3. Kapitel Familie Schmitz Irgendwann hielt der Wagen dann endgültig und sie zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie mir ihren Namen gar nicht genannt hatte, aber ehrlich gesagt interessierte er mich auch nicht besonders. Dieses Mal kam ich ihr zuvor und öffnete die Tür selber. Ich sah das Haus nicht, denn ich stand mit dem Gesicht zur Straße. Nur aus den Augenwinkeln sah ich eine weiße Fassade. Ich atmete langsam ein und aus, ganz ruhig, sagte ich mir immer wieder, es
wird schon nicht so schlimm werden! Mach einfach auf liebes kleines Mädchen, dachte ich, doch das würde nicht ganz einfach werden. „So, das ist dein neues Zuhause!“, dabei nahm sie meinen Arm und stützte mich, bis wir an der Haustür ankamen. Das Haus gefiel mir gut, es war sehr elegant, aber auch klein. Es hatte rot gestrichene Fensterläden und eine kleine Veranda, die ums Haus führte. Rechts neben dem Haus, war genau wie bei meinem alten Zuhause die Garage. Auf der linken Seite machte eine große Hecke es unmöglich, in den Garten zu blicken. Ein schmaler Weg führte zu der Veranda,
die nur von der Einfahrt der Garage erreichbar war. Vor der Hecke stand eine riesige Trauerweide, die man von dem rechten oberen Fenster bestimmt erreichen könnte. Dort war auch ein kleiner Balkon. Wie ein kleines Schloss lag das Häuschen da, von Bäumen umgeben. Die Nachbarhäuser hatten nur einen langweiligen Vorgarten, der aus Wiese und Einfahrt bestand, aber der hier- wow. Jetzt klingelte sie endlich. Es dauerte höchstens ein paar Sekunden, bis eine kleine Frau die Tür öffnete und mich anlächelte. „Na, du bist Leonie, oder? Hattet ihr eine
gute Fahrt? Hat der Schnee euch nicht aufgehalten?“, sie lächelte freundlich. Aber bei diesen Worten: Gute Fahrt, Schnee euch nicht aufgehalten, kam es mir vor, als stach mir jemand mit einem Messer ins Herz. „Hallo“, sagte meine Begleiterin, „ja, wir haben gut hergefunden! Und alle Straßen waren frei.“ „Das freut mich, wir hatten schon befürchtet, dass ihr im Stau steht!“ „Haben wir auch, aber nur kurz!“, versicherte die Frau vom Jugendamt. „Kommt doch herein!“, bat uns die Frau. „Ja, gerne.“ Schüchtern schlich ich hinter den Frauen
her. Wenigstens kannte ich Frau Schmidts Namen. „Jungs? Kommt doch mal herunter!“, rief die kleine rothaarige Frau, die jetzt meine neue Mutter sein sollte. Ich beobachtete jede ihrer Bewegungen genau, sie war sehr vorsichtig und bewegte sich langsam. Dann hörte ich Getrampel. Zwei mindestens vierzehnjährige Jungen trampelten die Treppe hinunter. Als sie dann unten im Flur standen, und die Schimpferei wegen des Getrampels hinter sich hatten, wandten sie sich mir zu. Freundlich waren sie ja, aber waren sie das auch, wenn die Frauen weg waren?
