Früher, ja früher, da war alles besser! Ich sag das jetzt nicht nur so, ich kann mich ja erinnern. Früher, da hatten wir zum Beispiel diese Eisdiele in der Stadt, direkt am See. Meine Mutter ging mit uns Kindern hin und ließ einen riesigen Kübel mit Softeis füllen, was dann ein paar Pfennige kostete und nicht wie heute, ein bis zwei Euro für eine Miniaturmurmel Synthetikeis. Von dem Kübeleis zehrten wir Tage, Wochen, ach was, Jahre wahrscheinlich. Und wie groß früher die Kübel waren! Gut, vielleicht war mein Kopf auch einfach kleiner als heute, aber Fakt ist, heute gibt es überhaupt keine Kübel mehr. Außer Kotzkübel, und die können bekanntlich
nicht groß genug sein.
Früher wohnte ich noch bei Mama. Und das war, obwohl ich kein Geld hatte, toll, denn zumindest der Kühlschrank war immer so prall gefüllt, dass ich vor lauter Starren auf den Warenüberschuss jedes Mal einen Anschiss bekam, ich solle die Kühlschranktür zumachen. Heute mach ich die Kühlschranktür auf, und alles, was mich anlacht, ist ein Stück Wurst, von dem immer zu Befürchten ist, dass es schreiend wegläuft, sobald meine Hand sich nähert. Und bei Mama gab es Taschengeld, das reichte hinten und vorne nicht. Die Anschaffung einer neuen Spielkonsole
zum Beispiel wurde da zu einem echten Projekt. Ein Projekt, bei dem am Ende tatsächlich was rauskam, nämlich ‘ne Konsole. Heute habe ich unzählige Projekte und bekomme unverschämt viel Geld dafür. Und trotzdem kommt am Ende irgendwie immer was heraus, von dem man nicht weiß, ob man gerade ein Gesicht oder zwei Arschbacken vor sich hat. Lauter digitale Picassos, oder anders ausgedrückt, unzählige Miniaturhauptstadtflughäfen. Na Prost Mahlzeit! Da war eine Spielkonsole definitiv griffiger.
Früher hatten wir auch kein Telefon. Es gab zwar Telefonzellen, aber die waren
nur zum Reinpinkeln, weil auch sonst niemand, den man kannte, ein Telefon hatte. Wer dennoch ein Telefon besaß, so wetterte mein Vater gerne, war bei der Stasi. Über die roten Socken meckert er heute noch, aber heute haben alle ein Telefon. Tragen es sogar mit sich herum und gehen trotzdem nicht vor die Tür. Früher war das anders. Da hätte selbst die NSA noch persönlich auf Kaffee und Kuchen vorbeikommen müssen. Überhaupt, wenn man was von jemandem wollte, dann musste man entweder einen Brief schreiben und für immer warten, weil keiner zurückschrieb, oder man musste zu Fuß losstiefeln. Und wenn ich dann durch den scheiß Regen marschiert
war, bei einem meiner Freunde klingelte, nur um von der Mutter zu hören, der Sebastian habe leider Hausarrest, der könne darum nicht raus, weil er böse war, dann war man nicht nur angefressen, nein, man musste auch durch den besagten scheiß Regen zurückmarschieren. Immerhin bekam man vom vielen Marschieren keinen fetten Arsch.
Aber früher wurden wir ja auch noch abgehärtet. Früher hatten Mut, Ehre und Tod fürs Vaterland noch einen echten Stellenwert. Das bekamen wir zu jeder Gelegenheit von unserer Kindergärtnerin eingetrichtert, wenn sie uns Geschichten
von heldenhaften Soldaten erzählte. Die Bilder dazu hingen ja an der Wand, und auf der hohen Anrichte stand ein großer Modellpanzer, den niemand anfassen durfte. So ging Pädagogik in der sterbenden DDR. Und gegen 12 ging es links-zwo-drei-vier zum Mittagessen. Überhaupt konnte man noch was ab, durch all den Kindergartendrill. Ich weiß noch ganz genau, wie ich das Titellied von »Werner – Beinhart!« summend um die Ecke rannte und plötzlich mit dem Auge auf einem Stuhlbein steckte, weil irgendwer aus Gruppe 3 unbedingt sein Sitzmöbel durch die Gegend wuchten musste. Und, hat’s mir geschadet? Pah! Ein Kübel Vanilleeis, und das Matschauge
war vergessen. Heute dagegen kriegen die Leute vom Kurbeln auf ihrem MP3-Player einen iPod-Daumen. Und was die dauerkrumme Haltung der Smartphone-Jünger langfristig mit dem Genpool anstellen mag, will ich mir gar nicht erst ausmalen. Leute, denkt doch an Darwin!
