Der Anfang
"Das kann ja was werden." Mühsam zog Lilith ihren schwarzen  Trekkingrucksack von ihrem Kleiderschrank. Er steckte unter vielen Kisten mit alten Sachen fest und sie wollte nicht alles erst hinunter räumen müssen. Also stemmte sie eine Hand gegen den Kistenstapel und mit der anderen zog sie ihn vorsichtig hinaus. Sie schleuderte ihn auf das Einzelbett, welches an der Wand unter dem kleinen Sprossenfenster stand. Sie hasste dieses Zimmer, den es war klein und kahl. Lilith fühlte sich immer wie Harry Potter in dem kleinen Kämmerchen unter der
Treppe. Nur ein Bett, ein Kleiderschrank und ein hölzerner Schreibtisch passten hinein. Es war keineswegs so, dass ihre Eltern es sich nicht leisten konnten, ihr ein größeres Zimmer zu geben. In ihrem Haus wäre genug Platz gewesen. Neben Lilith´ Zimmer war ein dreifach so großer Raum. Ihre Mutter, Georgia Paine bezeichnete es als Abstellkammer. Jedoch standen dort nur alte, verstaubte Bilder drin, die auch in das winzige Zimmer nebenan gepasst hätten. Georgia war nicht ihre leibliche Mutter. Sie und ihr Mann Christopher hatten Lilith adoptiert, als sie drei Jahre alt war. "Warum habt ihr mich damals adoptiert ?" fragte Lillith ihre "Eltern" als sie
fünfzehn war. "Ich wollte mir meinen Körper nicht ruinieren und als Kind sahst du noch schön aus. Alle beneideten mich. Hätte ich gewusst was aus dir wird hätte ich dich niemals mitgenommen." Diese Antwort traf Lillith so sehr, dass sie in den nächsten zwei Jahren anfing zu trainieren und Georgia und Christopher zu hassen. Jetzt, kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag, hatte sie eine normale Figur. Nie wieder würde sie das dicke Mädchen von früher sein. Lilith öffnte den Schrank, nahm einige Sachen und stopfte sie in den Rucksack. Die Kleider, die sich für "öffentliche Auftritte, wo du nicht wie ein Gossenmädchen rumlaufen kannst",
wie es Georgia nannte, ließ sie hängen. Auch den Schmuck ließ sie liegen. Ihr reichten Jeans, ein T-Shirt, ihre schwarzen Bikerboots und die ebenfalls schwarze Lederjacke. Zu den Klamotten im Rucksack legte sie einige Bücher, die sie gern las. Nachdem sie ihr angespartes Geld in die vordere Tasche gesteckt hatte, zog sie ihre Jacke an, beförderte den Rucksack mit einen kräftigen Ruck auf Ihren Rücken, zog ihre Boots an und legte den Hausschlüssel auf den Schreibtisch. Sie zog die Tür hinter sich zu und ging hinunter in das Erdgeschoss.
"Wo willst du hin?" Georgia stellte sich mit verschränkten Armen vor die
Eingangstür und sah sie mit ihrem emotionslosen Blick an. Man sah, dass sie gerade erst aufgestanden war, denn ihre sonst so perfekt liegenden blonden Haare sahen ganz zerwühlt aus und sie trug ihren Satinbademantel.
"Siehst du doch, ich gehe. Die Schlüssel liegen oben auf dem Schreibtisch." Lilith stand dort mit einer Hand auf der Hüfte gestützt und wartete das sie aus dem Weg ging.
"Das kannst du vergessen. Du hast Hausarrest. Geh in dein Zimmer." Sie hob ihren Zeigefinger und zeigte zur Treppe. Lilith reagierte mit einem spöttischen kleinen Lacher. Sie drängte sie  zur Seite und öffnete die Haustür.
"Wenn du jetzt gehst, brauchst du nie wieder kommen." schrie Georgia ihr  hinterher. Dann folgte eine kleine bösartige Rede. Während sie redete, öffnete Lillith ihre Jackentasche, holte sich eine Zigarette heraus und zündete sie an. Bevor Georgia antworten konnte, sagte Lilith:  "Danke für nichts. Ich hoffe ich muss dein Botoxgesicht und deine falschen Haare nie wieder sehen." Sie drehte sich um und ging, ohne die Reaktion abzuwarten.
Der NeuanfanG
"Wo soll es hingehen, junge Dame?". Ein älterer Busfahrer sah sie mit braunen, gutgelaunten Augen an. Es war Fred. Er war seit Lillith in diese Stadt kam schon der Busfahrer der Linie 495, mit der Lillith jetzt raus aus der Protzhölle wollte, wie sie das Reichenviertel von Albertson nannte.
