Schreib mir was!
Langsam und lautlos landete die Schneeflocke auf dem Fensterbrett bei ihren Artgenossen, wie viele vor ihr es schon getan hatten und wie viele nach ihr es tun würden. Bis alles unter einer dicken, dichten Schneedecke verschwunden war. Wenn es nicht bald aufhörte, würde wahrscheinlich ganz Balikheim im Schnee versinken, bis nur noch die Spitze des Tempelturmes aus der weißen Masse ragte. Wynna seufzte, ihr Atem lies das Glas des Fensters beschlagen. So hatte sie sich ihre schulfreie Zeit nicht vorgestellt. Ganz und gar nicht. Ihr Blick wanderte über den eingeschneiten Hinterhof auf dem der Schnee
mittlerweile schon Knöchel hoch lag. "Alles in Ordnung, Schatz?" fragte ihre Tante Magrat, die gerade an der Theke einen Krug mit Met füllte. "Mhm" antwortete Wynna. "Wieso ziehst du dir nicht deine Winterkleidung an und spielst mit den anderen etwas im Schnee?" Wynna sah ihre Tante verwundert an. Sie war schon 17 Jahre alt und abgesehen davon: "Da ist eben ein Vogel vom Himmel gefallen, er hatte Eiszapfen an den Flügeln." Lachen breitete sich im Schankraum aus. Viele Männer und Frauen aus der Stadt waren hier, sie tranken, lachten und wärmten sich an Feuer und
Met. "Warum gehst du nicht zu Arrain rüber, Wynna?" fragte Esula, die Frau des Fischers und Mutter von eben jenem Arrain. Wynna wandte sich wieder zum Fenster um ohne zu antworten, es war ihr peinlich. Letzte Woche hatte Arrain ihr gestanden das er sich in sie verliebt hatte, seitdem hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen und es vermieden an ihn zu denken. Jetzt zu ihm zu gehen erschien ihr alles andere als Weise. In der Spiegelung des Fensters konnte Wynna sehen das Esula aufgestanden war und sich den Weg zu ihr herüber bahnte, was ihr nicht sonderlich schwer
viel. Sie war eine stattliche Erscheinung. Sie gehörte zu den Frauen die ein ausgewachsenes Schwein unter dem Arm tragen konnten. "Arrain sitzt seit Tagen in seinem Zimmer und guckt nur noch aus dem Fenster. Ihr beiden unternehmt doch sonst soviel zusammen, ihr könnt doch einen Schneemann bauen. Na wie klingt das?" fragte Esula als sie sich zu Wynna durchgekämpft hatte. Ich bin der Grund warum er nur noch aus dem Fenster sieht, dachte sie sich. "Ja, vielleicht." räumte sie ein. "Na also!" lachte die Fischersfrau und schob sich eine Strähne ihres dunklen Haares zurück hinter ihr Ohr. "Aber zieh
dich gut an, es ist Kalt draußen."
Ach was.
Es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert bis Wynna sich ihre Winterkleidung angelegt hatte. Insgeheim fragte sie sich, wieviele flauschige Tiere für diese Sachen ihr Leben hatten lassen müssen. Sie zog den Gürtel zu und schlüpfte in die Stiefel, dann stapfte sie die Treppe hinunter Jeder sollte sehen das sie keine Lust hatte sich mit Arrain zu treffen. "Bis später!" rief sie in die Küche in der ihr Onkel gerade eine wärmende Zwiebelsuppe kochte. Als sie die Tür zum Hof öffnete blies ihr der Wind Schneeflocken
entgegen. Irgendwann werde ich weit weg reisen, an einen Ort an dem es immer warm ist. Immer!, knurrte Wynna innerlich vor sich hin während sie eine Strähne ihres blonden Haares zurück unter ihre Mütze schob während sie langsam durch den knarzenden Schnee ging. "Wynna!" ihr Onkel hatte ohne das sie es bemerkt hatte noch einmal die Tür geöffnet. Sein rundlicher Umriss zeichnete sich vor den Licht der Lampen ab , "Sei bitte bis zum Dunkelwerden wieder daheim!" Mit einem Rumms schloss sich die Tür wieder, bevor Wynna die Chance gehabt hatte irgendetwas zu