Früher waren wir außerdem noch richtige Männer, obwohl wir kleine Jungs waren. Mit bloßen Händen hoben wir metertiefe Gruben im Wald aus, bedeckten sie mit Baumstämmen und Erde und verkrochen uns konspirativ darin wie Vietcong. Und unsere Buden waren reine Männersache. Wäre da ein Mädchen aufgekreuzt, hätten wir dem
aber gezeigt, wo der Konstrukteurshammer so hängt. Schon deswegen, weil Mädchen natürlich per se igitt waren, bis ihnen plötzlich Brüste wuchsen. Heute dagegen lassen wir die Frauen freiwillig in unsere Wohnungen, wo sie dann ohne zu fragen dekorieren, wie es ihnen gefällt. Blumenvasen, Buchstützen, Kerzenhalter und Tischdeckchen hätte in unseren Untergrundbuden jedenfalls keiner geduldet.
Und nicht nur das, früher waren wir natürlich insgesamt auch fitter. Nichts knackte, weil Knochen Dinge waren, die nur alten Leuten passierten, und keiner
musste nach Feierabend joggen gehen, schließlich hatten wir Sportlehrer – sadistische Viehtreiber, die tagsüber darauf schauten, dass bei uns Jungs der Schweiß lief und bei den Mädels die Brüste wippten, und die abends kräftig ins Glas guckten. Überhaupt war die Schule früher im Nachhinein eine ganz effiziente und korrekte Angelegenheit: Ski waren noch nicht Schi, Jogurt und Spagetti hatten ihr H noch nicht verloren, von Majonäse und Ketschup fange ich lieber gar nicht an, und immerhin lernte man hin und wieder noch was, das man wirklich gebrauchen konnte, so was wie die Tiere des Waldes statt alle Pokémon und ihre
Entwicklungsstufen. Heute dagegen lerne ich jeden Tag was Neues und kann überhaupt nichts davon gebrauchen.
Dafür war ich früher in der Freizeit faul, und das war gut so. Früher musste ich nichts schreiben, kein Instrument lernen, nicht lesen und auch sonst nichts tun, um mich irgendwie selbst zu verwirklichen, bevor es zu spät war. Da wurden die Wolken von ganz alleine lila, wenn man Mist gebaut hatte und die Eltern wutentbrannt nach Hause kamen. Nicht mal Nachrichten musste man anschauen, weil ja immer alles gleich blieb: Der Kohl war seit 100 Jahren Bundeskanzler, die FDP noch kein
Kleinbühnenkabarett, und in der SPD saßen noch linke Säue und keine Finanzmarktderegulierer mit lobbygesponserten Filzpantoffeln. Und so konnte ich früher einfach ungestört hinter dem Haus auf dem Rasen liegen und über die Formen der Cumuluswolken nachsinnieren, während mein bester Freund hinter mir getrocknete Hundekacke so weit warf, wie er konnte.
Und all diese Kleinigkeiten erst: Früher gab es kein Klima, sondern nur Wetter. Und das Ozonloch war zwar ‘ne blöde Sau, aber es war wenigstens wirklich da, und keiner stritt sich darüber. Vielleicht waren die Menschen früher auch einfach
klüger. Früher schloss man sein Privatleben noch gut sortiert in Schreibtischschubladen ein, statt Sichtbarkeitsbeschränkungen für seine Timeline festzulegen. Früher waren sogar die Terroristen noch schlauer. Da wurde erst gebombt und dann gefordert. Heute haben die Bombenleger sogar eigene Fernsehshows und Webseiten und wundern sich dann, wenn der Obama wieder mal ‘ne flotte Drohne mit ‘nem frischen Strauß Luft-Boden-Raketen vorbeischickt. Früher hatten wir keine Bananen, dafür schmeckten die, die wir nicht hatten, himmlisch, während heute die fair gehandelten und nach EU-Norm vorsortierten Bio-Sonnenfrüchte
kiloweise in den Supermarktregalen vergammeln. Früher starb nur der Wald, heute stirbt gleich der ganze olle Planet. Früher hatten wir keine Computer, wir hatten eine Handschrift. Wir hatten nur fünf Fernsehsender, dafür waren die genauso beschissen wie die dreihundert Sender von heute. Früher durften Menschen in Deutschland nicht gefoltert werden, heute schickt man sie ins Dschungelcamp, steckt ihnen dort Mehlwürmer in den Anus und feiert die Quote, früher, früher, früher.
Und doch … Wie sagte Uli Hoeneß, bevor er mit Alice Schwarzer in Zürich einen heben ging: Mir san mia. Genau,
ich bin ich, heute wie damals und wie künftig, und in zwanzig Jahren werde ich zurückblicken, und selig an die Zeit denken, in der wir noch mittelalterlich anmutende Mobiltelefone mit Touchscreen in den Hosentaschen spazieren trugen und uns nicht mit plötzlich explodierenden Hirnimplantaten herumschlagen mussten. Der Mensch streicht seine Erinnerung mit dem goldenen Pinsel, sagt eine chinesische Weisheit, und so bekommt auch das mitunter skurril anmutende Heute ganz sicher bald schon seinen schillernden Anstrich. Damit das so bleibt, mögen wir weiterhin in interessanten Zeiten leben, und das ist übrigens ein chinesischer
Fluch.