine gute Stimmung verdorben? „Weil ich niemanden hab, an den ich mich ran kuscheln kann, wenn was Schlimmes passiert!“, meckerte Madleén lachend. „Such dir einen aus!“, Saskia zeigte auf ihre Brüder. „Haha.“ „Warum, die sind viel verschmuster als Phil!“ „Okay, dann nehme ich den!“, sie zeigte auf Max, der darauf hin anfing zu schreien. „Na toll“, fluchte Saskia. „ ´Tschuldige!“, Madleén senkte den

Kopf. „Ist schon okay …“ Der Film war eigentlich gar nicht so schlimm, mit meinen Freunden, vor allem mit Elias an meiner Seite, war es sogar richtig lustig, die Zombies auszulachen. Will Smith, der einen Arzt, als letzten Menschen der Welt spielte, opferte sich später auch, um die restlichen Überlebenden zu retten. Der Film war eigentlich erst ab sechzehn, das fiel uns aber erst viel zu spät auf. Der Tag war so schön und wie alle schönen Tage verging er viel zu schnell. Um halb sechs waren alle weg, außer Madleén. Sie wollte mir noch helfen, alles wieder aufzuräumen. Denn die

Decken auf den Sofas mussten neu gefaltet werden und die Pappteller weggeworfen werden. „Danke, dass du geblieben bist, sonst hätte ich mir noch eine gute Ausrede einfallen lassen müssen!“, bedankte ich mich bei ihr. Madleén hatte ich noch gar nicht richtig kennengelernt, erst seit dem Jill weg war, wurde sie erst richtig lebendig. Jill konnte andere so gut unterdrücken, ein Glück, dass die weg war. „Mache ich doch gern, außerdem musste ich mal mit dir allein reden!“ „Worum geht´s?“, fragte ich aufgeregt und schob die letzten Teller in den

Mülleimer. „Um Nuni.“ „Schieß los!“, befahl ich. „Also, ich wohne ja bei meinen Großeltern, und die wohnen hier schon seit mehr als vierzig Jahren. Natürlich haben sie auch etwas von dem Mord mitbekommen! Vielleicht können wir bei uns auf dem Speicher mehr herausfinden!“, ihre Augen funkelten bei dem Gedanken, ein Abenteuer zu erleben. „Warum auf eurem Speicher?“, fragte ich ungläubig. „Mein Vater hat bei der Polizei gearbeitet. Und er wohnte damals auf unserem Speicher. Meine Großeltern haben ihn für meine Eltern ausgebaut.

Aber meine Eltern starben noch, bevor wir richtig eingezogen waren“, ich merkte, dass es für sie zu weit ging. Auch sie hatte ihre Eltern verloren. Madleén war erst ein, oder zwei Jahre alt gewesen. Ich dagegen konnte meine Eltern wenigstens noch kennenlernen. „Okay, wann brechen wir da oben ein?“, fragte ich abenteuerlustig. „Am besten du übernachtest bei uns, dann fällt es nicht so auf. Wie wär´s mit Samstag?“ „Also gut, Samstag. Aber ich finde wir sollten den anderen Bescheid sagen.“ „Ja klar, aber wir können da nur zu zweit hochgehen, sonst wird es viel zu

laut.“ „Schon klar, dann besprechen wir die Einzelheiten morgen!“ „Gut!“ Als wir Marcs Auto hörten, verabschiedeten wir uns schnell voneinander und verabredeten uns für morgen früh an der Ecke. Zum Glück merkten Marc und Elly, Micky und Heike und Lars nichts von unserem kleinen Meeting. Sie schöpften auch zum Glück keinen Verdacht. Einige Spielsachen der Kleinen lagen noch herum, aber sonst hatten Madleén und ich wieder alles hinbekommen. Das Abendessen verlief ruhig und angenehm. Ich hatte gedacht, dass ich

vollgequatscht werde, aber Heike und Elly hielten sich im Rahmen. Marc und Micky schauten wieder mal den ganzen Abend Fußball. Das Gegröle aus dem Wohnzimmer drang laut schallend durch den Flur in mein Zimmer, wo ich gelangweilt auf meinem Bett lag und die Decke anstarrte. Das machte ich in letzter Zeit öfter, keine Ahnung warum. Es half mir meistens, einen klaren Kopf zu bekommen. Ich dachte über Nuni, Judit und Lara, Nina und Jill nach. Am meisten gehörten meine Gedanken aber Nuni. Wie konnte dieses kleine Mädchen so viele Leute in ihren Tod reinziehen, auch wenn es zwanzig Jahre her war. Es war schier unmöglich, jetzt noch

irgendwas aufzuklären. Alle möglichen Zeugen waren schon tot, oder keiner wusste mehr, wer sie waren. Madleéns Vater hatte bei der Polizei gearbeitet und den Mord mit aufgeklärt. Danach starb er. Absicht, oder Unfall? Warum war seine Frau auch tot? Hatte sie etwas gewusst? Oder war es wirklich ein Unfall? Madleén hatte nur von dem TOD gesprochen. Wenn wir allein waren, würde ich sie nicht nach ihren Eltern fragen! Sonst würden wir vielleicht den ganzen Rest des Abends schweigen! Madleén war irgendwie sehr sensibel. Ich wollte auf keinen Fall irgendeine Frage stellen, die sie innerlich verletzten

würde. Ich war noch nie auf einer Beerdigung, nicht mal auf der meiner eigenen Familie. Und ich wusste nicht mal, ob sie überhaupt beerdigt worden waren. – Ich wusste zwar nicht, wie ich darauf gekommen war, aber der Tod war immer irgendwie mit mir verwickelt, und wie es schien, auch mit diesem ganzen Haus. - Und dieser ganzen Familie. Mit Lars, Elly, Marc, Micky und mir.

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