Eigentlich hoffte ich das nicht, denn dann müsste ich auch immer nett und höflich sein. Schnell fand ich heraus, wie wer hieß und welche Hobbies beide hatten. Der eine war schon über achtzehn und wohnte nicht mehr hier, sondern war nur zu Besuch. Nach unserem kleinen Gespräch mussten die Zwei meine Kartons in mein neues Zimmer schleppen. Sie taten mir ein wenig leid, wie sie meine schrecklich schweren Bücherkartons hochhievten, aber ich konnte ja schlecht mit anpacken. Als die Frau vom Jugendamt irgendwann
im Laufe des Mittags verschwunden war, fingen Frau Schmitz und ich an, uns kennenzulernen. Sie zeigte mir das Haus, na ja eigentlich nur die untere Etage. Es war wundervoll eingerichtet, anscheinend verdienten sie richtig, richtig gut. Später half ich ihr beim Abendessen. Sie redete viel von ihrer Familie, zu der auch ich jetzt gehörte. Dann wollte sie mehr über mich wissen. Ich erzählte ihr alles, was sie wissen wollte. Sie fragte nur nach meinen Hobbies und meinen Lieblingsbüchern, nicht ein Wort über meine Familie oder Freunde. Irgendwann fand ich heraus, dass der
jüngere Junge auch ein Pflegekind der Familie ist. Sie kannten sich also schon aus. „Was ist denn dein Lieblingsessen?“, fragte sie neugierig. „Spagetti mit Tomatensoße!“, antwortete ich verschämt. Ich hasste es das zuzugeben, es hörte sich so kindisch an. „Meins auch!“ „Machen sie die Soße immer selbst oder aufgetaut?“, fragte ich schnell, „denn bei uns haben wir die Soße immer selbst gemacht!“ „Nein, ich komme eigentlich nie zum Kochen, fertig!“ „Oh Gott, hätte meine Mutter das
gehört!“ „Kennst du denn das Rezept?“ „Natürlich!“ „Dann kochst du es uns mal, ja?“ „Gerne.“ „Der Auflauf muss jetzt eine Stunde schwitzten!“, kicherte sie, „soll ich dir mal dein Zimmer zeigen?“ „Ja, gerne, ich muss mich mal setzten!“ „Ach, wie lange musst du den Gips noch tragen?“ „Noch circa fünf Monate!“ „Ach du heiliges Kanonenrohr!“ „Ja ich weiß, aber besser, als wenn das Bein…“, schnell unterbrach ich den Satz, der Rest war privat. Zwar hatte ich das Gefühl ihr alles sagen
zu können, aber das war ja egal. Sie half mir die Treppe hinauf. Zu meinem Glück war die Treppe sehr schmal, ich konnte noch nicht einmal beide Arme ausbreiten. Deshalb konnte ich mich besser stützen. Der Flur war genauso unterteilt wie unser Flur. Es war ein Quadrat mit fünf Türen und einem Rundbogen, der in ein kleines Büro führte, in dem bei uns nur ein Schreibtisch gestanden hatte. „Dein Zimmer ist das Zweite von rechts“, sagte sie schnell, sie ging hinter mir, denn wenn ich fallen würde, würde ich sie bestimmt mitreißen. Ich schaute mich einmal um, der Flur hatte keine Fenster, doch es war
ziemlich hell, ob das Licht an war? Ich guckte nach oben, da war kein Dach! Also da war schon ein Dach, sonst würde es ja hereinregnen, aber ein Dach aus Glas. „Wow!“ „Ja, Marc hat darauf bestanden, damit man nachts prima die Sterne beobachten kann!“ „Ja, das glaub ich gerne!“, ich staunte nicht schlecht. All meinen Kummer hatte ich in dem Auto der Frau gelassen. „Wer ist Marc? Ist er einer der Jungen?“ „Nein, Marc ist mein Mann, dein Pflegevater. Dein neuer Bruder“; sie lächelte, „heißt Niklas, aber er hasst es so genannt zu werden, nenn ihn lieber