antworten. Dann hatte sie jetzt gute fünf bis sechs Stunden ehe wieder hier sein musste. Sehr viel Zeit wenn man sie mit jemandem verbringen sollte den man eigentlich garnicht sehen wollte. Der Schnee fiel immer noch in rauen Mengen vom Himmel, eine Flocke landete zielsicher auf Wynna's Stupsnase. Murrend fuhr sie sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über ihre Nase, sie mochte den Winter einfach nicht. Das einzig gute daran war die Schneewendnacht in der es Geschenke gab. "He da, kleines Fräulein, wohin an so einem kalten, verschneiten Tag?" grüßte sie Oleg, der gerade mit einer gewaltigen
Schaufel Schnee vom Gehweg des Dorfplatzes schippte. Die Schaufel passte zu ihm, Oleg selbst war nicht weniger gewaltig. In der dicken Winterkleidung wirkte er sogar noch größer und imposanter. "Ich besuche Arrain, wie geht es Celik?" fragte Wynna und versuchte bei der Frage normal zu wirken, trotzdem befürchtete sie dass Oleg bemerkten könnte das sie nicht einfach nur aus reiner Höflichkeit fragte. "Der ist in der Schmiede und versucht sich an einem Schmuckstück. Er sagte mir zwar nicht für wen es ist, aber es sieht bis jetzt ganz gut aus." "Oh!" antwortete Wynna. War das
Schmuckstück, dass der Sohn des Schmiedes dort gerade herstellte, für sie? Ein Geschenk zur Schneewendnacht? Wynna's Herzschlag beschleunigte sich ob des Gedanken, sie konnte spüren wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. "Grüß ihn von mir, ich muss weiter!" sagte sie. Wynna wollte nicht das Oleg erkannte das sie für Celik schwärmte, das ging niemanden außer Ihr etwas an – und vielleicht Celik. "Bis dann." sagte der Schmied und fuhr damit fort den Schnee vom Pflaster der Straße zu Schaufeln. Wynna musste lächeln, sie konnte einfach nicht anders. Celik Olegson
fertigte gerade ein Schmuckstück an, vielleicht für sie, zumindest wünschte sie sich das inständig. Für wen auch sonst? Na ja...eigentlich gab es da so einige; Cylia die Tochter des Bürgermeisters. Dann waren da noch Anna, Irina und Djiori. Mehr junge Frauen an denen Celik Interesse haben könnte gab es in Balikheim nicht. Alle anderen waren entweder viel zu Jung für ihn oder so alt das sie seine Mutter sein konnten. "He, Blondschopf!" Wynna war so in Gedanken gewesen das sie gar nicht bemerkt hatte das sich die Tür der Schmiede gerade geöffnet hatte. "Wa-was?" Wynna taumelte, suchte ihr
Gleichgewicht, doch statt es zu finden fiel sie mit dem Gesicht voran in den Schnee! Celik's Lachen dröhnte trotz des Schneegestöbers über den ganzen Platz. "Du bist so ein Tollpatsch!" prustete er während er sich auf den Oberschenkel schlug. "Hilf mir bloß nicht auf!" zische Wynna während sie sich aufrappelte. Celik stand nur mit einem dünnen Hemd und einer Lederhose bekleidet in der Tür der Schmiede, Schweiß perlte auf seiner Stirn und auf seinem, wie Wynna gestehen musste, ansehnlichem Körper. Das einzige was den Anblick etwas schmälerte war das schadenfrohe
Grinsen in seinem Gesicht. "Wo willst du denn bei dem Wetter hin?" fragte er nachdem er sich den Lachanfall überwunden hatte "Ich besuche Arrain." antwortete Wynna knapp. "Oh, gut, könntest du mir einen Gefallen tun?" "Kommt ganz drauf an." Celik sah sich auf dem Platz um, aber abgesehen von Ihm, Wynna und seinem Schnee schaufelnden Vater war niemand zu sehen. "Ich habe hier etwas, aber ich bin mir nicht sicher ob es wirklich...warte kurz, ich hole es." und verschwand in der nur vom Licht der Glut erhellten
Schmiede. "Das hier, habe ich gemacht, wie gefällt es dir?" fragte er nach einem kurzen Moment. Wynna hielt den Anhänger in Händen, er war einfach wunderschön. Ein Herz aus Kupfer geformt das von einer drachenartigen Schlange umschlungen war. "Ein wenig...na ja...ein Herz? Ich weiß nicht. Aber die Schlange ist ganz Hübsch." Celik verzog das Gesicht, "Einer normalen Frau wird das Herz wohl gefallen, oder jeder Frau die so etwas selbst in ihrer Brust schlagen hat." "Eh! Was soll das denn heißen?!" schrie
Wynna auf.
