2. Kapitel Das zweite Leben, ein Leben nach dem Tod Der nächste Morgen verlief wie geplant, ich war rechtzeitig fertig geworden und ließ mir meine Sachen hinunter tragen. Ich konnte eigentlich richtig gut mit den Krücken gehen, auch wenn ich nur eine Hand zum Stützen hatte. Den Verband um den Kopf hatte ich zum Glück abbekommen, aber an der Stelle, an der ich mit neun Stichen genäht wurde, war eine große Narbe entstanden. Sie verlief von meinem rechten Ohr hoch bis zum Haaransatz. Doch zum Glück sollte sie irgendwann verheilen, die Frage war nur,
wann! Pünktlich um sechs stand die Frau vom Jugendamt vor mir und staunte nicht schlecht über meine tiefe Narbe. Sie sah sehr streng aus, ihre Haare waren in einem langen Pferdeschwanz geflochten und dann zusammengeknotet wurden. Irgendwie kam es mir vor, als wäre sie aus Hänsel und Gretel entsprungen. „Hallo“, sie klang so, ich weiß nicht, ich konnte es nicht zuordnen. Dann wandte sie sich meinem Arzt zu. Lange redeten sie mit dem Rücken zu mir gewandt. Als sie dann endlich fertig waren, denn mir tat es langsam weh, die ganze Zeit
auf einem Bein zu stehen, kam die Frau auf mich zu. „Dann komm, wir fahren schnell zu dir nach Hause, wenn du das willst!?“ „Ja, bitte!“, ich probierte es so höflich wie möglich zu sagen, aber das interessierte sie wahrscheinlich nicht. Sie winkte dem Mann zu, der meine Tasche trug, jetzt setzte er sich in Bewegung und steuerte auf den Kleinbus zu, der vor der Tür parkte. „Danke“, sagte sie kalt. Sie ging um den Wagen herum und hielt mir die Beifahrertür auf. Als ich versuchte einzusteigen, schlang sie ihren Arm um meine Taille und schob mich vorsichtig in den
Wagen. „Danke“, jetzt klang ich schon nicht mehr so freundlich. Ich verstaute die Krücken rechts und links neben mir, dann legte ich erleichtert die Hände auf die Oberschenkel. Die Autotür schlug neben mir zu, ich zuckte zusammen. Jetzt startete sie den Motor, es war nicht zu überhören, dass es ein altes Auto war. Schweigend fuhren wir auf die Autobahn, es lag immer noch Schnee, wie an dem Tag, an dem sich mein Leben veränderte. Jetzt kam mir alles wieder hoch. Warum musste mir das
passieren, ich war doch so glücklich?! Andererseits wünschte ich es auch keinem anderen. Hätte ich nicht auch sterben können, dann wäre niemand traurig gewesen, außer der Familie meiner besten Freundin Mona. Mona. Die armen Eltern, Mona war ein Einzelkind und ziemlich … na ja verwöhnt. Sie lag ihren Eltern besonders am Herzen. Manchmal nervten sie so sehr, dass sie die Ferien bei uns verbringen durfte. Es tat so weh, an sie zu denken. Hätten ihre Eltern mich nicht adoptieren können? Waren sie vielleicht sauer auf mich, dass
ich Mona überredet hatte, mitzufahren? Wussten sie überhaupt Bescheid? Ich merkte, dass der Wagen langsamer wurde. Dann sah ich unser Haus. So verlassen stand es da. Sonst hatte mein Bruder immer dafür gesorgt, dass es nicht verlassen aussah. Ich atmete ungewollt laut, sehr laut aus. „Keine Angst, wenn irgendwas ist, können wir ja sofort gehen. Es zwingt dich niemand!“, jetzt klang ihre Stimme schmerzverzerrt. Sie machte sich richtig Sorgen- um mich!!! „Nein, nein, es geht schon, ich musste nur an … ach nicht so wichtig.“ „Nun gut, aber du kannst immer wieder ins
Auto!“ Schnell stieg sie aus, um mir wieder die Tür aufzuhalten. Diesmal schaffte ich es ganz alleine, aus dem Auto zu kommen. Die Frau stütze mich, als wir durch den schneebedeckten Vorgarten gingen. Mir fiel es gar nicht so schwer, wie ich gedacht hatte. Wahrscheinlich konnte ich immer noch nicht glauben, dass es kein Traum war. Die Vorstellung aufzuwachen, und meine Familie zu sehen, lebend. Ich kniff mir in den Arm. Verwunderte schaute ich auf, denn es hatte wehgetan. An der Stelle, an der ich mich gepitscht hatte, wurde die Haut langsam
blau. Meine Augen wurden größer, das konnte kein Traum sein, doch! Meine Familie konnte nicht tot sein! „Welcher der Schlüssel ist von der Haustür?“, die Frau riss mich aus meinen Wahnvorstellungen. „Der, mit dem M drauf!“, antwortete ich, ohne zu blinzeln. Ich starrte auf die Einfahrt, vor der Garage. Über dem Garagentor hing der Basketballkorb meines Bruders und an der Haustür hing immer noch der Kranz, den Mum und ich am Nikolaustag gemacht hatten. Sie schloss die Tür auf, und schloss sie sofort wieder zu, als ich im Flur stand.
