Titel
Lesen lieben lernen
Wie unbeholfen sieht es wohl aus, wenn ein 80-jähriger Mann versucht, mit hochrotem Kopf und über seine eigenen Worte stolpernd, einer Dame den Hof zu machen? Nun, rhetorische Fragen sollte man nicht beantworten, rhetorische Geschichten wollen dagegen sehr wohl gelesen werden.
Vorhang auf für unseren gefühlsübermannten Senioren, denn Alter schützt vor Liebe nicht.
Vorsichtig pirschte er sich an sie heran.
Nein, sie war ihm alles andere als eine Beute, denn sein Hunger war längst gestillt, – zu Mittag gab's Klößchen mit Fleisch – er wusste auch nicht genau, welcher Teufel ihn nun ritt. Schon seit Jahrzehnten interessierte ihn das andere Geschlecht genauso brennend wie seine Hämorrhoiden nachdem sie entfernt worden waren. Und nun pochte sein Herzschrittmacher wie wild.
Tief einatmen, und ausatmen nicht vergessen. Meine Güte, vielleicht sollte ich gleich einen Krankenwagen rufen? Gleich falle ich um. Mein Gott, meine Hüfte wurde doch grad erst gemacht... Hans-Peter – kneif die Arschbacken zusammen und los, los,
los.
Sie saß ruhig da und las ein Buch. Den Titel konnte er nicht entziffern. Bücher waren eh nie seine Welt gewesen. Seit er 14 war musste er hart schuften, um sich und seine Familie über die Runden zu bringen. Auf den Feldern bestimmte die Sonnen seinen Tagesablauf und am Abend war er so kaputt, dass er froh war, noch das Bett zu finden.
Er schaute sie genauer an und konnte sich einfach nicht erklären, was ihm an ihr so gefiel. Sie sah wie eine ganz normale Oma aus. Graue Haare, nach hinten zu einem Dutt gebunden, ein Strickpullover und eine braune Cordhose. Weiße Gesundheitsschuhe.
Doch sie war besonders, erinnerte ihn an etwas, an jemanden, an seine Rosie? Nein, unmöglich! Rosie war ein vollkommen anderer Mensch gewesen. Sie war groß und schlank, elegant und edel. Ihr Wimpernflimmern war unwiderstehlich, keiner konnte ihr einen Wunsch abschlagen, wenn ihr Blick seine Wirkung entfaltet hatte. Sie war eine Schönheit ohnegleichen, strahlte Einzigartigkeit und Magie aus. Wer ihr einmal begegnet war, vergaß sie nie wieder.
Seine Beine fühlten sich weich an. Er konnte kaum noch stehen. Also ging er auf sie zu, um sich neben sie zu setzen. Je schneller er es tat, umso leichter
würde es werden, dachte er, wusste er, aus 80-jähriger Lebenserfahrung. Nichts ist schlimmer als der Moment davor. Und …
„Guten Tag, gnädige Frau. Darf ich mich zu Ihnen gesellen?“
Gnädige Frau – was Blöderes hätte dir nicht einfallen können. Mensch, Hans-Peter, jetzt hast du dich wieder zum Hans-Wurst gemacht.
Doch die Frau lächelte ein zauberhaftes Lächeln der dritten Frische und antwortete in einem angenehmen Ton: „Ja, gerne.“
Hans-Peter setzte sich zu ihr auf die Bank und wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als plötzlich … ja, ihm fiel
nichts ein. Sollte er über das Wetter reden oder über etwas weniger kontroverses?
Verschiedenste Gedanken rasten durch die verstaubten Gänge seiner ergrauten Zellen. Da fiel ihm das Buch in der Hand der Dame wieder auf.
„Was lesen Sie da?“, fragte er sie nervös.
Sie nannte den Titel, den er nicht kannte. Worum es in dem Buch ging, war seine nächste Frage, die er schon etwas sicherer über die Lippen brachte.
