Keine Tränen! Das hatte ich mir fest vorgenommen. Warum auch? Das neue Domizil meiner Tochter liegt ja nur einen Steinwurf von ihrem Elternhaus entfernt in Sicht-, bei Aufenthalt im Garten sogar in Rufweite beziehungsweise -nähe. Und auch wenn meine Tochter nicht zur Fraktion derer gehört, die mit einem Handy am Ohr geboren sind, so versorgt sie bei Abwesenheit ihre Mutter doch gerne mit der einen oder anderen Short Message, bei größeren Katastrophen wird auch mal zum Telefonhörer gegriffen. Kontaktabriss brauchte ich also nicht zu befürchten. Darüberhinaus hatte sie das letzte halbe Jahr ohnehin nur noch
sporadisch zu Hause genächtigt, vorzugsweise dann, wenn Wäschewechsel anstand oder ihr Speiseplan mal wieder „etwas Gesundes“ vertragen konnte. Ich war sozusagen bereits teilentwöhnt und es gab für mich daher keinen Grund, dem Tag nicht gelassen entgegenzusehen, an dem das Küken den elterlichen Fittichen entschlüpfen und gemeinsam mit dem Freund das neu eingerichtete Nest beziehen würde. Im Gegenteil …
So ein ganz kleines bisschen freute ich mich darauf, morgens nicht schon beim Öffnen der Badezimmertür von MEINEM Parfümduft empfangen zu werden
(„Mama, das riecht so lecker, wenn ich ausziehe, kaufe ich mir das selbst.“ Ja nee, ist klar.) Und auch auf die Arrangements aus Vortags-Jeans, -Pulli und -Schmuck, die auf dem Badewannenrand ein trautes Stillleben zu bilden pflegten („Mama, ich hab's nicht mehr geschafft, schmeiß meine Sachen einfach in mein Zimmer, räume ich heute Abend weg!“) konnte ich locker verzichten. Keine Dusche mehr, die ich reinigen musste, obwohl ich nicht die Letzte gewesen war, die sie benutzt hatte („Ist zeitlich ein bisschen knapp, könntest du wohl … ausnahmsweise …?“), vom Transport Berge nasser Handtücher (eins für die
Haare, eins für den Körper, eins für den Freund) aus dem Wäschekorb im Bad hinunter in den Keller zur Waschmaschine („Mama, ich muss los, ich verpasse sonst den Zug ...“) ganz zu schweigen. Und last but not least keine Extrawürste mehr zum Mittagessen kochen müssen, weil Fisch, Pilze, Wild, Rosenkohl und Zucchini, um nur ein paar Beispiele zu nennen, nun mal nicht zu den Leibspeisen meiner Tochter gehören („Von mir aus könnte es jeden Tag Nudeln oder Buttergemüse geben. Oder Grünkohl. Oder Pizza. Oder Hähnchenschnitzel.“)
Herrliche Aussichten!
In Gedanken hatte ich ihr Zimmer bereits neu eingerichtet. Eine Kombination aus Gästezimmer und Büro sollte es werden und außerdem eine nächtliche Fluchtmöglichkeit bieten, falls die Geräuschbelästigung aus dem nachbarlichen Bett mal wieder den Pegel des Zumutbaren überschritt. Mit Feuereifer und Staubsauger machte ich mich über den leeren Raum her, bis der Teppich wieder seine ursprüngliche Farbe zurückhatte. Nach einer halben Stunde war das erledigt, selbst die
Fensterscheiben blitzten frischgeputzt. Jetzt noch rasch die Wäsche aus dem Bad in den Keller bringen und ich würde mich den angenehmen Dingen des Tages widmen können. Das, was der kümmerliche Rest der Familie am Abend vorher für nicht mehr tragbar erklärt hatte, nahm sich selbst in dem winzigen Wäschekorb verloren aus. Ein paar Waschlappen, Unterhosen und Socken – eine Handvoll Wäsche. Keine Duschtücher, keine nur-einmal-getragene-aber-irgendwie-seltsam-riechende Strickjacke, keine Minitangas. Und dann sah ich, dass der Frau im Spiegel zwei Tränen über die Wangen
liefen.
Das Klingeln des Telefons bewahrte mich davor, sentimental zu werden.
„Mama, ich habe heute frei und X. ist zum Mittag nicht da, ich bin also alleine, könnte ich da wohl so gegen 13 Uhr …? Was gibt es denn?“
„Zucchini-Fisch-Auflauf …"
„Ähm ...“
Pfeifend holte ich eine Packung Grünkohl aus dem Gefrierschrank.