Lars!“ „Okay!“, sie war so unglaublich freundlich und herzlich, ich liebte sie jetzt schon. Aber einen Ersatz für meine Mutter könnte sie niemals werden. Sie öffnete die Tür meines neuen Reiches. Es war riesig!!! Eine ganze Seite war ein Fenster, sonst waren da noch zwei Türen und eine Schräge. Meine Kartons standen wild verstreut im Zimmer. Mein Schrank und mein Bett standen schon. „Willst du das Bett und den Schrank so stehen lassen?“, fragte sie schnell, wahrscheinlich dachte sie, dass es mir nicht gefiel. Aber ich war so überrascht,
ein so großes Zimmer zu bekommen. Das Haus sah von draußen ja eigentlich richtig klein aus. „Wenn du irgendwas brauchst, Lars ist direkt nebenan. Er könnte dann alles verrücken!“ „Nein, nein, ist schon okay so“, sagte ich zufrieden. „Ich möchte nur noch meine Bücher auspacken und lesen!“ „Mach das! Ich rufe dich dann, wenn es Essen gibt!“ „Okay!“ Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wartete ich, bis sie die Treppe hinunter und in die Küche gegangen war. Ich warf mich aufs Bett. Lange lag ich
da und starrte gedankenverloren an die Decke. Der Schrank stand direkt neben der Tür, durch die wir gekommen waren. Eigentlich war es kein Schrank, sondern eine kleine Kommode, die gerade noch unter die Schräge passte. Was waren das für Türen? Führten sie in die Nachbarzimmer? Oder auf den Balkon? Nein, auf den Balkon nicht, dafür waren sie viel zu dünn. Ich sprang viel zu schnell auf, und landete auf dem harten Parkett. „Alles Okay?“ Erschrocken sah ich auf, der jüngere Junge von vorhin stand in der Tür. „Ja, alles Okay! Ich vergesse einfach
immer, dass ich das Schienbein …“ Er kam schnell zu mir und zog mich am Arm hoch. „Danke!“, murmelte ich verschämt. Mit Jungs hatte ich es eigentlich gar nicht, aber der hier, war ja jetzt … „Ich bin übrigens Niklas!“ „Ja, das dachte ich mir eigentlich schon. Willst du wirklich lieber Lars genannt werden?“ „Ja, so nannten meine Eltern mich immer!“’ „Wurdest du auch?“ „Ja!“, er unterbrach mich mitten im Satz. „Warum?“ „Meine Eltern haben mich irgendwann
ins Waisenhaus gebracht!“ „Warum das denn?“, wir verstanden uns wirklich gut, mit ihm an meiner Seite, hatte ich den Schmerz komplett vergessen können. Er half mir noch, das Bücherregal aufzubauen. Als wir dann alle Bücher im Regal stehen hatten, waren es bereits halb sieben. „Wie viele Kartons Bücher haben wir noch?“, fragte er erschöpft. „Das waren die Letzten!“ „Gut. Bist du so ein Bücherwurm oder sammelst du nur?“ „Ich würde sagen, beides!“ „Ich, ich lese nicht. Ich habe tausend
DVDs!“ „Das will ich sehen!“ „Glaubst du mir nicht?“, fragte er verführerisch. „Nein, wenn du so lächelst.“ Sein Grinsen wurde nur noch breiter. Dann aber zog er die Brauen zusammen. „Komm ich helfe dir!“, er nahm meinen Arm und zog mich hoch. Ich kam mir vor, wie eine steife Laufpuppe, die von einem kleinen Mädchen von einem Spielplatz zum anderen geschleppt wird. Sein Zimmer war genauso wie meins, nur seitenverkehrt. Und da, wo bei mir die Kommode steht, stand bei ihm ein Schreibtisch mit einem riesigen schwarzen
Laptop. Er hatte auch dasselbe Regal wie ich, es war nur voll mit DVDs. Von seinem Fenster sah man auf die Straße, von meinem auf das Nachbarhaus. Meine Wände waren in einem zarten Rosa gestrichen, seine waren hellblau. „Wer war der andere Junge?“, fragte ich ihn, und unterbrach ihn mitten im Satz. Verwundert schaute er auf und musste sich erst mal fassen. „Er ist der Bruder von Marc!“, er schüttelte den Kopf, „du weiß doch, wer Marc ist, oder?“ „Ja, klar!“ Irgendwann rief Frau Schmitz uns zum