"Das du keine normale Frau bist!"
"Pfft!"
Wynna warf den Anhänger in den Schnee und stapfte wütend davon, zumindest gab sie sich Mühe wütend zu stapfen, der Schnee machte es ihr nicht einfach..
"Ich wollte damit nur sagen..." begann Celik hinter ihr.
"Ach!" machte Wynna abfällig, dann war sie auch schon um die nächste Ecke und auf dem Weg hinunter zu den Docks, an denen das Haus von Arrain's Familie lag.
Langsam aber sicher lies der Schneefall nach, dafür nahm der Wind zu. Eine Böe fauchte über Wynna hinweg und ließ sie
trotz ihrer Kleidung frösteln, in der ferne hörte sie das Rauschen des Meeres und das Krächzen der Möwen. Wirklich ein großartiger Einfall, Esula. Sie hätte einfach unhöflich sein sollen. Sie hätte sagen können das sie bei der Kälte nicht raus wollte, das sie Arrain nicht sehen wollte, oder das sie sich Krank fühlte aber stattdessen war sie jetzt hier in der Kälte, vor dem Haus des Jungen mit dem sie gerade absolut nicht reden wollte – zumindest hatte sie sich das eingeredet. Aber die Wahrheit war, sie vermisste Arrain, er war seit ihrer Jugend ihr bester Freund gewesen. Bis vor einer Woche. "Arrain! He!" rief sie, keine Reaktion,
"Hallo?" Na warte. Einen Moment später segelte ein Schneeball durch die Luft und zerbarst mit einem lauten Batsch an Arrain's Fenster. Jetzt musste sie nur warten bis... Das Fenster wurde aufgerissen und Arrains' Oberkörper erschien in der Öffnung. "Sag mal geht's noch?!" rief er. "Mir geht es bestens, abgesehen davon, das deine Mutter fand, dass es eine gute Idee wäre wenn wir etwas Zeit miteinander verbringen!" Arrain schnaubte, "Und? Was interessiert mich das? Ich will dich nicht
sehen!" Wynna seufzte, so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie wusste das sie Arrain Schmerz zugefügt hatte als sie ihn zurück gewiesen hatte, aber was sonst hätte sie tun sollen? Sie kannte den jungen Mann mit den kurzen braunen Haaren und den dunkel-braunen Augen jetzt schon seit mindestens fünzehn Jahren. Soweit sie sich eben zurück erinnern konnte und er war immer ihr bester Freund gewesen. Sie hatten zusammen so viele Dinge erlebt, gelacht, geweint. Das sollte jetzt alles vorbei sein? Nicht wenn sie da noch etwas mitzureden
hatte. "Hör zu, bitte. Es tut mir leid. Was soll ich denn noch sagen?" Arrain starrte immer noch zu ihr herunter, aber sie glaubte zu sehen das in den Augen weniger Zorn war als noch bei ihrem letzten Aufeinander treffen. "Ich kann doch nicht kontrollieren was mein Herz fühlt, Arrain. Lass uns wieder Freunde sein, bitte! Lass mich nicht betteln!" Arrain seufzte und schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht ob das einfach so geht, Wynna." "Warum versuchen wir es nicht einfach? Wenn es nicht funktioniert, musst du nie wieder mit mir
reden." "Wir sitzen in der Schule nebeneinander, Wynna." "Komm schon! Sei kein glitschiger Quaker!" "Wynna..:" "Quak! Quaaaaak!" entgegnete die junge Frau grinsend. "Ich zieh mir was Richtiges an, bis gleich." "Ach, Arrain?" rief Wynna, gerade als der junge Fischerssohn sich umgedreht hatte um sich seine Winterkleidung zusammen zu suchen. "Wa-" begann er. Batsch! Der Schneeball traf ihn mitten in sein Gesicht. Unter Wynna's schallendem
