Geschichten über Land und Leute
Durch den milchigen Frühnebel, der sich geschmeidig und immer noch in Brusthöhe durch das Dorf zieht, kämpfen sich die unsichtbaren Frequenzen gellender Schreie.
Jagdrufe? Schlachtrufe?
Die für jedes normale Trommelfell ungesund hoch angesiedelten Töne überzeugen auf jeden Fall auch den letzten Dorfbewohner davon, das Robert, der Junge, der schneller erwachsen werden musste als seine Eltern, nicht sehr weit entfernt sein kann.
Und dann taucht er, die letzten
Nebelreste unbarmherzig beiseite fetzend auf, um beim ersten Nachbarn, der ihm begegnet Halt zu machen.
Während He, Alter, na, wie gehts, was machst du, ich bin schon seit 6 Uhr am Arbeiten und habe jetzt noch was zu erledigen, den amüsierten aber letztlich auch überforderten Nachbarn davon überzeugen, das er auch später zum Briefkasten hätte gehen können, rutscht das wie von einem Motor betriebene Kind von seinem Fahrrad und zieht den Knoten der Strippe fester, die seinen Eigenbauanhänger festhält.
Aus jeder Tasche seines blauen, überdimensional großen Schlosseranzuges von BMW, den vor ihm
mindestens schon 20 längst entlassene Mechaniker getragen hatten, von denen aber keiner auch nur annähernd so stolz auf diesen waren, wie dieser wortsprudelnde kleine Junge, lugt irgendein Werkzeug hervor, das in jedem Eisenwarenantiquariat nur noch einen befristeten Aufenthalt bekommen hätte.
Während er dem Nachbarn nun das Tor aufhält und wie eine Maus mit durch das Tor schlüpft, erzählt er diesem auf seinen Hänger zeigend, auf dem ein altes Brett unter einer noch älteren Kettensäge eingequetscht liegt, das er auf dem Wege zu U. sei, um ihm Holz zu bringen, welches er höchstpersönlich dort zersägen würde, damit besagter U.
seine neu installierte Hochdruckkesselanlage anheizen könnte. Schließlich müsse man sich ja helfen unter Nachbarn.
Der wie ein Sturm über das Dorf hereinbrechende kleine Kerl, der in einer Minute mehr Worte zu einem bunten Chaos zusammen fügt als ein Physikprofessor während eines vierstündigen Seminars, ist neben all der Anstrengung, die er hinterlässt aber auch ein liebenswerter kleiner Kerl, der auf jedem Hof schon seine Spuren hinterlassen hat.
Wie ein Derwisch steht er plötzlich auf dem Hof und ohne ein zeitaufwendiges Frage und Antwort Spiel packt er dort
mit an, wo auch Hilfe gebraucht wird.
Dabei fallen ihm Worte wie Ameisen aus dem Mund, die er zu einem Bericht über seine Erfahrungsschätze aus seinen mindestens schon 12 hinter ihm liegenden Leben zusammen fügt.
Seiner locker und lässig hervor gezauberten Phantasie sind keine Grenzen gesetzt und ließen jeden verzweifelten Romanschreiber, der in seiner verrauchten Kammer nach Worten ringt vor Neid erblassen. Unter anderen, günstigeren Voraussetzungen als jene, in die er aber nun einmal hineingestoßen wurde, hätte er einer der führenden Politiker unseres Landes werden können.
Ob nun bei U. oder B. oder R. bei jedem
hat er schon mindestens einmal Rasen gemäht oder Holz gestapelt oder Unrat beiseite geräumt.
Das Dulden seiner Anwesenheit, die Akzeptanz seiner Persönlichkeit und seiner damit eng verbundenen Tatkraft ist ihm dabei Lohn genug. An einem anderen Ort werden ihm diese Dinge leider nicht zuteil.
Aber wer ihn dennoch mit der Teilnahme an einer Mahlzeit oder auch nur mit einem Stück Kuchen belohnt, dessen nächste Wachstumsperiode seiner Rasenfläche wird von Robert mit Sicherheit wieder im Keim erstickt werden.
Kurz gesagt: Er ist eine Reliquie des Dorfes
er gehört dazu wie die Kirche, die das Dorf einst beschützte, bevor aus purem Desinteresse heraus ihr Dachstuhl immer baufälliger wurde.
Er gehört dazu wie die Katzen, die neugierig durchs Dorf spazieren oder die Hunde, die bassbellend ihr Revier verteidigen.
Er gehört dazu wie die Menschen und Häuser, die das Gesicht des Dorfes prägen und die tiefe Narben hinterlassen würden, wenn sie fort wären.
Gegen Abend aber, wenn die abendroten Wangen des Himmels das Gesicht des Dorfes verändern, verändert sich auch das Gesicht des kleinen liebenswerten Jungen.
Hunderte Kraniche ziehen über die Häuser hinweg zu ihrem Nachtlager an den See und tief unter ihnen steht ein kleiner verwunschener Bettelprinz und fleht sie an, ihn doch mit zu nehmen.
Würde er die Geschichte vom Däumelinchen kennen, hätte er sich sicherlich tief hinein in den Bau des Maulwurfs gewünscht, um nicht die jetzt das Halbdunkel zerreißende, Glas sprengende Stimme hören zu müssen, die, scheinbar direkt aus dem Jenseits kommend und den zauberhaften Gesang der Kraniche übertönend seinen Namen rief.
Alle verlorenen Jahre mit allen dazugehörigen Abertausenden verlorenen
Abenden ziehen an seinem geistigen Auge vorüber und geduckt geht er der lauter werdenden Stimme der Zeitlosigkeit entgegen, schlüpft in sein nächtliches Verließ, das er am nächsten Morgen in aller Frühe wieder verlassen wird, um in einen neuen helllichten Tag zu flüchten, einer neuen Hoffnung, einem neuen Leben entgegen.
Und wieder wird ein blauer Schlosseranzug von BMW, einen lächelnden Jungen in sich bergend, einen Rasenmäher über die Wiese irgendeines Grundstückes schieben.