Essen. Als Lars die Treppe hinunter stürmte und sich am Treppenende schwungvoll an der Wand abstieß, dachte ich, er kann nur Superman sein. Er war so schnell, wahrscheinlich hatte ich das auch bald drauf, denn ich bin immer zu spät, dann könnte dieser Abgang ja nicht schlecht sein. „Lars, das geht auch leiser!“, hörte ich Frau Schmitz schimpfen. Ein Lächeln huschte über meine Wangen. Langsam und so leise es ging schlich ich die Treppe hinunter, um so wenig wie möglich aufzufallen. Als ich schon fast unten war, wurde die Haustür geöffnet. Ein Arm schob sich durch die Öffnung und knipste das Licht an. Dann erkannte
ich einen Aktenkoffer in dem schwachen Licht. Später wurde aus den Umrissen ein ganzer Körper. Die Person, entweder der Bruder von Marc oder Marc selbst, bemerkte mich gar nicht. Natürlich nicht, das wollte ich doch, ich stand auf der dunklen Treppe. Er zog sich die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe, ohne mich zu sehen. Sollte ich jetzt weiter gehen? Nein, ich beschloss stehen zu bleiben und zu warten, dass er im Esszimmer verschwunden war. Und mein Plan ging tatsächlich auf. Nachdem ich die schon vertrauten Stimmen vernahm, die ihn begrüßten,
wusste ich ja, dass ich gehen konnte. Jetzt ging ich so laut, dass sie mich hören mussten. Schüchtern stand ich im Türrahmen, jetzt war ich mir sicher. Es war Marc gewesen. „Hallo, Leonie!“, er begrüßte mich freundlich, stand er auf und reichte mir die Hand. „Hallo, und danke“, mehr bekam ich nicht heraus, Traurigkeit lag auf einmal in meiner Stimme. Ich wusste nicht, ob ich mit ihm klarkommen würde. Aber ich musste mich an diese Familie anpassen und nicht andersrum. Sie sahen alle so glücklich aus. Passte ich überhaupt hier zu ihnen? Ich meine
in diese friedliche Idylle. „Setzt dich“, die liebevolle Stimme von Frau Schmitz drang durch meine Gedanken und löste mich aus meiner Gedankenstarre. Schnell setze ich mich auf den Stuhl neben Lars, auf den er geklopft hatte. „Es gibt mein Lieblingsessen!“, verkündete Lars stolz. „Ach ja, und was gibt es?“, es war eine andere Stimme, die ich schon kannte, sie gehörte dem Bruder von Marc! „Auflauf!“, Lars´ Lächeln wurde noch breiter, als unsere Pflegemutter ein Blech mit seinem Lieblingsessen hereintrug. „Aha“, der Junge hörte sich nicht sehr
begeistert an, „schon wieder?“ Vorgestellt hatten wir uns ja schon, aber irgendwie habe ich seinen Namen wieder vergessen. Mit Namen hatte ich es noch nie. Nachdem alle mindestens einen Teller des leckeren Auflaufs gegessen hatten, redeten die Jungs noch über Motorräder, als meine neue Mutter mich in die Küche winkte. Schnell stand ich auf und nahm meinen Teller in die Hand, um ihn in die Küche zu tragen. „Lass ruhig stehen, Kleines, ich mache das gleich!“, rief sie mir zu. Vorsichtig stellte ich ihn wieder auf den Tisch und folgte gehorsam in die große
Küche. „Morgen wäre dein erster Schultag. Du kannst dir aussuchen, ob du hingehen möchtest oder nicht! Aber wenn du nicht gehen möchtest, ist hier morgen früh niemand, also was möchtest du lieber?“ Erst jetzt fiel mir auf, dass sie unendlich reden konnte, genau wie meine Mutter auch. Das wühlte mich vollkommen auf. „Was ist?“ „Ach, schon okay!“ „So sah es aber nicht aus!“ „Ja, ich weiß, ich glaub ich geh morgen zur Schule!“ „Du musst nicht. Dein Bruder, äh Lars,
