„Cindy, mein Schatz. Warum weinst du?“ Sie schreckte hoch. Saß aufrecht in ihrem Bett und blickte wild um sich. „Hier drüben.“ Sie schaute zum Fenster und erschrak. Das konnte nicht wahr sein. Sie musste eingeschlafen sein und nun träumte sie. Oder irgendwer trieb mit ihr üble Scherze. „Hab ich dich erschreckt? Tut mir leid, das wollte ich nicht.“ „Du bist...du bist...“, stammelte sie. „Ich weiß. Es tut mir leid. Irgend so ein Idiot hat mir die Vorfahrt genommen. Ist voll in mich reingefahren. Da war was
los. Deswegen komme ich auch so spät. Ich habe nicht vergessen, das ich dir bei deinem Schulprojekt helfen wollte. Hab dafür extra ein paar Minuten eher Feierabend gemacht. Hätte ich gewusst, was passiert, ...“ „Papa, du bist tot. Vor...einer Stunde, etwa, war die Polizei bei uns gewesen und hat uns das gesagt.“ „Was soll ich sein? Tot? Wenn ich tot wäre, könnte ich jetzt nicht hier stehen und mit dir reden. Sieh mich an. Ich...“ „Du schwebst über dem Fußboden. Ich kann durch dich hindurchsehen.“ „Dafür gibt es sicherlich eine logische Erklärung. Du hast mit ein paar Schulfreunden irgendwas im Fußboden
eingebaut, das die Illusion erzeugt, das ich wie ein Geist aussehe. Nicht schlecht. Wie habt ihr das gemacht?“ „Wir...Geh durch die Tür. Bitte. Geh durch die Tür. Dann wirst du sehen, das dies kein Trick ist.“ „Also gut. Wenn es dich beruhigt, hole ich mir jetzt eine Beule.“ Rückwärts lief er durch die Tür. Merkte nicht, wie er durch die geschlossene Tür schwebte. Erst als er davor stand und seine Tochter Cindy nicht mehr sah, bemerkte er, was er getan hatte. Begriff er langsam, das sie recht hatte und er wirklich tot war. „Ich komme gleich wieder. Deine Schwester und deine Mutter. Ich möchte
wissen, ob sie mich auch sehen können, oder nur du es kannst.“ Doch sie bemerkten ihn nicht. Spürten nur einen kurzen, kalten Windhauch, als er in ihre Nähe kam und auch, als er wieder verschwand. Sie hörten ihn nicht. Sahen ihn nicht. Aber warum konnte Cindy ihn sehen und hören? Gerade Cindy. Mit ihr hatte er oft Schwierigkeiten gehabt. Oft hatte sie sich von ihm Distanziert. Ging ihm aus dem Weg. Nur selten erlebte er fröhliche Momente mit ihr. „Du bist die Einzigste, die mich wahrnimmt. So ändert sich eben alles. Früher, als ich noch am Leben war, war ich oft Luft für dich. Redete gegen die
Wand, während ich dir ins Gesicht sah. Was hab ich dir getan, das du so wenig mit mir zu tun haben wolltest?“ „Ich weiß es nicht. Eigentlich warst ein cooler Vater. Nur manchmal warst du richtig peinlich. Außerdem bin ich Teenager. Die wissen nicht, was sie tun. Wir ändern ständig unsere Laune. Leb damit...Sorry.“ „Schon gut. Ich muss auch erstmal damit klarkommen, das ich tot bin. Bis vor wenigen Minuten dachte ich, das ich noch am Leben wäre. Wobei ich mich an die letzten zwei Stunden absolut nicht erinnere. Wenn ich es versuche, sehe ich diesen Wagen, der mir die Vorfahrt nimmt und es schafft, in mich
reinzufahren.“ „Papa!? Es tut mir leid, das ich oft so gemein zu dir war. Stimmt schon, das ich nicht immer damit einverstanden war, was du gesagt hattest. Mit deinen Regeln und so. Aber das ist noch lange kein Grund, dich zu ignorieren. Schließlich hattest du es immer nur gut gemeint. Wolltest uns beschützen. Meine Freundin Isa hatte mir mal gesagt, das sie sich über so einen Vater freuen würde. Der an sein Kind denkt. Sie hat auch gesagt, das es nicht böse gemeint ist, wenn du willst, das ich spätestens um zehn zu Hause sein soll und du mich schimpfst, wenn ich später komme. Es ist ein Zeichen dafür, das du
mich liebst. Das du nicht willst, das mir was passiert...“ „Isa hat recht. Vielleicht habe ich meine Fürsorge manchmal übertrieben. War manchmal wirklich zu streng mit dir. Aber ich las Zeitung und verfolgte die Nachrichten. Ich wollte nicht, das dir das gleiche zustößt, wie so vielen anderen jungen Mädchen. Verführt. Entführt. Missbraucht und vergewaltigt. Misshandelt. Auf dem Strich... Die Berichte haben mir Angst gemacht. Jedes mal, wenn du nach Hause kamst, fiel mir ein Stein vom Herzen. Denn du lebtest und warst gesund. Es lag nicht daran, das ich kein Vertrauen zu dir hatte. Ich habe nur kein
Vertrauen zu all den anderen. Du bist meine Tochter. Ich liebe dich über alles. Es tut mir leid, das ich dir nicht zeigen konnte, wie sehr ich dich liebe.“
„Und mir tut es leid, das ich nicht verstehen wollte, warum du so warst.“
„Komm her. Lass dich umarmen...Ach ja. Hab ich vergessen. Ich bin...“
„Aber nicht vergessen.“
Geräuschlos löste er sich.