Gelächter schloss er das Fenster und verschwand im inneren seines Zimmers. Während Wynna wartete setzte der Schneefall wieder ein, sie hoffte wirklich das sie sich wieder mit Arrain vertragen würde, die letzten Tage ohne ihn waren langweilig gewesen. Er war ihr bester Freund, und sie liebte ihn, aber nicht so. Sie fühlte sich schlecht deswegen, auch wenn das eigentlich vollkommen verrückt war, aber es war so. Arrain hatte sich in die verliebt, sie hatte ihn zurück gewiesen und ihn damit verletzt. Eigentlich sollte man jene Menschen die einem wichtigen sind vor Schmerz beschütze und sie ihnen nicht zufügen,
aber eine andere Wahl hatte sie nicht gehabt, oder? Während sie so darüber nach dachte schälte sich den Weg hinunter die vertraute bullige Gestalt ihres Mentors Haggard aus dem Schneetreiben. Schnaufend und mit schweren Schritten ging er den von Schnee und Eis heimgesuchten Weg hinauf, als er sie erblickte zog er die Augenbrauen zusammen. "Was treibst du denn hier? Du holst dir ja den Tot, Kind'chen!" "Arrain's Mutter meinte ich sollte mal wieder etwas Zeit mit ihm verbringen, und was machst du hier?" "Die Seeluft tut meinen alten Knochen
gut, Kleines." Wynna nickte, Haggard war alt, er war mindestens 50, wenn nicht sogar noch etwas älter, das sah man ihm auch an. Soweit sich Wynna noch erinnern konnte, hatte Haggard mal lockiges, dunkles Haar gehabt, davon war heute nicht mehr viel übrig. Dafür pflegte er mittlerweile einen dichten Backenbart der sich ebenso lockte wie es vor vielen Jahren noch die Haare auf seinem Kopf getan hatten. "Und was treibt ihr Kinder? Wenn ich fragen darf?" sagte er zwinkernd. "Haggard!" "Was denn?" gluckste der alte Krieger und hielt sich seinen dicken
Bauch. Wynna schlug ihm auf den Oberarm, was den alten Mann nur weiter zum lachen anstachelte. "So hab' ich dir das aber nich' beigebracht, Prinzessin." unkte er. "Es darf ja auch keiner wissen das du mich das kämpfen lehrst, mh?" Haggard nickte, "Wir sehen uns nachher im 'Lachenden Fischer', kleines. Onkel Haggard muss weiter, bis dann., Wynna. Pass auf die kleine auf, Arrain!" Wynna wandte sich um, Arrain zog gerade die Tür hinter sich zu. Das Lächeln in ihrem Gesicht verblasste langsam, Arrain sah nicht gut aus. Er war blass, sein Gesicht wirkte teigig und
seine Augen sagte das er nicht sonderlich gut schlief. "Du siehst schrecklich aus." sagte sie offen heraus. "Nett wie eh und je." antwortete er ohne sich bisher auch nur einen Schritt von der Tür entfernt zu haben. "Also, was machen wir?“ Wynna öffnete den Mund um zu antworten und schloss ihn wieder, darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. "Ich...also." begann sie. Arrain verdrehte die Augen, "Kann ich solange wieder reingehen? Du kannst ja klopfen wenn dir etwas eingefallen ist." "Nein, warte!" Wynna's Gedanken
überschlugen sich. Was konnte man zu dieser Jahreszeit machen? Schwimmen kam nicht in Frage, das Wasser war im selbst in der wärmeren Jahreszeit unangenehm Kühl, jetzt musste es eisig sein. Sie konnten wie Esula gesagt hatte einen Schneemann bauen, aber irgendwie war das auch nicht das richtige. Dann kam es Wynna. "Wir gehen in den Wald!" sagte sie lächelnd. "In den Wald? Bei dem Wetter?" ächzte Arrain. Wynna nickte, "Weißt du noch was wir damals gemacht haben? Als wir das erste mal zusammen ausgerissen sind?" "Oh nein. Du willst doch wohl
nicht..." "...in die Höhle des toten Reissers, ganz genau!" Arrain gab ein gequältes Geräusch von sich, der Ausflug in die Höhle hatte ihm damals schon nicht gefallen. Aber dort waren sie zu besten Freunden geworden, dieses kleine Abenteuer hatte untrennbar gemacht, vielleicht funktionierte das ganze ja ein zweites mal.