tschuldige würde alles in der Welt tun, um hierzubleiben!“ „Nein, ich möchte aber!“, wow ich klang ganz schön zickig, und selbstbewusst. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und ich spürte, dass ich sie glücklich gemacht hatte. Ich wollte unbedingt wieder zur Schule, nicht weil ich ein Streber war, sondern weil ich es nicht aushalten würde allein zu sein. Allein, mit all den Sachen, die meine Eltern mir kauften oder schenkten. Ich brauchte endlich wieder Kinder um mich herum. Ich wollte wieder doof angeguckt werden, na ja das vielleicht nicht, aber vielleicht war es auch das,
was ich so vermisste. Die Zicken und Obercoolen meines Jahrgangs, mit denen meine Clique und ich immer Streit hatten. Nein. Ich musste wieder an Mona denken. Tränen schossen mir in die Augen. Tröstend legte sie ihren Arm um mich. „Tut mir leid.“ „Sie haben doch gar nichts gemacht!“, schluchzte ich. „Du!“ „Okay, du hast nichts gemacht“, ich lächelte wieder, als Lars in der Tür stand und einen roten Mund von dem Tomatenmark vom Auflauf hatte. „Dir hat es mal wieder geschmeckt,
oder?“ „Ja, klar!“, er kam auf mich zu und streckte die Arme aus, um mich zu umarmen. Wollte er seinen Mund bei mir abschmieren, oder was? Er meinte es ernst und umarmte mich tröstend. Später, so um neun, klopfte es an meiner Zimmertür. Ich saß auf dem Bett und hatte ein Buch in der Hand. „Ja.“ „Ich bin´s, Lars.“ „Komm rein!“, ich kam gerade aus der Dusche. Meine Haare waren noch ein bisschen feucht und fielen mir lässig
über die Schulter. Leise öffnete er die Tür. Er schlich zu mir hinüber und blieb kurz vor dem Bett stehen. „Willst du nicht hinunterkommen und mit Marc und Elly fernsehen?“ „Ich föhne mir nur noch die Haare, ja?“, eigentlich wollte ich lieber allein sein, aber in Selbstmitleid zu versinken half anscheinend auch nicht. „Ich warte dann unten.“ Nachdem er die Tür geschlossen hatte, beschloss ich Tagebuch zu führen. Damit ich die schlimmsten Tage meines Lebens vielleicht irgendwann wegwerfen oder verbrennen könnte. Bei diesem Gedanken wurde mir warm ums Herz, aber nicht vor Freude, es fühlte sich an,
als ob mein Herz brannte. Ich könnte diese Zeit nicht vergessen, genauso wenig wie meine Familie. Aber ich wollte unbedingt festhalten, wie herzlich Elisabeth, also Frau Schmitz, mich hier aufgenommen hatte. Und, dass Lars und ich direkt gute Freunde wurden. Aber auch, wie zurückhaltend Marc und ich waren. Es dauerte bestimmt noch was, bis das Eis zwischen uns brach. Nach einer Viertelstunde stand ich dann im Wohnzimmer und starrte auf den Fernseher, es liefen die Nachrichten: „Vor einigen Wochen fand ein Unfall auf der Autobahn bei Bottrop statt, dabei geriet ein Lastkraftwagen ins Schleudern
und riss acht weitere Autos mit sich. Mehr als vierzehn Menschen kamen ums Leben, weitere neun wurden schwer verletzt. Zu den Überlebenden gehörte auch eine 13-Jährige, welche beim Unfall Eltern und Bruder verlor. Die Polizei ermittelt weiterhin, wie es zu so einem tragischen Unfall kommen konnte!“, sagte der Nachrichtensprecher. Diese Wörter hatte ich doch schon mal gehört! Meine Augen waren schon ganz rot von der ganzen Heulerei. So schnell würden sie wohl nicht mehr blau werden! Noch keiner hatte mich bemerkt. Doch als ich einen lauten Schluchzer nicht mehr unterdrücken konnte, drehten
