Befreie Dich selbst
Nadine stand wie jeden Morgen vor dem Spiegel. Doch heute war es seltsam. Ihr Spiegelbild bewegte sich nicht spiegelbildlich zu ihren Bewegungen, sondern es schien, als führte es ein Eigenleben. „Hm“, dachte Nadine, „eigentlich kann das ja nicht sein. Ich glaube, ich bin nur überarbeitet.“ Nadine dachte an den großen Stress, den sie gerade hatte, denn sie war Verkäuferin in einer kleinen Parfümerie mitten in der Stadt, und zur Vorweihnachtszeit war es im Geschäft alles andere als ruhig.
Sie zog sich an, schminkte sich und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Aber auch da war irgendetwas anders als sonst. Sie fuhr immer mit derselben Straßenbahn zur Arbeit, und normalerweise unterhielt sie sich dabei immer mit den anderen Fahrgästen. Da sie immer zur selben Uhrzeit fuhr, hatte sie schon sehr viele Kontakte geknüpft. Doch heute schien es so, als würde sie niemand kennen, ihr kamen die Gesichter zwar bekannt vor, doch die Menschen schienen sie nicht zu erkennen. Da sie so gestresst und müde war von der vielen Arbeit der letzten Tage, dachte sie aber nicht weiter darüber nach.
Auf der Arbeit angekommen sagte ihre Chefin zu Nadine: „Was ist denn los mit Dir? Du siehst heute so anders aus.“ Nadine sagte nur: „Ach nichts, ich glaube ich bin einfach etwas gestresst.“ Ihre Chefin war eine ganz liebe Frau, die ihr dann erst einmal einen Kaffee anbot, und das, obwohl im Laden bereits die Hölle ausgebrochen schien. Nadine brachte den Tag hinter sich, und abends zuhause ging sie sofort an den Computer und spielte wie wild irgendwelche Computerspiele.
Viel später am Abend rief ihre Freundin Karin an und fragte, ob sie mit ihr etwas trinken gehen möchte. „Tut mir leid,
Karin, aber ich kann nicht, ich muss noch ein paar Bösewichte besiegen.“ Karin kannte den Computerspieltick von Nadine, auch wenn sie ihn nicht gut fand, und so ging sie eben erst einmal alleine etwas trinken. Nadine dagegen besiegte ihre Bösewichte und ging dann ins Bett.
Mitten in der Nacht musste sie allerdings dringend auf die Toilette. Sie stand auf, und als sie an ihrem Spiegel vorbeilief, erschrak sie doch sehr über das, was sie im Spiegel sah. Sie sah nichts, einfach. Es schien, als wäre sie gar nicht da. Da fiel es Nadine wie Schuppen von den Augen. Es war nicht der Stress. Sie
hatte sich selbst verloren. Gestern hatte sich ihr Spiegelbild nur von ihr verabschiedet, jetzt, wo sie darüber nachdachte, erinnerte sie sich auch, dass das eine Art Winken war, was ihr Spiegelbild gestern tat, eben genau so, als würde man sich verabschieden.
Nun hatte Nadine also herausgefunden, was für viele ihrer Probleme verantwortlich war. Aber, was konnte sie tun, um sich selber wieder zu finden? Sie hatte keine Idee. Da sie die Natur liebte, ging sie ein wenig spazieren. Sie hörte einfach nur den Vögeln und den anderen Tieren zu, und weil sie so sehr über sich selbst nachdachte, wie sie sich
selbst wieder finden könnte, geriet sie immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Es wurde immer dunkler, doch Nadine merkte es nicht, bis, ja, bis plötzlich ein Mann in einem dunklen Mantel und mit langen Haaren vor ihr stand, der nur hämisch grinste und sagte: „Harharhar, da bist Du ja. Du bist auf der Suche nach Dir selbst? Und Du glaubst wirklich, Du wirst Dich finden? Ich bin ein böser Zauberer, und das werde ich zu verhindern wissen.“ Da war der Mann so schnell verschwunden wie er gekommen war. Nadine hatte große Angst bekommen, doch sie wusste, sie konnte nur weiter leben, wenn sie sich selber wieder finden
würde, denn auch das hatte der Mann ihr gesagt. Würde sie sich nicht innerhalb von drei Tagen wieder finden, würde sie sterben.