Nach gut einer Stunde waren Wynna und Arrain bereits aus der Stadt heraus und ein gutes Stück im Wald der an Balikheim grenzte. Der Duft von Zedernholz lag in der Luft und vermischte sich mit dem frisch
gefallenen Schnees. Sie hatten seit sie aufgebrochen waren nicht viel geredet, Wynna hatte zwar mehrfach versucht Gespräche zu beginnen, aber mehr als ein 'Mh', „ Ja“ oder „Nein“ hatte sie Arrain nicht entlocken können. Die ganze Situation erschien ihr dumm. Sie kannten einander fast ihr ganzes Leben, gute Freunde waren sie seit mehr als zehn Jahre , jetzt gingen sie hier durch den Wald und redeten kaum miteinander. "Sollten wir nicht schon längst dort sein?" murrte Arrain nach einer Weile. Wynna schüttelte den Kopf, "Es ist da hinten, siehst du?". Tatsächlich lag einige Meter weiter vorne ein Graben und dort, so erinnerte
sich Wynna, lag die Höhle des toten Reissers. Als sie damals über das Skelett des Tieres gestolpert waren hatten sie sich aneinander geklammert und geschrien wie kleine Kinder. Der Schnee hatte die steinigen Wände der Grube glitschig werden lassen, ein falscher Schritt , ein schlechter Griff und sie konnten abrutschen und sich sämtliche Knochen im Leibe brechen. "Pass bloß auf, ich habe keine große Lust deinen zerschundenen Körper nach Hause zu tragen, Arrain." "Pah, mach dich nicht lächerlich, wer ist auf dem Weg hierhin alle paar Meter ausgerutscht?" Wynna musste lächeln, das war ihr
Arrain der da sprach, vielleicht bestand doch noch Hoffnung. Ihr Fuß tastete nach dem nächsten Halt auf der grau-braunen Wand, doch da war nichts. Es gab keine Möglichkeit für sie weiter hinunter zu klettern. Oh, verdammt. Sie warf einen Blick über die Schulter, es war nicht mehr weit, der Boden war vielleicht noch einen Meter entfernt. Das war kein Problem für sie, also stieß sie sich von der Wand ab. "Was machst du denn?!" schrie Arrain. Es war mehr als ein Meter, viel mehr. Leider bemerkte Wynna das erst als sie bereits abgesprungen war. Sie landete unbeholfen und um ihr
Gleichgewicht kämpfend auf dem steinigen Boden der Grube, der unter jedem ihrer Schritte knirschte. Die Schwerkraft gewann den Kampf und Wynna landete mit den Händen voran auf dem Boden. "Wynna!" "Mir ist nichts passiert, alles in Ordnung." ächzte sie während sie sich langsam wieder aufrichtete, den Schnee von ihrer Kleidung schlagend. "Du bist echt verrückt, weißt du das?" griente Arrain als er kurz darauf neben ihr ankam. "Kommen wir da gleich auch wieder rauf?" Wynna nickte und zuckte gleichzeitig die Achseln, "Wenn nicht da, dann an einer
anderen Stelle." Die Grube war groß und nicht überall waren die Wände so steil wie hier wo sie herunter gestiegen waren. "Hätten wir uns dann nicht eine etwas einfachere Stelle suchen können um herunter zu klettern?" Wynna sah ihren besten Freund skeptisch an, "Sind wir Abenteurer oder kleine Mädchen?" "Kleine Mädchen. Mit Zöpfen." sagte Arrain und begann laut zu lachen, Wynna konnte nicht anders als ebenfalls zu lachen. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten gingen sie weiter, irgendwo in einem der Seitenarme der Grube war die Höhle.
Also gingen sie los, nach einer Weile trennten sie sich um die Grube schneller durchsuchen zu können, bis sich etwas um Wynna’s Knöchel schlang und sie straucheln lies. Es war ein Knochen gewesen der sie hatte stolpern lassen. Sie besah ihn dich genauer, aber Wynna konnte nicht sagen ob es sich um einen Tierknochen handelte oder... "Alles in Ordnung?" fragte Arrain hinter ihr. Wynna nickte und erhob sich wiederr,mit etwas Glück würde Arrain den Knochen nicht bemerkten. Wenn er ihn bemerkte, da war Wynna sich sicher, würde er sofort umkehren wollen. "Das hier
kommt mir bekannt vor, ich glaube wir sind ganz in der Nähe." Als sie um die nächste Ecke bogen blieb Wynna abrupt stehen, sie hatten die Höhle gefunden. Die Höhle und jede Menge... "Oh, ihr Götter." ächzte Arrain. Der komplette Seitenarm des Grube war mit Knochen übersät, auf die langsam der Schnee rieselte. "Wir sollten sofort verschwinden, Wynna. Sofort." Sie schnaubte, "Stell dich nicht so an, das sind doch nur Knochen, die tun dir nichts!" "Aber derjenige der ihre Besitzer getötet und gefressen hat! Bitte,
Wynna!"
