Sie greift zum Telefon und wählt den Notruf 112. „Kommen sie schnell in die Lange Straße 57. Hier ist etwas Schreckliches passiert“ sagt sie mit leiser Stimme, öffnet die Tür, setzt sich auf die obere Stufe vor dem Haus und starrt mit leerem Blick in den Schmutz neben der Treppe.
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Vor 35 Jahren war ihr Leben noch in Ordnung. Mit 18 arbeitete sie stundenweise in der Schneiderei „Heesling“. Das Geld brauchte sie für ihr Studium in Frankreich. Mode und Design,
ihr Kindheitstraum.
Der Chef, Albert Heesling, kam täglich vor Schichtschluss. Er kontrollierte die fertigen Aufträge, prüfte die Tageseinnahmen und
besprach mit Frau Rosenfels, seiner leitenden Angestellten, alles Weitere für den nächsten Tag.
Er war ein Mann der seinen 28 Näherinnen und Hilfskräften Respekt einflößte. Mit aufrechtem Gang, das Bandmaß um den Hals, ging er von Nähmaschine zu Nähmaschine, tippte mit der Elle jeder Frau anerkennend oder ärgerlich auf den Rücken. In die Tabelle auf der Tafel neben der Wand trug er persönlich "Ist" und "Soll" jeder Einzelnen ein. Es wurde nach Leistung bezahlt.
Damals im Herbst, kurz vor ihrem Studium, machte Albert Heesling seinen Sohn Gernot zum Juniorchef. Der war jung und glücklich verheiratet. Seine Frau Rotraud, eine schwarzhaarige Schönheit mit Katzenaugen, war schwanger und aus gutem Hause. Gernot
Heesling übernahm das tägliche Prozedere seines Vater.
Nach dem Studium arbeitete sie 5 Jahre in Berlin als Modistin.
1989, als die Schneiderei Heesling eine leitende Angestellte suchte, bewarb sie sich per Computer, sprach persönlich vor und bekam den Job. Mit einer Portion gesunden Egoismus
und vielen Ideen begann ihr Leben neu.
Am Anfang lief alles gut. Doch als Gernot Heesling den rechten Arm und ein Auge bei einem Verkehrsunfall verlor und seine Frau kurz darauf an Krebs verstarb, änderte sich alles. Jahrelang musste er stationäre und psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Sie
wurde für Albert Heesling zur wichtigen Ansprechpartnerin. Ihr Arbeitstag hatte nicht selten mehr als 12 Stunden.
Unterstützung von den Näherinnen bekam sie nicht. Im Gegenteil. Diese versuchten mit kleinen Widerwärtigkeiten ihr das Leben zur Hölle zu machen. Mal waren die Zugfedern
der Maschinen ausgeleiert, mal die Befestigungsschrauben am Nadelhalter kaputt und manchmal war ein teurer Stoff durch ein Ölfleck verdorben.
An einem Freitag fehlte ein größerer Geldbetrag in der Kasse. Auch der goldene Fingerhut mit den drei Brillantsplittern, Albert Heeslings Talismann, war verschwunden.
Sie sprach mit jeder Näherin unter vier Augen. Doch keine hatte irgendetwas gesehen. Frau Belzig, eine der Ältesten, schrie außer sich vor Wut:„ Jeder hier weiß, dass sie ganz nach oben wollen. Um glänzen zu können, braucht man da sicher schon die ein oder andere D-Mark. Wem haben sie das Geld denn heimlich gegeben, damit hier alles wie am Schnürchen läuft. Eine Frechheit was sie mir unterstellen. Ich mache hier nur meine Arbeit. Mir ist es völlig egal, wer hier wie und mit wem kunkelt oder unter einer Bettdecke steckt."
Bodo, der Sohn Gernot Heeslings, besuchte damals das Gymnasium und dortige Internat in München. Nur in den Ferien kam er nach Hause. Er streunte dann oft ohne wirkliches
Interesse durch die Schneiderei. So war es auch an diesem Freitag.
Er benahm sich wie ein kleiner Prinz, wusste alles besser, spielte sich auf und ärgerte alle mit kleinen hinterhältigen Boshaftigkeiten.
Auch ihn fragte sie, ob er das Geld und den Fingerhut genommen hätte um ihr einen Streich zu spielen. Daraufhin beurlaubte sie Albert Heesling auf unbestimmte Zeit.