Nadine suchte nach sich selbst. Überall, nirgends schien es auch nur das kleinste Zeichen zu geben, wo der Zauberer sie hingebracht hatte. Plötzlich hörte sie ein leises rufen: „Nadine, hier bin ich. Nadine. Befreie mich. Bitte, bitte.“ Nadine ging den Stimmen nach, und sie fand sich, in einem großen, goldenen Käfig, der fest verschlossen war. Wie sollte sich nur daraus selbst befreien? Das Schloss schien nicht so, als könnte man es so einfach aufbrechen, auch die
Gitterstäbe waren viel zu stabil, um sie kaputt zu machen. Da erschien der böse Zauberer wieder und sagte: „Harharhar, Nadine, du wirst den Schlüssel niemals finden, und weißt Du auch warum? Weil er direkt vor Dir liegt, harharhar.“ Der Zauberer schlug seinen Umhang wieder um sich, und war wieder so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Neben dem Käfig war ein Schlüsselbund mit vielen hunderttausend Schlüsseln. Wie sollte sie hier nur den richtigen finden? Nadine sprach mit sich selbst, aber beide hatten keine Idee, was wohl der Schlüssel sein könnte. Sie dachten zuerst, es wäre vielleicht der Schlüssel, auf dem „Vernunft“ stand. Doch da regte
sich gar nichts. Er passte nicht einmal ins Schloss. Dann probierte sie den Schlüssel, wo „Liebe“ drauf stand. Dieser passte zwar ins Schloss, aber er ließ sich nicht drehen. So suchten sie zwei Tage und 23 Stunden nach dem richtigen Schlüssel. Es war nur noch eine Stunde, bis Nadine sterben würde. Sie hatten sicherlich zehntausende an Schlüsseln probiert und war schon nahe daran, aufzugeben. Der Zauberer stand schon hinter einem Baum und grinste nur. Doch da fand Nadine einen Schlüssel, auf dem stand: “Hör nicht auf das, was andere sagen. Das schlägt dir auf den Magen.“ Nadine dachte so bei sich: „Na gut, ein letzter Versuch, bevor
die Zeit abgelaufen ist.“ Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und… er passte. Kaum war die Käfigtür offen, war Nadine wieder nur noch eine Person, und ihr wurde klar, dass sie einfach nur sie selber sein musste, ohne auf das zu hören, was andere sagten oder dachten. Dann konnte sie sich nicht mehr verlieren.
Der Zauberer fluchte, aber er war auch neugierig und wollte wissen, ob sie denn wenigstens wissen würde, mit wem sie es zu tun gehabt hätte? Nadine antwortete: „Ja ich weiß es. Du hast viele Namen. Vernunft, Sicherheit, Verstand und vieles mehr, viele nennen
Dich auch einfach Erwachsenenwelt. Doch ich gehöre Dir ab sofort nicht mehr, ich habe mich aus Deinen Fängen befreit und niemals mehr wirst Du mich einfangen.“ Der Zauberer fluchte nun erst richtig, und mit einem lauten Knall schien er sich aufzulösen. Nadine hörte nie wieder etwas von ihm. Sie führte ein Leben, das viele nicht verstanden, weil sie eben es geschafft hatte, sich selbst wieder zu finden. Im Gegensatz zu den allermeisten anderen Menschen hatte sie den bösen Zauberer besiegt.
Und sie war glücklicher, als alle anderen Menschen auf der Welt, ganz besonders war sie glücklicher, als die Menschen die
über sie lachten.