"Bei Gubhat's blutiger Klinge, stell dich nicht so an Arrain! Welches Tier auch immer das war, entweder es ist fort, oder im Winterschlaf."
"Oder in der Höhle!"
"Geh, wenn du willst, ich habe hier noch etwas zu erledigen." sagte sie und ging in die Höhle, sie sah sich nicht noch einmal um, sie wusste das Arrain ihr folgen würde
Die Höhle war genauso trostlos und karg wie Wynna sie in Erinnerung hatte, nichts deutete darauf hin das hier etwas lebte, oder in letzter Zeit gelebt hatte. Vielleicht waren die Knochen vor der
Höhle auch einfach von ein paar Jägern herunter geworfen worden. "Wir sollten nicht hier sein." "Warum flüsterst du?!" Arrain zuckte zusammen und sah sich um. "Was ist, wenn doch etwas hier ist." Wynna seufzte, "Um sicher zu gehen, werden wir uns die ganze Höhle angucken, in Ordnung?" Die Kinnlade des jungen Mannes klappte herunter, das hatte er damit nicht gemeint. Die grauen kalten Steinwände waren zum Teil von einem dunkelgrünen Pilz bewachsen, der sich stellenweise bis auf den Boden erstreckte auf dem sonst nur Staub und ein wenig Geröll herum lagen.
Etwas weiter hinein weitete sich die Höhle aus, dort hatten sie damals die Knochen des Reissers gefunden, Wynna bereute es bis heute das sie keinen der Zähne mitgenommen hatte, niemand hatte ihr den Fund geglaubt. Ein kleines Mädchen das in eine schaurige Höhle mitten im Wald klettert und dort die Knochen eines gefährlichen Raubtieres findet? Ja, sicher. Warum gehst du nicht und spielst mit deinen Puppen, wie die anderen Mädchen auch? Wynna schnaubte, dieses mal würde man ihr Glauben. Dieses mal würde sie einen der gewaltigen Hauer des Reissers mitnehmen, koste es was es wolle. "Komm." sagte Wynna und ging
zielstrebig in den nächsten Abschnitt der Höhle. Dieser war so gewaltig das dass Ende irgendwo in der Dunkelheit lag. Sehen konnte sie es nicht, aber das war jetzt auch völlig egal. Was sie sah waren die Knochen die nach all den Jahren immer noch genau dort lagen wo sie sie damals gesehen hatte. "Riechst du das?" flüsterte Arrain, "Wie nasser Hund." Wynna sah ihrem Freund in die Augen, "Ich werde mich vor nassen Hunden in acht nehmen, versprochen." "Du willst da runter?!" Wynna nickte, "Da unten ist nichts Arrain, nur Knochen und Steine.". Um von der erhöhten Position an der sie sich
befand hinunter zum Skelett des Reissers zu kommen musste sie einen Geröllhaufen hinunter klettern. Das der ganze Steinschutt wahrscheinlich mal Teil der Decke gewesen war beunruhigte sie leicht. "Ich klettere da hinunter, hole einen Zahn und dann können wir gehen.", leiser fügte sie hinzu; "Dann sagt keiner mehr das ich mit Puppen spielen soll." "Was war das?" fragte Arrain. "Gar nichts!" Der Weg nach unten war anstrengender und länger als Wynna ihn eingeschätzt hatte, mehr als einmal drohte ein Stein unter ihrem Gewicht wegzurutschen und eine Lawine auszulösen, oder sie mit in
die Tiefe zu reissen. Am liebsten hätte sie sich die wärmende Kleidung vom Leib gerissen, allerdings erschien Ihr dieser Einfall in ihrer Situation doch eher weniger sinnvoll. "Du hast es gleich geschafft." wisperte Arrain von oben. Wynna hatte das Gefühl das ihr der Schweiß aus jeder Pore lief, wenn sie zurück in der Stadt war würde sie sich erst einmal Wasser erhitzen und ein Bad nehmen. Dann war sie endlich unten, es fühlte sich unbeschreiblich gut an wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, Boden der nicht jeden Moment unter einem wegrutschen konnte. Um Arrain zu
