Gruselnacht
Petra war eine begeisterte Fotografin. Ihre Bilder waren sehr bekannt, weil sie immer eine ganz besondere Stimmung zeigten, selbst dann wenn sie etwas ganz gewöhnliches fotografierte. Bei Petras Bildern war selbst ein Käfer, ein Laubblatt, oder ein Sonnenuntergang, nicht einfach nur ein Sonnenuntergang, ein Käfer, oder ein Laubblatt, nein, es war immer im wahrsten Sinn des Wortes ein Kunstwerk. Daher kamen auch Menschen aus ganz Deutschland zu Petra, nur, um sich ihre tollen Fotos anzusehen, die sie in einem Nebenraum
ihrer Wohnung ausgestellt hatte.
Wie für eine Fotografin üblich, war sie immer auf der Suche nach neuen Motiven. Besonders gerne fotografierte sie Tiere. So kam es, dass sie eines Tages extra auf eine Farm fuhr, von der sie wusste, dass dort die schönsten Strauße Deutschlands leben. Die Farm war zwar ziemlich weit entfernt von Petras Wohnort, doch für ein gutes Motiv würde sie auch 50 Kilometer laufen wenn es sein musste.
Petra holte noch ihre Freundin Susanne ab und sie machten sich gemeinsam auf den Weg. Sie fuhren mit der S-Bahn und
stiegen direkt an der Haltestelle vor der Straußen-Farm aus. Susanne ist Bauchrednerin, sie kann die Puppen zum Leben erwecken, und da ihr dies großen Spaß macht, nimmt sie immer eine ihrer Puppen mit. Sie will keine Möglichkeit für eventuelle spontane Auftritte verpassen. Heute durfte Kevin mit. Kevin ist ein Fußballer. Zurzeit nahm sie Kevin besonders gerne mit, da gerade Fußballeuropameisterschaft war.
Da abends das Finalspiel im Fernsehen übertragen wurde, waren nur wenige Menschen auf der Straußen-Farm, und das war Petra und Susanne gerade recht. Susanne hatte große Angst vor
Menschenmengen, und Petra war es auch lieber, wenn wenig Menschen da waren. Denn so konnte sie sich in aller Ruhe schöne Motive suchen, und kein Mensch störte sie. Außerdem musste Petra hin und wieder auf eine Bank oder einen Stuhl klettern, um ein schönes Motiv fotografieren zu können, da sonst manchmal ein Zaun im Weg gewesen wäre. Und Petra wollte nicht, dass jemand sah, wie sie auf Stühle und Bänke kletterte.
Wie immer, wenn Petra fotografierte, vergaß sie die Zeit. Irgendwann merkten sie, dass es dunkel geworden war. Da wollten sie dann nach Hause fahren,
doch als sie an der Haltestelle ankamen, sahen sie, dass die nächste S-Bahn erst wieder morgen früh fuhr. Was sollten sie jetzt nur tun? Die Farm war soweit abgelegen, dass an ein Hotel oder ähnliches nicht zu denken war. Bis zur nächsten Ortschaft hätten sie fünf Kilometer laufen müssen.
Um zu überlegen was sie nun tun könnten, setzten sie sich auf eine Bank auf dem Bahnsteig. Da hörten sie es rufen: “Susi, Petra, was macht ihr denn noch hier?“ Es war Uschi, eine Mitarbeiterin der Straußen-Farm, die sie heute kennen gelernt hatten, und die sowohl von Petras Fotografien als auch
von Susannes Bauchrednerkünsten tief beeindruckt war. Petra und Susanne schilderten ihr das Problem. Daraufhin meinte Uschi, dass sie eine Lösung wüsste, die aber jetzt nicht unbedingt so sehr angenehm wäre. Petra und Susanne fragten nach, und Uschi bot den beiden an, dass sie auf der Straußen-Farm in der Gaststätte übernachten könnten. Zwei Matratzen, wenngleich auch ziemlich alte, wären auch noch da.
Petra und Susanne nahmen das Angebot gerne an und richteten sich mit Uschis Hilfe so gut es ging in der Gaststätte ein. Es sollte ja nur für eine Nacht sein, und für eine Nacht konnte man es ja
eigentlich überall aushalten. Susanne hatte einmal in ihrem Leben sogar in einer Telefonzelle übernachtet, was konnte sie da noch schockieren? Uschi verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass sie auf die Sachen in der Gaststätte achtgeben sollten, denn ihr Chef würde es sicher nicht gern sehen, wenn sie jemanden in der Gaststätte übernachten ließ.
Petra und Susanne legten sich auf die Matratzen. Sicher, bequem war etwas anderes, denn die Matratzen waren mit Sicherheit schon einige Jahrzehnte alt, doch das war immer noch besser, als auf einem Bahnsteig schlafen zu müssen.