sich alle zu mir um. Marc und Elisabeth sahen nebeneinander auf der Couch. Lars saß auf dem Boden vor ihnen. Der anderen Junge, Micky- also der Bruder von Marc- lehnte an der Anrichte. Wie es für Elisabeths Art natürlich war, kam sie als Erste auf mich zu und nahm mich in die Arme. So vertraut kam mir ihre Umarmung vor, dafür schämte ich mich wirklich. Lars seufzte, dann schaltete er um. Nervte ich ihn mit meinen Tränenausbrüchen? Und wenn, konnte ich auch nichts dafür- soll er das mal durchmachen. Mir fiel auf, dass er mir noch nichts über
seine Familie erzählt hatte. Am nächsten Morgen wurde ich von einem zarten Rütteln geweckt. Als ich die Augen aufschlug, wurde ich von dem Schein der schon hoch am Himmel stehenden Sonne geweckt. Mein Fenster zeigte in Richtung Osten, wo die Sonne viel zu hell zu sehen war. Hinter den Dächern unserer Nachbarn schob sich ein großer gelber Ball immer greller nach oben. „Komm schon, Kleine! Dein erster Schultag!“, das war Lars, der gut gelaunt die Treppe hinunter sauste, „oder auch schon dein Hundertster!“,
das war nur noch ein leises Flüstern. Wahrscheinlich hätte ich es gar nicht hören sollen! Wie gelähmt schleppte ich mich zum Badezimmer, das mir allein gehörte! Meine Sachen vom Vortag lagen überall verstreut auf dem Boden. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann ich hier alles rum geschleudert hatte. Aber da war nichts. Ich wusste nur noch, dass es gestern Abend ziemlich spät geworden ist. Es war mal wieder typisch für mich, alles ins Chaos zu stürzen, und das war wörtlich gemeint! „Frühstück ist fertig“, Elisabeths gute Laune machte mich ein wenig glücklicher. Aber wahrscheinlich freute
sich Lars schon auf meine Augenringe, die wie Lidschatten tief unter meinen Augen hingen. Aber mit ein wenig Schminke, die hier reichlich stand- zwar nicht von mir, aber für mich gedacht- waren die schnell wieder vergessen. Ich zog meinen Lieblingspulli und meine wärmste Hose an, bevor ich im Halbschlaf die Küche ansteuerte. Unten warteten die Jungs auf die Pfannkuchen, die köstlich rochen. Als sie sie dann auf ihrem Teller liegen hatten, stürzten sie sich wie ein wildes Rudel Wölfe auf sie. Ich hingegen aß langsamer, aber tat so, als würden sie mir schmecken, und das war gar nicht
mal so schwer! Die Autofahrt war eigentlich nicht lang, nur zehn Minuten oder so. Lars sprang lässig aus dem großen Wagen, der gerade erst angehalten hatte. Elly wünschte mir viel Glück und Micky winkte mir freundlich nach. Aber in seinem Blick meinte ich, Ironie zu sehen, als freute er sich, dass wir zur Schule mussten und er nicht. Er war ja schon neunzehn. Lars zeigte mir das Sekretariat, dort sollte ich mir meine Bücher und meinen Stundenplan abholen. Auf dem Weg dahin wanderten wir durch mindestens zwanzig verschiedene
Trakte und fast die halbe Schule grüßte ihn. Bei mir würde es wohl nicht so sein, denn im Moment starrten mich alle nur an, als ob ich aus der Zeitung oder dem Fernseher gesprungen wäre. Es hatten bestimmt nicht alle diesen kleinen Zeitungsartikel über dem Unfall in der Zeitung gelesen, es kam mir eher vor, als verbreite sich ein Gerücht zu schnell. Endlich erschien die Tür zum Sekretariat und hinter der Milchglastür konnten die Blicke mich nicht wieder in den Wahnsinn treiben. „Ich geh jetzt lieber mal“, Lars verschwand schnell, als wollte er sich
