Durch die Hölle führt der Weg ins Schloss
Susanne wachte eines Morgens auf und fühlte sich komisch. Als sie aus dem Fenster sah, wurde es noch merkwürdiger. Gestern wohnte sie noch an einer ganz normalen Straße in einer Kleinstadt. Als sie heute aber aus dem Fenster sah, sah sie ringsum Wald, Wald, Wald und noch mal Wald. Irgendwie musste sie ein wenig grinsen, denn genau in diesem Moment fiel ihr ein Spruch ein, den ihre Oma immer gesagt hatte: „Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.“ Susanne fragte
sich, wie das sein konnte, schließlich konnte sich die Welt doch nicht über Nacht derart verändern, oder etwa doch?
Susanne war von Natur aus neugierig, und trotz der eisigen Dezemberkälte entschloss sie sich, die Gegend zu erkunden. Vielleicht konnte sie dadurch in Erfahrung bringen, was geschehen war? Sie packte sich warm ein, und ging aus dem Haus. Schon vor dem Haus war alles anders. Sie hörte Vogelstimmen. Sie konnte sich nicht erinnern, in den letzten Jahren Vogelstimmen gehört zu haben. Normalerweise hatte sie immer einen MP3-Player dabei mit ihren Lieblingsliedern, doch diesen hatte sie
diesmal ganz bewusst zu Hause gelassen, um die Umwelt bewusster wahrnehmen zu können. Sie ging langsam ums Haus, und es führte ein Weg direkt geradeaus in den tiefen Wald.
Sie lief diesen eine gute halbe Stunde einfach geradeaus. Es war eigentlich nichts Besonderes zu sehen. Es schien ein ganz normaler Wald zu sein. Nach dieser halben Stunde kam sie an eine Weggabelung. Der Weg spaltete sich y-förmig. Der eine Weg sah sehr hübsch aus, man hörte Vögel. Als sie mal testweise einige Meter auf diesem Weg lief, roch sie herrlichen Rosenduft. Doch, hmm, irgendetwas war seltsam.
Sie dachte: „Na, schau ich mir erst einmal noch den anderen Weg an.“ Als Susanne einige Meter auf diesem Weg entlang gegangen war, hörte sie fürchterliche Schreie. Sie bekam richtig Gänsehaut, so schrecklich hörten sich diese an. Auch waren überall Dornensträucher, mindestens alle zehn Meter stach sie sich an den Dornen. Als dann noch ein sehr seltsames Tier sich ihr in den Weg stellte, ergriff sie die Flucht. Mit einem Tier, dem scharfe Messer aus dem Rücken wuchsen und ein Maul hatte so groß, dass es wahrscheinlich ein ganzes Haus hätte verschlingen können, wollte sie sich erst einmal lieber nicht anlegen.
Sie lief zurück zur Gabelung und dann langsam nach Hause. Sie musste sehr viel nachdenken. Warum sich die Welt so verändert hatte, war ihr irgendwie egal geworden, sie wollte die neue Welt kennen lernen. Doch wie soll man eine Welt kennen lernen, in der es seltsame Tiere gibt, von denen man noch nie etwas gehört hatte. Alleine konnte und wollte sie sich nicht entscheiden, welchen der Wege sie nun als erstes erkunden wollte. Logisch wäre es ja eigentlich gewesen, den schönen Weg mit dem feinen Duft als erstes zu inspizieren, doch irgendetwas hielt sie davon ab. Jedes Mal, wenn sie auch nur daran dachte, dass sie diesen Weg
erkunden wollte, bekam sie ein ganz mulmiges Gefühl in der Magengegend. Der andere Weg war aber auch nicht besser. Die Tiere, die Dornen, nein, das war es irgendwie auch nicht. Sie lief nach Hause, dort
dachte sie Tage und Nächte darüber nach, welchen Weg sie nun wohl gehen sollte. Sie kam zu keinem Ergebnis. Da dachte sie daran, dass es bei schwierigen Entscheidungen manchmal sinnvoll ist, gute Freunde zu fragen. Sie rief ihre ganzen Freundinnen eine nach der anderen an, doch auch das war nicht wirklich eine Entscheidungshilfe. Jede sagte ihr etwas anderes.
Jasmin sagte: „Besorge dir eine Waffe und nimm den Weg mit den Dornen“
Petra sagte: „Geh den Weg, an dem es so gut riecht. Das seltsame Gefühl hast Du nur, weil der andere Weg so in der Nähe ist.“
Andrea sagte: „Mach die Augen zu und lauf den Weg mit den Dornen. Wenn Du die Augen zu machst, sehen Dich diese Tiere auch nicht.“
Und Peter, einer ihrer wenigen männlichen Freunde, meinte nur: „Warum willst Du überhaupt die Welt erkunden? Bleib doch einfach zuhause.“
Und so ging es fort. Jeder hatte einen anderen Rat. Es sah so aus, als müsste letztlich sie alleine wissen, was sie tat.