Beim Zusammenpacken ihrer Sachen stand Bodo Heesling an der Tafel und schrieb mit roter Kreide unter die Tabelle mit den Tagesleistungen:
"Strafe bei Diebstahl- Abhacken der rechten Hand, doch das Mittelalter ist leider vorbei."
Nach drei Monaten kündigte sie von selbst.
Der Zwischenfall sprach sich schnell herum. Die ganze Kreisstadt wusste davon.
Sie fand lange keine richtige Arbeit. Hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.
Erst als sie nach Berlin zog, gelang ihr der Neustart. Ihr eigenes Modelevel und die exklusive Boutique brachten ihr bald eine Menge Aufträge und sogar internationale Kundschaft.
In ihrer Schneiderei arbeitete man rund um die Uhr, um alle Aufträge pünktlich zu erledigen.
Vor 4 Jahren tauchte Bodo Heesling wie aus dem Nichts bei ihr auf und kam sofort zur Sache.„Sein Großvater wäre gestorben und seinem Vater gehe es nicht gut. Er, als jetziger
Chef, sei durch das Internet auf ihr Modelevel aufmerksam geworden. Sicher würde sie aus heimatlicher Verbundenhei an einer Zusammenarbeit mit seiner Schneiderei interessiert sein.“
Als sie ablehnte, drohte er: “das werden sie noch bereuen und ihr blaues Wunder erleben.“
Kurz darauf, bei einer ihrer Modenschauen, saß er in der ersten Reihe zwischen ihren wichtigsten Kunden. Er zeigte empört mit dem Finger auf sie und beschwerte sich laut über schlampige Zuschnitte, billige Stoffe, veraltete Accessoires, Ideenklau, Lohndumping und Kinderarbeit.
Ein gefundenes Fressen für Presse und
Fernsehen. Tagelang belagerte man ihr Haus.
Die größte Boulevardzeitung schrieb auf der Titelseite „Skandal in der Modeszene, ist XXXXXXXX noch tragbar?“
Im Fernsehen interviewte man Kunden, ehemalige Studienkolleginnen, Einwohner ihrer Heimatstadt und auch Frau Belzig. Frisch frisiert rief sie entrüstet in die Kamera: “die war schon immer skrupellos, erwähnte den Diebstahl, den Verlust des goldenen Fingerhutes und sagte wie nebenbei:" wer einmal stielt, kann das Betrügen eben nicht lassen."
Der Spießrutenlauf nahm kein Ende. Sie wurde krank. Ihr ging es immer schlechter. Als Körper
und Kopf das nicht mehr verkraften konnten, kam es zum Zusammenbruch. Sie zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück, verkaufte alles, lebte allein.
Als es heute morgen an der Tür klingelte, dachte sie es wäre der Postbote. Sie erschrak als Bodo Heesler im maßgeschneiderten Anzug mit Hut und Mantel vor ihr stand.
„Kann ich reinkommen“, fragte er barsch. Noch ehe sie antworten konnte, lief er durch den Flur bis in die Küche. „Ich will ihnen ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen können, jetzt wo ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Ich brauche jemanden, der weiß worauf es ankommt und der Ahnung von Mode hat. Als Zeichen der Versöhnung habe ich ein Geschenk
mitgebracht, sozusagen als Wiedergutmachung, weil die Belzig mich damals angestiftet hat", sagte er mit ironischem Unterton.
Er zog ein kleines Päckchen aus seiner Hosentasche und wickelte den Inhalt vorsichtig aus. Der goldene Fingerhut mit den drei kleinen Diamantsplittern glänzte im Licht der Küchenlampe. Er steckt ihn sich auf die Kuppe des rechten Daumens, hielt ihr die Hand zur Begutachtung hin und lächelte.
Ihr Herz begann zu rasen und ihr Kopf wollte zerspringen. Wie im Trance ergriff sie das große Fleischhackmesser und schlug damit mehrmals mit voller Wucht auf seine Hand. Die Schreie hörte sie nicht. Kam erst wieder zu sich,
als sie den blutdurchtränkten Läufer auf dem Küchentisch und Bodo Heesling ohnmächtig am Boden liegen sah.
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Ihr Atem geht gleichmäßig. Sie zittert nicht mehr. Von weitem hört sie das Sirenengeheul des Krankenwagens und der Polizei. Sie sitzt vor dem Haus und wartet. Jetzt, wo alles vorbei ist, fühlt sie sich frei wie ein Vogel in der Luft, ohne Reue und ohne Angst vor Öffentlichkeit und Strafe.
© Martina Wiemers