zeigen das sie in Ordnung war hob sie den Daumen und nickt ihm zu. Hier unten bemerkte sie den Geruch auch, es stank geradezu nach nassem Tier. Sie schüttelte den Kopf um den Gedanken loszuwerden und ging zum Skelett des Reissers. Wynna hatte noch nie eines dieser Tiere lebendig gesehen, aber sie mussten ein unglaublicher Anblick sein. Dieses Exemplar war von Kopf bis Fuß mindestens so lang, wie ein normaler Mensch groß war. Die starken Pranken waren selbst in Knochenform noch furchteinflößend, dazu brauchte es nicht mal den langen, spitzen Schädel mit den langen Hauern in Ober- und
Unterkiefer. Wynna griff nach einem der langen Stoßzähne, er würde sich bestimmt lösen wenn sie nur fest genug daran- "Autsch!" Wynna riss ihre Hand von dem Zahn zurück, er war immer noch scharf wie eine Klinge. "Alles in Ordnung da unten?" hörte sie Arrain rufen. "Ja, nur ein kleiner Kratzer." rief sie zurück. Etwas schnaufte. Wynna erstarrte, hatte sie das gerade wirklich gehört? Langsam und so leise wie es ihr möglich war drehte sie sich um. Da war noch ein Reisser, ein lebendiger.
Neben diesem Exemplar sah der Knochenhaufen zu ihren Füßen wie ein Jungtier aus. Kalipay steh mir bei, schenk mir etwas Glück. dachte Wynna während sie langsam, ohne den Blick von dem riesigen Tier abzuwenden, zurück zum Geröllhaufen ging. Sie konnte den Blick einfach nicht von diesem Monstrum abwenden das dort zusammen gekauert neben einem Felsen lag. Deswegen hatte sie es nicht gesehen, der Reisser hatte graues, gestreiftes Fell was ihn in dieser Umgebung geradezu Unsichtbar machte. Der lange Schädel mit den messerscharfen Zähnen und die riesigen
Pranken wirkten jetzt noch viel furchteinflößender. So furchteinflößend das Wynna sogar den Schmerz in ihrer Hand vergessen hatte, bis sie begann das Geröll empor zu Klettern. Wieder schnaufte der Reisser. Nein, korrigierte sich Wynna in Gedanken, das ist kein Schnaufen, er schnüffelt Sie sah auf den immer noch blutenden Schnitt auf ihrer Handinnenfläche, dann zu der Blutspur die sie gelegt hatte. "Arrain." flüsterte sie. "Da ist noch einer, wir müssen hier raus." "Was? Sprich lauter, ich versteh kein Wort!" rief er ihr entgegen. Die Ohren des träumenden Reissers zuckten, wieder erklang das Schnüffeln in der
Tiefe. Der Weg nach oben kam Wynna plötzlich hundert mal so lang vor, es war bestimmt kein Problem für dieses Tier mit einem gewaltigen Satz den kompletten Schutt zu überspringen. "Wir müssen hier sofort-" der Rest ging in in einem schrillen Aufschrei unter. Der Steine auf den Wynna gerade ihr Gewicht verlagert hatte war weg gerutscht und polterte jetzt lautstark den Hang hinab. Mit entsetztem Blick verfolgte Wynna den Stein. "Nein," wisperte sie. Der Stein schlug auf dem Felsboden auf und zersplitterte, einer der Brocken flog senkrecht nach oben, einer nach links weg, ein weiterer
kullerte auf der Stelle. Der Blick der jungen Frau saugte sich an dem durch die Luft sirrenden Stein fest. Er fiel, direkt auf dern schlafenden Reisser zu. Wynna konnte Arrain nach Luft schnappen hören, jetzt hatte auch er das Tier gesehen. "Oh bitte, Ihr Götter." sagte er. Der Stein schlug auf, eine Armlänge von der Bestie entfernt und sprang weiter... "Danke." seufzten beide ...nur um dann mitten in das Skelett des toten Reissers einzuschlagen. Das Klirren und Bersten der brechenden Knochen riss die schlafende Bestie entgültig aus ihrem Winterschlaf. Spitze Ohren richteten sich auf um den Lärm zu
