Gesellschaftliche Regeln
Der stattliche Lord McIntosh kommt drei Tage früher als geplant von einer politisch wichtigen Reise, die ihn durch fünf Städte führte, abends gegen dreiundzwanzig Uhr, nach Hause zurück. Um den Überraschungsmoment auszunutzen, schließt er leise die Eingangstür auf, entledigt sich seiner Schuhe und schleicht leise die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Vorsichtig und geräuschlos öffnet es die Tür. Er traut seinen Augen kaum, sein Kinnladen fällt herunter, er kommt sich vor wie im falschen Theater. Seine Frau liegt mit einem fremden Mann im Bett.
McIntosh ist empört, läßt sich seinen inneren Schock aber nicht anmerken, nimmt Haltung an, räuspert sich kurz und sagt mit strenger Stimme: "Gnädige Frau, sie werden verstehen, nachdem ich sie in flagranti mit ihrem Geliebten ertappt habe, dass es zwischen uns aus und vorbei ist. Sie kehren sofort, ohne jegliche Diskussion, in ihr Elternhaus zurück. Ich werde mir zwischenzeitlich über ihre Pension Gedanken machen und diese baldmöglichst festlegen. Unsere gesellschaftliche Stellung gestattet es leider nicht, dass wir uns scheiden lassen, aber ich möchte nicht mehr länger mit ihnen unter einem Dach leben, das sie so schamlos entehrt haben. Sie werden also ohne Umschweife und ohne wenn und aber, noch in der heutigen Nacht mit samt ihren Siebensachen abreisen."
Der, durch diese bitteren Worte etwas aus der Puste gekommene und im Gesicht vor Wut rot angelaufende McIntosh holt tief Luft, schiebt seine geballten Fäuste in die Jackentaschen, setzt dann seine Rede noch strenger und lauter als zuvor fort: "Und sie, mein Herr, sie sind das unverfrorenste, unverschämteste, übelste Subjekt, das mir je begegnet ist, ich möchte sie in meinem Hause niemals wiedersehen, und", fügt der jetzt völlig aufgebrachte Lord McIntosh brüllend hinzu, "sie könnten wenigstens aufhören, während ich rede!"
Horst Rehmann
2007