Hier grenzte Villa an Villa, Kinder spielten nie auf den Straßen, alles sah steril aus, in jedem Vorgarten stand ein Gärtner und die Damen des Hauses versuchten besser auszusehen, als ihre Nachbarinnen.
"Hallo Fred." Lillith mühte sich ein
Lächeln ab, einfach weil Fred eins verdiente. "Raus aus der Stadt. Ganz weit weg. Ein neues Leben anfangen. Arbeiten gehen, Freunde finden, eine Zukunft." Fred, der nur den Mindestlohn verdiente und 6 Tage in der Woche arbeitete, um seine Familie über die Runden zu bringen, sah sie mit erleichtertem Blick an. "Endlich. Lilli du machst das Richtige. Ich bin stolz auf dich." Seine letzten Worte hallten in ihr wieder. Ihr wurde warm ums Herz.
Lillith holte ihre Karte aus der Jackentasche, faltete sie auf und tippte auf ein kleines Städtchen. "Da möchte ich hin." Sie lächelte. "Nach Westbury? Gute Wahl." Wie jeden Tag, war um
diese Uhrzeit keiner in dem Bus. Deshalb setzte sie sich auf den ersten Platz, schräg hinter Fred. Zwei Stunden und 14 Minuten würde die Fahrt dauern, deshalb kramte sie ein Buch aus ihrem Rucksack und begann zu lesen.
Im Hintergrund sang Fred die Lieder aus dem Radio mehr schlecht als recht mit, dennoch fand Lillith es amüsant und stimmte mit ein. Andere Menschen die inzwischen dazugestiegen waren konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Lilltih fühlte sich in diesem Bus, auf den Weg in ihr hoffentlich besseres Leben, so ungezwungen wie noch nie und war deshalb selbst von sich überrascht.
Kurz vor Westbury gribbelte es in der
Magengegend. Die Gedanken zogen nur so an Lillith vorbei. "Was wenn das alles eine schlechte Idee war und es ein kompletter Reinfall wird ? Wo soll ich hin? Zurück kann und will ich nicht mehr." Schnell schob sie diese Gedanken beiseite und redete sich Mut ein.
"Lilli, gleich sind wir da. Freust du dich auf das was dich erwarten wird?" Fred lächelte sie durch den Rückspiegel an. "Ich glaube schon." Er musterte sie. "Hey, immer positiv denken. Meinst du es wird schlimmer als bei deinen Adoptiveltern?" Lillith dachte kurz nach und lächelte Fred an. "Ich glaube, dass es besser werden kann, wenn ich mich anstrenge und dafür kämpfe. Was aber
mache ich, wenn es ein kompletter Reinfall wird? Wo soll ich hin?"
Fred, der an der nächsten Haltestelle stoppte, um zwei ältere Damen "einzusammeln", kramte in seinem Handschuhfach herum, bis er einen Zettel fand. Er überreichte ihn Lillith und fuhr weiter. "Das ist meine Telefonnummer. Wann immer dich Zweifel überkommen oder du Hilfe brauchst, ruf mich an. Jederzeit, egal wann. Auch wenn alles gut für dich läuft, melde dich bei mir."
Lillith, die langsam ihre Sachen zusammenkramte, war gerührt und musste ihre Tränen zurückhalten. Fred war für sie wie ein Vater. Nie gab es ein
Mann in ihrem Leben, bei dem sie sich so geborgen gefühlt hatte, wie bei ihm. In der Schulzeit fuhr sie jeden Tag mit dem Bus in den Nachbarort und redete mit Fred über ihn, über sie, über seine Familie, über die Arbeit und die Schule. "Danke Fred, ich werde dich auf jeden Fall anrufen. Danke, dass du all die Jahre so nett zu mir warst."
Der Bus stoppte. Es war Zeit für sie auszusteigen und zu der Adresse zu gehen, die die Vermieterin einer kleinen Wohnung ihr am Telefon sagte, als sie vor einer Woche bei ihr anrief um ihren Neuanfang zu planen. Fred erhob sich von dem Fahrersitz und drückte Lillith ganz fest an sich. "Du schaffst das,
Kleine. Gib nicht auf, egal wie schwer es erscheint." Auch ihm sah man an, dass er gerührt war. Mit einem Danke stieg sie aus und atmete tief durch. Als der Bus losfuhr, hupte Fred 2 mal und Lillith winkte.