Sie fing an, zu erzählen, aber er konnte ihr nicht zuhören, schaute nur auf ihre trockenen, rissigen Lippen und war ganz von Sinnen. Ihre ganze Art schwang durch seinen Körper und schüttete alles
in ihm auf, erregte längst vergessene Gefühle. Er wollte wieder leben und ihre Worte atmen.
Ja, vielleicht sollte ich sie erst mal hören, bevor ich sie atme, dachte er. Also, Obacht, jetzt steig ich in ihre Erzählung ein.
„Ja, und dann wird er erschossen und fällt in den Swimmingpool.“
„Klingt interessant“, sagte er automatisch.
„Ja, wollen Sie es mal lesen?“
Lesen? Er sollte lesen?
Er schaute irritiert. „Ehm, ja, aber wissen Sie...“
„Ich lasse Ihnen das Buch einfach da, schauen Sie es sich an. Ich muss kurz zur
Tablettenausgabe. Ich bin in zehn Minuten wieder da.“
So drückte sie ihm das Buch in die Hand, lächelte frühlingshaft und verschwand.
Da lag nun das Buch mit dem er nichts anfangen konnte und er wusste nicht, wie und ob er ihr sagen sollte, dass er gar nicht lesen konnte. Er hatte es nie gelernt.
Er schaute sich den Umschlag an. Darauf waren bunte Bilder und Buchstaben, die, rätselhaft aneinander gereiht, keinen Sinn ergaben. Er blätterte durch das Buch. Vielleicht waren ja Bilder darin, die Hinweise auf den Inhalt gaben? Nichts. Nur endlos
lange Reihen, von A bis Z, die Scham und Angst in ihm auslösten.
Ich lasse das Buch einfach liegen und verschwinde. Dann muss ich ihr auch nichts sagen. Aber dieses Gefühl, ich kann sie doch deswegen nicht aufgeben. Nur weil ich nicht lesen kann. Sie wird es verstehen. Sicher! Meine Rosie hat es auch verstanden. Sonntagabend hatte sie mir immer vorgelesen. Sie sagte: „Dass du nicht lesen lernen willst, ist deine Entscheidung, aber deswegen sollte dir die wunderbare Bücherwelt nicht versagt bleiben. Keine Diskussion! – Du hörst mir zu, wenn ich lese. Mehr brauchst du nicht zu tun.“ – Anfangs war es mir lästig, aber nach und nach gewann ich
Gefallen an den Geschichten und der Sonntag wurde zum schönsten Tag der Woche.
„Na, haben Sie mal reingelesen? Gefällt es Ihnen?“, fragte mich die Dame, als sie zurückkam.
Ich sammelte all meinen Mut und setzte zur Wahrheit an. Nichts ist schlimmer als der Moment davor. Ich sah in ihre braunen Augen. Sie strahlten wie die von Rosie. Es waren dieselben Augen. Auch wenn ihre Lebensfarbe bereits etwas verblasst war, verströmten ihre Augen pures Gefühl, anmutig von schmalen Brauen umrahmt. Das wärmste und wohligste Braun ließ meine Angst wie Schokolade
schmelzen.
„Ich kann nicht lesen.“
Das Lächeln schwand aus ihrem Gesicht.
„Sie können nicht lesen?“, wiederholte sie mein Geständnis als Frage.
Ich schaute weg, zu Boden, irgendwohin, nur um sie nicht mehr ansehen zu müssen. Stille, erbarmungslose Stille fraß sich in mich hinein und riss mit jeder Sekunde mehr Fleisch aus meiner Seele.
„Das ist ja schrecklich“, hörte ich sie sagen. „Das können wir so nicht lassen. Ich bringe es Ihnen bei! Kommen Sie, auf Seite eins geht es los.“
Ich schaute sie wieder an. Jahrzehnte lagen zwischen ihren Zügen, beschwerten
sie, doch sie sah wie ein junges Mädchen aus, strahlte diesen Elan, diese Freude und Lebensenergie aus. Wie Rosie beim Lesen. Meine Rosie.
„Danke“, sagte ich halblaut. – „Ich danke Ihnen.“