Kurzgeschichte
... und es ist die Heimat

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"... und es ist die Heimat"
Veröffentlicht am 08. März 2014, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Serghei Velusceac - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse. Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie. Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.
... und es ist die Heimat

... und es ist die Heimat

Die alte Frau sitzt auf der Bank vor ihrem Häuschen.

Mit beiden Händen, die Finger deutlich von Gicht gekrümmt, streicht sie die weiße, hübsch bestickte Schürze glatt, die sie über dem langen schwarzen Leinenrock trägt. Dann prüft sie die Bindebänder der weißen, mit blau-grünen Kreuzstichen bestickten Haube, streicht zum Schluss über das dunkelgrüne Schultertuch. ja, alles sitzt perfekt. Auch die schwarzen Strickstrümpfe , die sie an langen Winterabenden, als die Hände noch „mitmachten“, selbst mit 5 Nadeln strickte. Sie trägt die Tracht, hat sie immer getragen. Und sie ist stolz darauf. Sie ist eine der wenigen hier am

Ende ihres Heimatdorfes Schleife, das in ihrer Sprache Slepo heißt. Doch wer spricht heute noch sorbisch. Die Muttersprache wurde zur Fremdsprache. Das Volk, das einst vom Dnepr bis zur Saale siedelte, lebt heute noch in wenigen Orten der Lausitz.

Die Enkelin kaufte der Urenkelin ein Festtagsröckchen, eine weiße Bluse und ein rotes Häubchen. Und sie nannten sie Hanka. Hanka sieht süß aus in ihrer Festtagskleidung, doch sie sieht die Uroma mit großen blauen Augen fragend an, wenn diese mit ihr in der Muttersprache redet. Ein Volk stirbt, wenn Kultur und Sprache sterben, weiß Lenka, die Urgroßmutter.

Lenka steht auf und hält ihr Gesicht in die milde Herbstsonne. Ist schön, dieses Jahr, ein gutes Jahr. Und der Raps steht gut auf dem großen Feld hinter dem gelben Backsteinhaus, würde der Mann sagen. Der wusste genau, wie guter Raps aussehen muss, hat ihn ja immer gedrillt und gedüngt mit seinem Trecker. „Mein Kasimir“ hat er ihn liebevoll genannt und ihn gehegt und gepflegt, obwohl es nicht seiner war. Sie waren eben eine Einheit, der „Kasimir“ und der Mann und jeder im Dorf wusste das, wenn er laut ratternd übers Kopfsteinpflaster fuhr. Und sie winkten ihm zu.

Und plötzlich wurden sie nicht mehr gebraucht, damals 1990, nicht der Mann

(geh in Frührente, hast genug geschuftet, sagte man) und nicht der „Kasimir“ (der wurde verschrottet). Wenig später hat der Mann sie allein gelassen, erst redete er nicht mehr mit ihr, dann stand er nicht mehr auf. „Herzinfarkt“, sagte der Arzt. Sie wusste es besser, er starb an der zerbrochenen Seele. Ein Leben ohne Arbeit und ohne den „Kasimir“, das ging für ihn einfach nicht. Ein gebrochenes Herz kann man heilen, vielleicht, eine zerbrochene Seele nicht. Nun schläft er da oben auf dem kleinen Hügel. Jede Woche geht sie zu ihm und erzählt ihm vom Leben im Dorf.

Wie lange noch? Jetzt ist es beschlossen: Der Bagger wird kommen, mit seinen

gefräßigen Mäulern alles wegnehmen, um an das braune Gold zu kommen, das vor Jahrmillionen unter Schleife entstand. Nicht der ganze Ort soll vorerst dran glauben, aber ihr Teil, so wird es sein.

136 sorbische Dörfer in den letzten 90 Jahren wichen der Kohle, nichts erinnert mehr an sie. Eine Mondlandschaft aus Sand, Kies, Steinen, hin und wieder Seen, die keiner richtig will.

Kein Schild weist darauf hin: Hier lebte einst ein slawisches Volk mit ganz eigener Kultur und Tradition. Am Ende kommt der Friedhof auch weg und der Mann muss wieder umziehen. Oder achten die die Totenruhe?

„Es gibt neue Energien, wir brauchen die Braunkohle nicht mehr“, hatte die Tochter gesagt. Pustekuchen! Vattenfall braucht sie. Wird schon stimmen, warum sonst werden die Dörfer weggebaggert?

Damals, als das Geld noch aus Alu bestand, bekamen die Abgebaggerten neue Häuser und alles ersetzt. Sie nahmen das Geld und protestierten trotzdem weiter und irgendwann so laut, dass das Abbaggern aufhörte.

Heute ist das Geld viel härter und die Abgebaggerten nehmen das Geld wieder, diesmal ohne Protest. Die alte Frau versteht das nicht. Sie will kein Geld, sie will ihr gelbes Backsteinhaus und die kleine Holzbank davor.

Über ihr fliegt eine Gruppe Weißstörche, nicht ungewöhnlich hier. „Ha wishuli ptatschata tschnisch …“ singt sie vor sich hin, „Ich sehe die Vogelschar fliehen…“ Jahr für Jahr kehren sie im Frühjahr wieder zu ihren Horsten. Hoffentlich werden sie bleiben.

.

