Mizes Leben
Durch zahllose Gitterstäbe schauten sie hunderte Katzenaugen an. Sie fixierten sie, brannten sich in ihr dünnes, löchriges Fell ein und wurden des Starrens nicht müde. Seit ihrer Einlieferung in das Tierheim hatte sie keine ruhige Sekunde gehabt. Gleich zu Anfang verkündete hinterhältiges Miauen der anderen Katzen die klar ablehnende Haltung der Neuen gegenüber. Sie war nicht willkommen, was sie auch deutlich zu spüren bekam. Bei der Essensverteilung, die immer außerhalb der Käfige statt fand, wurde
sie angefaucht und abgedrängt. Sie war nicht mutig und stark genug sich durchzusetzen, so blieb sie allein und schaute den anderen zu, wie sie von Egoismus und Fischabfällen satt wurden. Die Pfleger schienen es nicht einmal zu bemerken. Nachdem das Futter in den von Schmutz verklebten Behälter gekippt wurde, waren die Tiere nur noch Luft für sie.
Sie musste immer warten, bis die anderen fertig waren. Dann humpelte sie zu den Resten und fraß was übrig blieb. Ihre Pfote tat bei jedem Schritt schrecklich weh. Die Wunde wollte einfach nicht verheilen. Mit einer Nähmaschine hatte ihr sadistischer
Vorbesitzer sie durchlöchert und dann bluten lassen. Keiner hatte die Schreie gehört, keiner hatte gesehen, wie er sie Tag für Tag quälte und misshandelte. Und so wäre es wahrscheinlich auch weitergegangen, hätte sie nicht eines Tages den Mut gefasst und ein offenes Fenster zur Fluch genutzt. Alles ist besser, als diese Folter, dachte sie.
Aber jetzt lag sie in ihrem Käfig auf einem flohverseuchten Läufer und hatte nur einen Fingerhut, den die Pfleger ihr wie zum Hohn da gelassen hatten. Sollte sie damit spielen? Es erinnerte sie immer wieder an die hunderte anderen Nähutensilien, die ihr Peiniger in seinem Folterkabinett aufbewahrte. Wie
Nadelstiche bohrten sich jede Nacht Albträume in ihren Kopf. Jedes Detail, jeder Schmerz wiederholte und potenzierte seinen Schrecken im Schlaf. Und außerhalb des Käfig schlug ihr abgrundtiefe Ablehnung entgegen. Wie verschworen verachteten sie die anderen Katzen, machten ihr das Leben zur Hölle, zerkratzen ihren Körper und wurden nicht müde, sie psychisch zu malträtieren. Womit hatte sie das verdient? Von einer Hölle in die nächste. Ein Hundeleben war nichts dagegen.
Die einzige Rettung bestand darin, abgeholt zu werden. Sie sah es oft, wie andere Tiere mitgenommen wurde. Sie
wurden raus geholt, dann gab der Pfleger etwas in den Computer am Ausgang ein und kassierte das Geld. Aber wer würde schon so ein heruntergekommenes und verletztes Tier mitnehmen? Ihr ganzer Körper war von Kratzern übersät, das Fell war noch löchriger geworden und sie schaffte es kaum noch, auf den Beinen zu stehen. Sie döste den ganzen Tag vor sich hin und wenn sie einmal durch Zufall mitbekam, wie Interessenten an ihrem Käfig vorbeigingen, vernahm sie meist angewiderte oder erschrockene Blicke. Nein, es gab keine Hoffnung. Sie würde hier liegen bleiben, bis sie eines Tages nicht mehr erwachte und dann endlich
ihren Frieden fände. Niemals würde ihr Name von der Tafel „Zu adoptieren“ verschwinden. Es war hoffnungslos. So schloss sie die Augen und entschlummerte erneut in einen unruhigen, albtraumgeplagten Schlaf. Es regnete wieder Nadeln vom Himmel. Sie versuchte wegzulaufen, aber sie prasselten immer schneller und dichter auf ihren Körper ein. Immer tiefer bohrten sie sich ins Fleisch. Plötzlich kamen sie auch aus dem Boden. Sie konnte nicht mehr weiterlaufen, ihre Pfoten bluteten. Sie rollte sich ein und ließ es über sich ergehen. Der Schmerz brannte und drang immer tiefer in sie ein … dann hörte es plötzlich auf. Sie
spürte zwei Hände, die sie hochhoben und auf ein warmes Kissen legten. Es tat nicht mehr weh. Es tat nicht mehr weh. Jemand trug sie davon und sie wollte die Augen nicht aufmachen. Sie wollte die Wirklichkeit nicht sehen. Dieser Traum sollte ihr letzter sein.