Dann ging sie die Treppe hoch. „Wo ist denn dein Zimmer?“ „Links“, mehr brachte ich nicht heraus. Mit zitternden Händen griff ich nach dem Geländer. Langsam aber sicher stieg ich die Treppe hoch. Alles sah so aus, wie vor einigen Wochen. Alle Türen waren geschlossen, bis auf meine. Als ich mich mühsam weiter hochzog, erkannte ich die Bilder, an denen ich sonst immer vorbei gelaufen bin. So oft bin ich daran vorbei gegangen, ohne sie richtig wahrzunehmen. Auf dem rechten waren Mum und Dad in Paris auf ihrer Hochzeitsreise. Auf dem linken waren wir beide, mein Bruder und ich im Garten. Und auf dem in der Mitte waren
wir alle. Mum, Dad, mein Bruder, meine Oma und ich. Unsere ganze Familie passte auf so ein kleines Photo. Lange starrte ich die Photos an und wünschte mir noch einmal in dieser Zeit zu leben, als es dort noch nicht hing. Ich kam mir so leer vor, als wollte sich mein Inneres nicht mehr füllen lassen, nie mehr! Irgendwann schaffte ich es dann doch von dem Bild loszukommen und schaute zu der Frau, die im Türrahmen lehnte und mich anschaute, als wäre ich todkrank. Vielleicht war ich das sogar? Vielleicht war ich so verrückt, mir einzubilden, dass alles noch einmal so wird, wie es einmal war.
„Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst!“, ihre Stimme flog sanft von einem Ohr durchs andere. Ich humpelte auf sie zu, mit nur einer Krücke. In der anderen Hand hielt ich die drei Bilder. Alle waren eingerahmt und wundervoll verziert. Diese Bilder würden mein Trostpflaster sein. Mein Zimmer war hell, wahrscheinlich wegen des Schnees. Meine Möbel fehlten, nur meine Bücher und der restliche Kram lag herum. „Wer war schon hier?“ „Ich, mit einem Umzugswagen, deine Möbel sind schon bei deiner neuen
Familie.“ „Was ist mit meinen Büchern?“ „Wir wussten nicht, ob du alle mitnehmen möchtest, deshalb ...“ „Ich möchte alles mitnehmen, was in diesem Zimmer ist!“ Sie nickte nur stumm, dann verschwand sie aus dem Zimmer. Warum hatte sie vorhin nach meinem Zimmer gefragt, wenn sie schon einmal hier war? Ich setzte mich erschöpft auf den Boden, mein Wecker lag vor mir. Wir hatten kurz nach sieben Uhr. Wieder huschte ein Seufzer über meine Lippen. Das Zimmer war so leer. Naja, wenn man
nicht auf den Boden sah. Es war mit einem Bett und einem kleinen Kleiderschrank schon völlig zugestellt gewesen, aber vielleicht würde sich das irgendwann ändern. „Hier sind ein paar Umzugskartons!“ Ich probierte ein Lächeln, aber bestimmt gelang es mir nicht. Ich griff nach einem der Kartons und stopfte meine Stofftiere hinein. Sie bückte sich ebenfalls zu mir herunter und kramte in den Sachen, wie es aussah, sortierte sie Bücher von Zeitschriften auseinander. Als sie fertig war, sah das Zimmer schon wesentlich leerer aus. Sieben mittelgroße Kartons füllte sie allein mit
meinen Büchern, acht weitere brauchten wir für meine Schulsachen, Spielsachen und Badezeug. Meine Klamotten waren schon mitgenommen worden. „Komm, lass uns gehen, Familie Schmitz wartet auf dich!“ Ich lächelte, und dieses Mal gelang es mir. Ich freute mich ein wenig sie kennenzulernen, war aber immer noch total depressiv, weil ich wegen dieses Unfalls, diese neue Familie kennenlernen musste. Aber eins war klar, das ich ihnen für den Rest meines Lebens dankbar sein würde. „Einen Moment noch“, ich stolperte aus meinem Zimmer und ging noch ein
letztes Mal durch alle Räume, dieses vertrauten Gebäudes. Ich zog die Haustür kräftig hinter mir zu, jetzt würde ein neues Leben beginnen! Ich müsste noch einmal ganz von neu anfangen. Ich musste wieder neue Freunde finden und mich wieder an ein anderes Haus gewöhnen. Mit dem letzten Seufzer verabschiedete ich mich von meinem ersten Leben. Der Motor meckerte, wieder in Bewegung zu sein, aber nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder. Die Ärzte hatten zwar gesagt, dass es nicht weit von meinem Zuhause war,
aber inzwischen es waren schon fast vierzig Minuten Fahrzeit vergangen. Als der Wagen endlich stehen blieb, hob ich den Kopf. Doch wir standen nur an einer roten Ampel. Die Gegend hier war schön, schöner als da, wo ich vorher gewohnt hatte. Alles war so schön grün. Es herrschte wenig Verkehr und auf der Wiese direkt neben der Straße spielten ein paar Kinder Fußball. Viele Fußgänger, die meisten mit Hunden, gingen über den Bürgersteig und überquerten die Straßenseite. Ein altes Paar saß auf einer Bank auf der anderen Seite der Wiese. Die Straße, die sich endlos geradeaus zu
erstrecken schien, war von einer Baumallee umgeben. Die Ampel schlug endlich um und der Motor begann wieder zu protestieren. Wir fuhren an einigen Läden vorbei, dann waren weiter rechts und links nur Häuser. Irgendwann teilte sich die Straße in einem Kreisverkehr in sechs weitere Straßen. Hier war bestimmt der Stadtkern, da war das Rathaus und rechts daneben eine Polizeistation. Eine Schule war auch dort. Der Kirchturm kam hinter einer hohen Mauer zum Vorschein, wahrscheinlich die Mauer des Friedhofes.
© Stephi Jan. 2010 Fortsetzung folgt
parabellum Teil 2 gelesen ,ich arbeite mich jetzt durch alle Teile durch war sehr interessant freu mich schon auf Teil 3 LG Heike |