vor etwas drücken. Da ging ein Lehrer an mir vorbei und erkannte den Flüchtling sofort. „Hallo Niklas“, grüßte er unfreundlich. „Wohin so eilig?“ „Ich muss zu Chemie!“ „Du hast gar nicht Guten Morgen gesagt.“ „Guten Morgen.“ „Schon besser“, er schnaubte verächtlich, „bist du gekommen, um deine Stunde Nachsitzen zu halten?“ „Nein“, Lars´s Gesichtsausdruck war zum Totlachen. Was hatte er bloß angestellt? „Ich war mit meiner Schwester hier, sie ist neu auf die Schule gekommen, ich war so nett und
habe sie zum Sekretariat gebracht!“, antwortete er frech. „Ach ja, seit wann hast du denn eine Schwester?“ „Seitdem seine Eltern mich adoptiert haben!“, fuhr ich dazwischen, aber ich klang keinesfalls unhöflich. „Oh, das ... äh, vergessen wir lieber. Ich bin Herr Miller, du bist bestimmt Leonie Riemke.“ „Nein, ich bin Leonie Riemke-Schmitz“, ich war immer noch ziemlich höflich. Sein Blick wanderte von mir zu Lars und wieder zurück. „Naja, dann bin ich mal“, Lars hatte Talent, sich schnell aus dem Staub zu machen. Wie sehr hätte ich auch so ein
Talent. Jetzt stand ich in dem kleinen Raum mit einem Lehrer, den ich und mein Bruder zum Tod nicht ausstehen können, und wartete auch die Direktorin, die mir meine Sachen geben sollte. Schweigend standen wir da, bis es zum Unterricht klingelte, endlich. Herr Miller verschwand schnell durch die Tür, ich sah noch, wie er sich einen Weg durch die Menge kämpfte, die sich jetzt in alle Richtungen zu den Klassenräumen hin drängte. Jetzt irrte ich schon seit mehr als fünf Minuten mit meinen Büchern im Ranzen und meinem Schulplan in der Hand
herum, und suchte meinen neuen Klassenraum. Er sollte im B-Trakt sein. Aber ich war im H-Trakt und wusste nicht, wie ich die Karte einnorden sollte. An den alten Türen, die die Trakte voneinander trennten, standen die Buchstaben und die Räume. Oje. Schließlich lief ich dann einem Mädchen, wahrscheinlich war sie in der fünften Klasse oder so, in die Arme, die mir den Weg wies. Erst hatte sie mich komisch angestarrt, dann hatte sie verwundert ausgesehen. Schüchtern und leise klopfte ich an die Klassentür, an der stand: B-Trakt Raum-
17 Klassenlehrer/in- Herr Houghton „Herein“, es war eine kalte, unhöflich klingende Männerstimme. Vorsichtig machte ich die Tür auf und schaute herein: „Entschuldigung bin ich hier richtig? Ich suche den Raum 17 im B-Trakt und die Klasse 7e. Die Klasse steht nicht an der Tür.“ „Ach, dann bist du also Leonie Riemke?!“, stellte der Lehrer fest. „Ja, bin ich viel zu spät?“, fragte ich ihn. „Nein, nein, nur zehn Minuten“, antwortete
er. „Entschuldigung!“ „Das macht nichts! Es ist doch dein erster Tag!“ Ich war froh, dass die Klasse nicht sonderlich auf mich achtete. Nur als er meinen Namen gesagte hatte, hatten drei Jungs geguckt. Die anderen hatten weiter gemurmelt und mit ihren Aufgaben weiter gemacht. Mit einer Handbewegung gab er mir das Zeichen, dass ich mich auf den freien Platz in der dritten Reihe setzten sollte. Die Tür schlug hinter mir zu, als ich auf meinen Platz stürmte, damit nicht noch mehr Blicke an mir festhalten konnten. Neben mir saß ein braunhaariger Junge,