Susanne legte sich erst einmal ein wenig hin und dachte nach. Als sie einige Stunden nachgedacht hatte, sagte sie: „Gut, ich nehme den Weg mit den Monstern, ein Abenteuer tut mir vielleicht mal gut. Und mit Musik auf dem Ohr werde ich auch das ertragen, schließlich bin ich Sängerin.“ Genau zu dem Zeitpunkt, als sie sich dazu entschlossen hatte, klingelte das Telefon, und ihre beste Freundin Jaana war dran. Susanne erzählte Jaana, was sie vor hatte und Jaana sagte: „Weißt Du was? Ich komme mit.“ Susanne freute sich sehr, denn Jaana war offensichtlich die einzige Freundin die bereit war ihr zur Seite zu stehen. Jaana machte sich
sofort auf den Weg zu Susanne. Als sie angekommen war, tranken sie noch gemütlich einen Kaffee zusammen, und Susanne suchte sich ihre Lieder für den MP3-Player heraus.
Irgendwann sagte Susanne: „Ok, Lust hab ich eigentlich nicht wirklich, wenn ich an diese Monstertiere denke, aber ich weiß es, irgendwie ich muss diesen Weg gehen. Lass uns gehen, dann sind wir auch früher wieder zuhause. Man spürte bei beiden die Angst, doch sie wussten, ein zurück war schon jetzt undenkbar.
Auf dem geraden Stück unterhielten sie sich noch über ihre jahrelange
Freundschaft, und dass sie diese niemals beenden wollten. Als sie dann an der Gabelung waren, machten sie noch eine kurze Pause. Schließlich wussten sie ja nicht so genau, was auf sie zukam. Die Angst von Susanne und von Jaana wurde immer größer. Doch sie wussten, es geht nicht anders.
Nachdem sie sich endlich aufgerafft hatten, liefen sie den Weg mit den Dornen entlang. Susanne sang ihre Lieblingslieder mit, die sie auf ihrem MP3-Player hörte. Als sie so ungefähr 100 Meter auf dem Weg gegangen waren, hörten sie ein gewaltiges Scheppern und Krachen hinter sich. Als sie sich
umdrehten, sahen sie dass hinter ihnen ein Tor zugefallen war. Jetzt war es klar, ein Zurück gab es nicht mehr. Sie liefen und liefen und außer den Dornen, an denen sich beide ständig wehtaten, war eigentlich alles soweit harmlos. Plötzlich jedoch, genau dann, als beide dachten: „Ach ist doch alles nicht so schlimm“, kam eine ganze Herde dieser seltsamen Tiere auf sie zu. Es waren bestimmt mindestens hundert. Zurück ging es nicht mehr. An den Monstertieren vorbei war wegen der Dornensträucher auch unmöglich. Also mussten sie schauen, was sie gegen diese Tiere tun könnten. Susanne holte sich ihre Kraft aus dem Singen, und das
eine oder andre Tier ergriff auch die Flucht. Plötzlich hörte Susanne einen Schrei von Jaana: „Aaaah, Susaaaanneeee, Hiiiilfeeee, das Monster frisst mich...“ Susanne wandte ihren Blick zu Jaana, und sie sah nur noch die Füße aus einem Maul schauen. Nein, da konnte auch sie nicht mehr helfen. Nachdem Jaana gefressen worden war, machte es „Plopp“, und diese seltsamen Tiere waren auf einen Schlag plötzlich weg. Susanne musste den Rest des Weges nun wohl oder übel alleine gehen.
Der Weg war sehr lange, und die Wunden von den Dornen taten weh. Wenigstens ergriffen die Tiere, die sie
nun auf dem Weg noch traf, die Flucht, sobald sie anfing, zu singen. Nach sehr langer Zeit sah sie etwas, das aussah wie Licht. War das etwa das Ende des Waldes? Sie steigerte ihr Tempo, und je näher sie diesem Ende kam, umso mehr leuchtete und strahlte es, und umso mehr konnte sie es kaum erwarten zu sehen, was dort wohl war.
Als sie das Licht endlich erreicht hatte, glaubte sie nicht, was sie sah. Ein wundervolles Schloss. Überall goldverziert, Rosenduft umströmte sie, eine herrliche Ruhe, wie sie sie noch nie in ihrem Leben gekannt hatte umgab sie, und als sie an den Eingang kam, stand dort ein Prinz, der sie einfach schnappte,
in den Arm nahm, küsste und sagte: „Willst Du meine Frau werden?“ Susanne fand das Selbstbewusstsein dieses Mannes so toll, er schien einfach so überzeugt gewesen zu sein, dass es das richtige war, was er tat, und so kam es, dass Susanne nicht anders konnte als „Jaaaa“ zu sagen. Wie sich herausstellte, war er ein Prinz und, es wurde noch besser, durch das, dass sie seine Frau wurde, gehörte ihr bald ein Königreich so groß, dass sie ein Leben lang gebraucht hätte, um überall gewesen zu sein. Sie wurde schon bald Königin in diesem Königreich, lebte glücklich mit ihrem Prinzen und dachte nur bei sich: „Wie schön, dass ich den Weg
genommen habe. Manchmal muss man wohl durch die Hölle gehen, um ins Paradies zu kommen.“ Wohin der andere Weg geführt hätte, interessierte sie nicht einmal mehr. Sie war so glücklich mit ihrem Prinzen, wie noch nie im Leben.
Und wer weiß? Vielleicht lebt Susanne mit ihrem Prinzen ja heute noch? Kommt sie doch einmal besuchen, aber denkt daran, der Weg zu den beiden führt durch die Hölle.