Orten, kleine grüne Augen sahen sich erschrocken und irritiert um. Wynna konnten den Blick nicht abwenden, sie hoffte das er Reisser sich sofort wieder hinlegen würde um weiter zu schlafen, allerdings schien das Tier daran gerade kein Interesse zu haben. Langsam, sich misstrauisch umsehend erhob es sich, dann ging es einige Schritte in Richtung des Skelettes und schnüffelte ausgiebig dort herum. "Wynna, kletter weiter, sonst enden wir als Winterschlafsleckerei für das Monster. Du hast es gleich geschafft.“ Wynna konnte nicht, ihr Blick folgte gebannt dem Reisser, der weiter schnüffelte, bis er mit der Nase am
Stoßzahn des Skelettes angekommen war. Er roch Wynna's Blut und sah sich um. Dann sah er zu ihr, mit seinen kleinen, für ein wildes Tier viel zu intelligenten Augen. Sein Blick bohrte sich in den Ihren. Dann rannte er los. "Wynna verdammt!" schrie Arrain und streckte ihr seine Hand entgegen. Endlich erwachte sie aus ihrer Erstarrung, Adrenalin pumpte in ihr Blut, sie kletterte den Schuttberg hinauf so schnell es ihr möglich war, trotzdem konnte sie geradezu spüren wie die Bestie aufschloss. Dann endlich erreichte sie Arrain, seine Augen waren vor Schreck geweitet als Wynna seine Hand ergriff. Als er sie mit
einem kräftigen Ruck zu sich herauf riss sah sie zurück. Innerhalb dieser wenigen Sekunden hatte der Reisser sie eingeholt, seine gewaltigen Kiefer schnappten zusammen und verfehlten ihren Knöchel nur um Haaresbreite. Knurrend suchte das rasende Tier nach Halt auf dem Geröllhaufen. Grollend rutschte der Reisser zurück als seine gewaltigen Pranken keinen halt auf den Steinen fanden und die sicher geglaubte Beute aus seiner Reichweite verschwand. "Das ist unsere Chance, raus hier!" schrie Arrain und schubste Wynna vor sich her, "Los! Er ist direkt hinter uns!" Das vom Schnee reflektierte Licht blendete sie für einen Moment, so dass
sie fast Blind voran stolperten, doch das Brüllen und Poltern in der Höhle hinter ihnen lies sie trotzdem immer weiter laufen. "Dort! Da kommen wir rauf!" rief Arrain und deutete ein eine Wand die leicht erklimmbar wirkte. Wynna sah zum Eingang der Höhle, die Bestie musste jeden Moment herausstürmen, und dann würden sie sterben. Egal wie schnell sie kletterten, egal wie schnell sie rannten, es würde sie töten. Sie hatten sich in seinen Bau geschlichen und es geweckt. Die Götter wussten wovon so ein Wesen träumte, aber es war bestimmt nicht glücklich darüber geweckt worden zu sein, bevor sein Wunterschlaf vorbei
war. Nichts geschah. Wynna stieg an der Wand der Grube hoch so gut es ihr mit der verletzten schmerzenden Hand möglich war, wieder sah sie zurück. Nichts. Als sie endlich mit klopfendem Herzen oben angekommen war und sich auf den Boden sinken lies, trat der Reisser aus der Höhle. Im Licht sah er noch viel Eindrucksvoller aus als im schummrigen Zwielicht der Höhle. Er verfolgte sie nicht, sie hatten seine Höhle verlassen und waren damit keine akute Bedrohung für ihn. Sie würden Leben, vorerst. Aber diese Augen. Er starrte sie regelrecht an. Nur sie, nicht
Arrain.
Sie war sich sicher, würde sie diesem Tier je wieder begegnen, würde es bestimmt nicht soviel Gnade walten lassen.
"Weißt du was ich mich wirklich Frage, Wynna." japste Arrain der mit dem Rücken im Schnee lag und genauso erschöpft aussah wie Wynna sich fühlte.
"Was denn?" fragte Wynna. Der Reisser verharrte noch einen Moment, dann verschwand er wieder in seiner Höhle.
"Wie du die letzte Woche ohne mich überlebt hast."