der den Kopf mit zwei anderen zusammen gestreckt hatte. „Dann machen wir jetzt weiter ...“ Der Tag verging schnell, in den Pausen hatte Lars mich abgeholt und mir alles gezeigt. Jedes Mädchen, an dem er vorbeiging, winkte ihm zu oder lächelte verführerisch. Schon nach den ersten paar Metern drehte ich um, und entschloss mich stur vor der Klassentür zu warten. Aber gegen ihn und seinen „Hundeblick“ hatte ich keine Chance. Am Ende der Pause hatte er mich auch wieder zurückgebracht. Die Schule war eigentlich gar nicht so klein und mit 1.674 Schüler auch gar nicht so
groß. Die Flure waren verschieden gestrichen und überall hingen Plakate oder Tabellen, in die man sich für AGs eintragen konnte. An dem Sportplatz draußen kamen wir auch vorbei. Einige Jungs, auch der Junge, der neben mir saß, spielte Fußball. Alle hatten nur T-Shirts oder einen dünnen Pulli an. Ich dagegen lief mit meiner Winterjacke herum. In meiner Klasse waren nicht viele Mädchen, höchstens sechs, und die wollten anscheinend nichts mit mir zu tun haben. Lars versuchte mir einzureden, dass er nichts verbrochen hatte, aber ich traute
ihm immer noch nicht. Warum hatte der Lehrer ihn dann so angemotzt? Anscheinend wollte er aber nicht, dass Marc und Elly etwas erfuhren. Ich musste ihm auch versprechen, nichts zu sagen, es sei denn, ich wollte meinen Kopf verlieren. Und dass er wie ein wild gewordener Hund auf mich zu stürmte, konnte ich mir nur allzu gut vorstellen. Denn wie er heute Morgen gefrühstückt hatte, war ein klarer Beweis dafür! Die ersten vier Stunden waren nur Hauptfächer, die nächsten Beiden sollten Kunst sein. Ich ging meinen Klassenkameraden
hinterher und wartete darauf, dass die Klasse endlich aufgeschlossen wurde. „Hallo, ich bin Judith!“, sagte das Mädchen, neben das ich mich gesetzt hatte. „Hi, meinen Namen kennst du ja schon.“ „Ja, nicht nur aus der Schule“, als sie meinen Gesichtsausdruck über ihre Worte sah, setzte sie eine entschuldigende Miene auf. „Tut mir leid.“ „Ist schon okay, alle sehen mich schief an“, das hatte ich eher zu mir selbst gesagt, aber sie schien es verstanden zu haben. Den Rest der Stunde redeten wir gar nicht mehr, nicht weil ich beleidig war,
sondern sie. Ich verstand sie nicht, ich hätte eingeschnappt sein müssen. „Es tut mit leid, dass wir so angefangen haben!“, ein Lächeln zauberte sich plötzlich auf ihr Gesicht. „Mir auch“, wow, damit hatte ich nicht gerechnet. „Sollen wir zusammen nach Hause gehen?“, fragte sie. Verwundert drehte ich mich um. Die Klasse war leer. Ich hatte den Gong gar nicht gehört. Ich war so von ihr abgelenkt gewesen. „Ja, sonst verlaufe ich mich wieder und finde gar nicht mehr heraus!“ Sie lachte darüber, aber für mich war es
kein Witz. Aber in ihr wundervolles Lachen musste man einfach einstimmen. Sie hatte ein so wunderschönes Gesicht. Ihre grünen Augen passten zu den fast schwarzen Haaren und leuchteten so vor Freude, dass man dachte, die Augen wären beleuchtet. Ihre vollen Lippen machten aus jedem Wort ein Gesetz. © Stephi Januar 2010 Fortsetzung folgt
petjula007 Auch dieser Teil hat mir gut gefallen. Deine Art des schreibens vermittelt einem das Gefühl, die Menschen, die du beschreibst, schon lange zu kennen. Freue mich schon, wie es weiter geht. LG Petra |