Die alte Frau, die Lenka heißt, genießt die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Altern ist schwer, man braucht Kraft und Würde. Altern ohne Zukunft ist kaum vorstellbar. Sie weiß nicht, wohin, wenn der Bagger kommt, fühlt sich wie ein alter Baum, dem die Wurzeln gekappt werde. Bei uns ist alles anders, das Zusammenleben ist anders, die

Traditionen, das Miteinander. Wir sind eine verschworene Gemeinschaft, und nun?

Lenka findet keine Antwort. Und Vattenfall gräbt unaufhörlich weiter nach Braunkohle, auch, wenn in 20 Jahren schon alles vorbei ist.

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Hörbuch

Über den Autor

Albatros99
Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse.
Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie.
Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.

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Ferry Eine so berührende Geschichte. Ja ich denke, dass es auch heute noch Menschen gibt, die an gebrochenem Herzen sterben, weil sie nicht mehr "gebraucht" werden Sehr beeindruckend geschildert . Danke dafür
Lieber Gruß Ferry
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Danke für deinen netten Kommentar. Ja, das Thema ist aktueller denn je, es geht ja weiter hin und her, brauchen wir die Braunkohle noch oder nicht? Vattenfall geht, wer kommt dann, was wird ohne die, aber das Abbaggern weiterer herrlicher Sorbendörfer ist schon geplant.
Keine leichten Entscheidungen. Dir erst mal ein schönes Weihnachten und liebe Grüße
Christine
Vor langer Zeit - Antworten
flovonbistram Ohne Pathos und doch so eindringlich, dass mir die Tränen kamen.
LG Flo
Vor langer Zeit - Antworten
GerLINDE 
So ist das Leben. Auch den Ort "Kahnsdorf" bei Borna hat man weggebaggert. (mein Mädchenname).
Eine gut geschriebene Geschichte Christine.
LG, Gerlinde
Vor langer Zeit - Antworten
koollook Mir gefällt dein Schreibstil sehr. Von wem ist er inspiriert? Hat eine leichte, unaufdringliche Poesie, ohne zu dick aufzutragen.
Die Geschichte ist natürlich sehr rührselig. Der Kapitalismus macht vor keinem Halt und wer nichts schafft wird abgeschafft. Der letzte Satz gibt zu denken: 20 Jahre? Das ist gar nicht so lange, wie man meinen könnte.
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Danke für deinen Kommentar. Inspiration? Keine - das bin einfach ich. Zu DDR-Zeiten sagte mein Vater immer zu mir, solche Träumer wie dich kann der Sozialismus nicht gebrauchen. Er hat mich verachtet, heut lässt er sich von mir pflegen. Träumer bin ich wohl immer noch, deshalb vielleicht der etwas rührselige Schreibstil. Allerdings macht mir die Geschichte der Sorben wirklich Sorgen, da ich ja in ihrem angestammten Siedlungsgebiet wohne. Das Volk wird untergehen, einfach so, und keinen interessiert das. Dabei haben sie lange vor den Deutschen hier gelebt. Was aber wäre, wenn die jetzt plötzlich "Ukraine" spielen? Aber so was gibt es ja bei uns nicht. Liebe Grüße und Dank, Christine
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW Danke für diese anrührende Geschichte, wunderschön geschrieben. Ja die Alten, die werden heute nicht mehr gebraucht und die Gegend, in der sie einmal gelebt haben und die schön und friedlich war, auch nicht - weg damit. Gut dass ich in einem Eckchen in Bayern lebe - unser Paradies, wie wir es nennen - in dem es noch relativ ruhig ist und wir (mein Mann, unser Gastkater "Kasperl" und ich) unseren Ruhestand genießen können.
Ganz liebe Grüße und einen schönen Tag
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Auch mich berührt deine Geschichte von der alten Lenka sehr, zumal mein Schwiegervater auch Sorbe war (Oberlausitz, Nähe von Bautzen), und mein Mann dort aufgewachsen ist.
Hier überschneiden sich das traurige Aussterben dieses nunmehr kleinen Volkes mit der unseligen Energiepolitik.
Auch in unserer Region, im Geiseltal und im Leipziger Umland, gibt es schon seit langem "ausgekohlte" Dörfer und neu entstandene Seenlandschaften, in Thüringen wurden beim Bau von Talsperren ebenfalls Dörfer geflutet ...
Die fossilenBrennstoffe gehen ihrem Ende zu, Atomkraft verbietet sich, und mit den regenerativen Energien haben die Menschen auch ihre Probleme, z. B. mit den Windkraftanlagen ... Aber auch größere Anlagen von Solarmodulen stoßen auf Widerspruch ... Verschandeln der Landschaft .. ebenso Biogasanlagen. Außerdem wird das von der Energiepolitik nicht wirklich gefördert. Viele Meinungen gehen hin zur dezentralen Energieversorgung, doch auch hier werden eben Energieträger benötigt....
Es ist schwer, auf all diese Fragen eine befriedigende Antwort zu finden.

Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Ja, du hast recht, aber am Ende, wenn man mal genau alle Argumente analysiert und die bloße Rumquatscherei abzieht, steht wieder das Geld (früher sagten wir Maximalprofit). Das sich die Sorben alles so gefallen lassen, verstehe ich nicht. Stell dir mal vor, was passieren würde, die würden jetzt plötzlich "Ukraine" spielen, und wie dann die große Politik und die Medien das ganze sähen. Danke für deine netten Worte Christine
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Vielleicht ist es der "Fehler" der Sorben, dass sie zu stark assimiliert sind, keine autonomen Verwaltungsstrukturen haben ...
Und die Frage "Wem nützt das" sollte man natürlich immer im Hinterkopf haben ...
Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
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