Emils Klassentreffen
"Welcher Teufel hat mich geritten, als ich diese Einladung angenommen habe“, überlegte Emil und zerrte am Knoten seiner blau-schwarz-karierten Krawatte, die ihm schier den Hals zudrückte. Gabi hatte sie ihm gebunden. Viel zu eng, wie sich jetzt herausstellte. Und Gabi war es auch, die Schuld daran hatte, dass er überhaupt hierher gefahren war.
„Natürlich gehst du zu dem Klassentreffen. Das würde dich ewig reuen, wenn du diese Gelegenheit sausen lassen würdest. Alte Schulfreunde wiederzusehen, was gibt es
denn Schöneres?", hatte sie so leicht dahin gesagt.
Meine Schulfreunde, dachte Emil.
Ach, Gabi, wenn Du wüsstest.....
Doch ein paar Tage später hatte dann Markus angerufen. Markus - der einzige, an den er sich gerne erinnerte.
"Hey, Kumpel, ich freue mich total, dich wiederzusehen....Was, du willst mich da alleine hingehen lassen?.....Das kannst du doch nicht bringen..."
Nein, das konnte Emil nun wirklich nicht. Wie oft hatte sich Markus an seine Seite gestellt, wenn er wieder einmal am Pranger gestanden war? Wie oft hatte er zu den Anderen gesagt: "Lasst den Emil in Ruhe, er hat euch doch nichts getan."
Aber was, wenn der Körner auch da wäre. Nein, das war gar nicht möglich, der Körner müsste jetzt schon weit über neunzig sein. Der war vielleicht schon verstorben oder bereits so hinfällig, dass ...
Emil gab sich einen Ruck und sagte: "Okay, Markus, ich komme!"
Und nun saß er hier im Gasthof zum Goldenen Hirschen, im Kreis seiner ehemaligen Klassenkameraden und kämpfte mit Atemnot, wofür er die Ursache bei der zu eng gebundenen Krawatte suchte.
Ja, er war nett begrüßt worden und doch meinte er hinter manchem "Schön, dass du auch da bist" ein "Was macht der denn hier" herauszuhören.
Aber Markus saß auch an seinem Tisch und der band Emil immer wieder in das Gespräch mit ein, so dass er sich nach einiger Zeit gar nicht mehr als Außenseiter vorkam. Vielleicht hatte Gabi doch recht gehabt, dass man sich ein Klassentreffen nicht entgehen lassen durfte, auch wenn damals nicht alles so gewesen war, dass man die Erinnerung daran gerne aufleben ließ.
Das Dessert wurde bereits aufgetragen, als der Organisator des Treffens - der ehemalige Schülersprecher - aufstand und zu einer Ansprache anhob. Wie sehr man sich freuen würde, dass so viele gekommen sind und welch eine riesengroße Freude es sei, dass er nun einen Überraschungsgast
ankündigen könne. Ein Mitglied des ehemaligen Lehrkörpers wolle es sich nicht nehmen lassen....
Der Krawattenknoten verstärkte den Druck auf Emils Adamsapfel.
Die Gaststubentüre öffnete sich und ein alter, gebeugter Mann wurde von einer Frau mittleren Alters hereingeführt.
Körner, durchfuhr es Emil und dann sah er in diese alles durchdringenden Katzenaugen, die ihn seit so vielen Jahren verfolgten.
Pfarrer Körner war da!!!
Und der wurde von der freundlich lächelnden Frau zum Platz neben dem ehemaligen Schülersprecher geleitet, wo er sich jedoch
partout nicht setzen wollte, obwohl ihn seine Begleiterin
inständig darum bat. Er müsse gleich eine Rede halten und das würde sie gar nichts angehen. Sie solle ihm seine Ruhe lassen und sich schleunigst auf den Nachhauseweg machen. Dort würde der Schmutz auf den Läufern sowie ihre Nähmaschine und seine eingerissenen Talare auf sie warten, herrschte er sie an. Jeder im Gastraum konnte seine
ärgerliche Stimme hören. Während die Frau zum Ausgang ging, fing Emil einen Blick von ihr ein. Es war ein Blick voller Scham und Verlegenheit.
Emil riss sich mit einem Ruck die Krawatte vom Hals, weil der Druck nun unerträglich geworden war.
Wie durch einen Schleier drang die Stimme des Pfarrers an sein Ohr:
"Eine schreckliche Person, meine Haushälterin. Ihr Verstand passt in einen Fingerhut, hehe. Ach, wie freue ich mich, euch alle wiederzusehen. Und wie gerne denke ich an unsere schöne gemeinsame Zeit zurück. Ich hoffe, es ist aus allen etwas geworden?! Nun, ich habe mich ja auch bemüht, anständige Menschen aus euch zu machen. Auch wenn es da welche gegeben hat, bei denen Hopfen und Malz verloren schien, nicht wahr, Emil?"
Mit hochrotem Gesicht stand Emil auf und sah dem hinterhältigen, alten Pfarrer mit zusammengekniffenem Mund pfeilgerade ins Gesicht.
Doch der legte nach:
"Sag, Emil, was ist denn geworden aus dir?"
"Ich verkaufe und repariere Computer", erwiderte Emil und hörte sich nach einem kurzen Zögern sagen:
"Und aus ihnen, Pfarrer Körner, was ist aus ihnen geworden?"
Perplex ob dieser Gegenfrage wandte sich der Pfarrer an die Runde, nachdem er sich wieder gefangen hatte:
"Schaut ihn euch an, den Emil. Frech werden möchte er."
Doch Emil ließ sich nicht beirren.
"Behandeln sie Leute, die von ihnen abhängig sind, noch immer wie Abschaum? Wie vielen anderen Jungs haben sie nach mir die Hosen herunter gezogen, um ihnen vor
versammelter Klasse den Hintern zu versohlen? Wem haben sie außer mir noch ihr erigiertes Glied gezeigt und hinterher mit ein paar Geldstücken oder einer Tafel Schokolade bestochen, den Mund zu halten? Also, was ist, Herr Pfarrer, sie sind mir eine Antwort schuldig. Was ist aus dem Mann geworden, der all das zu verantworten hat?"
Körner war mit leichenblassem Gesicht auf seinen Stuhl gesunken. Im Raum war es jetzt mucksmäuschenstill. Emil spürte eine Hand auf seinem rechten Arm. Markus war an seine Seite getreten. Und mit ihm ein weiterer ehemaliger Mitschüler. Als Emil in ihre Gesichter sah, wusste er, dass auch sie Opfer von Körners grenzenlosem Egoismus geworden waren.
Ohne noch ein Wort zu verlieren oder sich noch einmal nach dem früheren Peiniger umzusehen, verließen sie gemeinsam das Lokal.
An Emils Handgelenk baumelte die blau-schwarz-karierte Krawatte.
"Seltsam", sagte er nachdenklich, nachdem er eine SMS an Gabi geschrieben hatte,
"ich dachte doch tatsächlich, das Ding da wäre schuld."
Und dann atmete er tief ein und inhalierte mit der frischen Luft auch das seit vielen Jahren herbei gesehnte Gefühl der Befreiung.