Susanne und Petra legten sich beide auf die Matratzen. Sie fanden es allerdings doch ein wenig gruslig. Mitten in der Nacht, genau zur Geisterstunde um Mitternacht, wachten Petra und Susanne auf und hörten seltsame Geräusche. Sie konnten sich die Herkunft des Geräuschs nicht erklären. Einmal hörte sich es an wie ein kratzen, dann wie wenn irgendetwas aufeinander geschlagen wird, dann ein bisschen wie Babygeschrei. Weder Petra noch Susanne wussten, was sie davon halten sollten. Sie hatten beide nur riesengroße Angst, denn sie wussten, sie waren hier mutterseelenallein. Susanne las sehr gerne Gruselgeschichten, und jetzt fühlte
sie sich, als wäre sie ein Teil einer solchen Geschichte. Auch an mögliche Einbrecher dachten sowohl Petra als auch Susanne. Doch diesen Gedanken verwarfen sie dann auch gleich wieder. Also musste es etwas anderes sein, nur was? Petra hatte auch große Angst, und gegenseitig versuchten sie, sich die Angst zu nehmen, doch es gelang ihnen nicht. Irgendwie mussten sie herausfinden, was diese merkwürdigen Geräusche verursacht.
Zuerst siegte bei Petra die Neugier über die Angst, und sie stand vorsichtig, ganz vorsichtig, von der Matratze auf, um in die Richtung des Geräuschs zu gehen,
das sie immer wieder zwischendrin hörten. Manchmal war auch minutenlang nichts zu hören, bis es wieder von vorne losging. Petra tastete sich ganz langsam im Dunkeln an die Geräuschquelle heran. Da es stockdunkel war, stieß sie an ein Regal, und irgendetwas fiel herunter, das mit lautem Geklirre und Geklapper zu Bruch ging. Da erinnerte sie sich noch an die Bemerkung von Uschi, dass sie aufpassen sollten. Aber das war jetzt ja irgendwie ein Notfall. Denn die Geräuschquelle konnte schliesslich alles Mögliche sein. Sie konnten sich nicht sicher sein, ob die Geräusche ungefährlichen Ursprungs waren. Petra tastete sich im Dunkeln immer weiter
Richtung Türe, denn inzwischen wusste sie, dass diese merkwürdigen Geräusche direkt aus der Nähe der Türe kamen. Petras Herz klopfte so schnell wie noch nie vorher in ihrem Leben. Sie öffnete die Türe einen ganz kleinen Spalt und sah eine Gestalt mit sehr langen Füssen und einem sehr langen Hals mehr konnte sie nicht erkennen.
Susanne war inzwischen auch aufgestanden und tastete sich im Dunkeln zu Petra vor. Da entdeckte sie etwas, das sich wie ein Lichtschalter anfühlte, und als sie darauf drückte, wurde es tatsächlich hell. Da wussten sie, was die Geräusche verursacht hatte.
Es war ein Strauß, der offensichtlich irgendwie aus seinem Gehege ausgebrochen war. Und sie sahen auch, dass es Geschirr war, das da im Dunkeln herunter geschmissen worden war. Weder Petra noch Susanne wussten, wie man mit einem Strauß umgehen musste. Sie wussten aber beide, dass diese Tiere gar nicht so harmlos waren wie sie aussahen. Sie hatten auf der Farm vom Besitzer gelernt, dass ein Fußhieb eines Straußes einen Löwen töten konnte.
Da fiel Susanne ein, dass Uschi ihnen ja eine Telefonnummer gegeben hatte für den Fall, dass es in der Nacht irgendwelche Probleme geben sollte.
Petra rief Uschi mit zitternden Händen an und entschuldigte sich auch gleich für das zerbrochene Geschirr.
Uschi kam sofort, obwohl es mitten in der Nacht war. Petra und Susanne versuchten so gut es ging zu helfen, den Strauß wieder einzufangen, und Uschi fand das mit dem Geschirr auch gar nicht so schlimm, viel wichtiger war, dass der Strauß wieder in sein Gehege gebracht werden konnte. Irgendwie war ein Loch im Zaun, von dem bis heute keiner weiß, wieso es plötzlich da war. Auch dieses Loch reparierten die drei noch mitten in der Nacht so gut es ging wenigstens provisorisch. Und alle waren
froh, als es morgens hell wurde und diese gruslige Nacht ein fröhliches Ende fand. Denn die Mitarbeiter der Straußenfarm luden Susanne und Petra zu einem deftigen Frühstück ein. Danach machten sich Petra und Susanne auf den Heimweg. Doch diese Geschichte werden sie vermutlich auch noch ihren Enkeln erzählen.