Das Wesentliche
Sie konnte nichts sehen. Rein gar nichts. Genauso gut hätte sie blind sein können. Wo kam nur der ganze … Nebel her?
Stimmt ja.
Sie musste husten.
Kein Nebel. Rauch. Das war Rauch. Jetzt erinnerte sie sich wieder.
Auf der Suche nach einem Fenster tapste sie orientierungslos durch den Raum. Seltsamerweise schien der aber plötzlich keins mehr zu besitzen. Vergeblich tastete sie sich an der Wand entlang, es war einfach
nicht zu finden! Vielleicht hatte sie es tatsächlich geschafft, es sich über die Jahre nur einfach immer und immer wieder einzubilden? Und dieses fragwürdige 'Fenster' hatte in erster Linie nie wirklich existiert? Wie auch immer es sein mochte, egal war es letzten Endes so oder so.
Ganz nebenbei machte sie sich auch keine allzu großen Hoffnungen, die Tür, durch die sie in den Raum gekommen war, wieder zu entdecken. Bestimmt befand sie sich genau dort, wo sie es am wenigsten vermuten würde. So lief das nun mal eben.
Mittlerweile hegte sie auch eine bestimmte Befürchtung: Würde sie hier am Ende noch verrecken – so lächerlich das auch sein mochte? Als Räucherschinken?
Fast schon wieder zu albern, um wirklich darüber lachen zu können.
Das Luftholen fiel ihr zunehmend schwerer. Es war ihr, als würde sie versuchen, lodernde Flammen einzuatmen. Und dabei irgendwie scheitern. Sie kam nicht umhin, Drachen für diese Fähigkeit zu bewundern. Feuer in der Lunge zu haben, konnte man immerhin nicht gerade als angenehm bezeichnen – sie sprach nun ja fast aus Erfahrung.
Keuchend unternahm sie den Versuch, ihre Atmung zu verlangsamen. Aber wie stellte man das nur an? Sie hatte plötzlich und kurioserweise nämlich das Gefühl, das Atmen, den gesamten Vorgang, verlernt zu haben –
oder hatte sie es überhaupt irgendwann beherrscht? Möglicherweise fehlte ihr die Übung auch nur? Wirklich, es hatte etwas von Prüfungsangst, bei der man vor unsinniger Nervosität die selbstverständlichsten – überlebenswichtigsten! – Dinge meinte, vergessen zu müssen.
Ja, unsinnig war hierbei das Schlagwort. Unsinnig, fatal.
Ruhig, Herz, flehte sie innerlich, hör auf, dich so aufzuregen. Du willst uns doch nicht etwa umbringen, oder? Sterben tun wir auch, ohne dass du einen Herzinfarkt hast.
Wären ihre Tränen nicht vor einer Weile schon ausgetrocknet, hätte sie jetzt geheult wie ein Schlosshund. Und schließlich wollte
sie nicht unnötigerweise wertvolle Körperflüssigkeiten vergeuden. In ihrem eigenen Schweiß zu verenden, fand sie schon schlimm genug.
So saß sie einfach nur stillschweigend, hin und wieder hüstelnd, auf dem erhitzten Fliesenboden und wartete auf ihr Ableben, auf einen Retter, oder auf den Sensenmann. Genau wusste sie es selbst auch noch nicht. Mittlerweile hatte sich ihr Gehirn vermutlich ebenfalls in eine Art Rauchwolke aufgelöst.
Bye bye, du schnöde Welt, schmachtete sie in Gedanken, ihre letzten Worte probend, willst mich wohl nicht mehr. Tja, ich dich dann eben auch nicht. Was kann man da schon noch groß
machen.
Es war seltsam, noch die Zeit zu haben, sich seine letzten Worte genau zu überlegen. Es ließ etwas an Tragik und Belang vermissen, denn unwichtigste Dinge schossen ihr durch ihr Rauchwolkengehirn: Jemand musste ihrem Dozenten von ihrem Tod erzählen, sonst würde sie posthum noch durchfallen wegen einer nicht abgegeben Arbeit. Und die Blumen! Sie hatte ihrer Mutter doch versprochen, sich um sie zu kümmern, während sie auf Kur war! Und wer würde ihrem Freund –
Unvermittelt sah sie buchstäblich Licht am Ende des Tunnels. In einem Anflug von geistiger Umnachtung glaubte sie, ein Engel würde sie abholen kommen. Als der seinen
Kopf durch die vermeintliche Himmelspforte steckte, röchelte sie ehrfürchtig:
„Kommst du, um mich mitzunehmen, lieber Engel?“
Der Engel verdrehte daraufhin nur die Augen und meinte: „Engel? Wär' mir aber neu. Hast wohl zu viel Rauch eingeatmet, was?“
Verwirrt fixierte sie den falschen Himmelsboten – mehr oder weniger, denn alles, was sie mit Sicherheit ausmachen konnte, war ein verschwommener Schatten.
Langsam, sehr langsam, dämmerte es ihr.
Kein Engel, sondern ihr Freund riss gerade das kleine Fenster, das sie zuvor nicht finden konnte, auf, schaltete Herd sowie Wasserkocher aus und zog sie am Arm auf die Beine. Erst jetzt bemerkte sie außerdem
den ausdrücklichen Geruch nach undefinierbarem Verbranntem. Oh.
Er schüttelte tadelnd seinen Kopf. „Echt. Jedes Mal. Wenn du nicht so vergesslich wärst, würde das Kochen vielleicht nicht ganz so ein großes Problem darstellen.“
Noch etwas schwach auf den Beinen drückte sie ihm vorsichtig einen Kuss auf den Mund und entgegnete heiser: „Du kannst froh sein, dass ich besser küsse als ich koche.“
Fragend schaute er sie an. „Ach, echt? Mir wären normale Mahlzeiten ganz lieb. Warum, also.“
Sie schürzte gespielt gekränkt die Lippen. „Blödmann. Natürlich, weil ich dich sonst nicht so gut belohnen könnte, wenn du mir mal
wieder das Leben rettest.“
Grinsend küsste sie ihn wieder. Und wieder. Und wieder.
„Was ist jetzt eigentlich mit Essen?“