Nach einem Sturz im Wald findet sich Lisa an einen mysteriösen Ort wieder, der ein Geheimnis bewahrt. Schnell wird ihr klar, dass sie sich nicht ohne Grund hier befindet...
Ich hatte plötzlich den Drang zu laufen. Meine Füße trugen mich unbeirrt immer weiter in den düsteren Wald hinein. Ich wusste weder, wovor ich weglief, noch, wo ich mich befand. Ein Ast nach dem anderen streifte meine Haut und jeder einzelne fühlte sich an, wie tausend Peitschenhiebe. Meine Arme und Beine brannten vor Schmerz und meine Kehle loderte wie Feuer. Hektisch sog ich immer wieder die eiskalte Nachtluft ein und stieß sie dann in einer Wolke aus. Ich konnte einfach nicht aufhören zu Laufen. Überall hörte ich seltsame Geräusche und konnte es nicht
unterlassen mich ständig umzusehen. Der leuchtende Mond warf unheimliche Schatten in den Wald, die mich zu verfolgen schienen. Plötzlich verlor ich den Halt unter meinen Füßen und fand mich im nächsten Moment auf dem weichen Waldboden wieder. Ich fühlte feuchtes Moos unter meinen Fingern, doch konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Es schien, als würde sich der Wald um mich herum zu einer einzigen grauen Masse verbinden, die immer näher kam. Panisch versuchte ich einen klaren Kopf zu behalten, doch ich konnte mir nicht erklären, was hier geschah.
Wenige Sekunden später hatte sich das
Grau in ein schmutziges Weiß verwandelt und ich befand mich mitten darin. Es umgab mich wie eine Wolke, die langsam Gestalt annahm. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit, war mein Blick verschwommen und ich musste die Augen zusammenkneifen. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich mich daran gewöhnt hatte und mein neues Umfeld erkennen konnte. Ich lag auf einer schneebedeckten Wiese und die Sonne stand senkrecht am Himmel. In das strahlende Blau mischten sich wenige dünne Wolken. Doch der Schnee war nicht kalt, so wie ich es erwartet hatte, im Gegenteil herrschte eine gerade angenehme Temperatur. Schnell stand
ich auf, als ich bemerkte, dass auch noch andere Menschen hier waren. Der ein oder andere warf mir einen Blick zu, doch sie schienen sich nicht sonderlich für mich zu interessieren. Einige von ihnen lachten, andere sahen bestürzt aus und wieder andere schienen konzentriert, als erwarteten sie etwas Großes. Ziellos bewegte ich mich vorwärts. Links von mir endete ein Laubwald, dessen kahle Bäume von der Last des Schnees beinahe begraben wurden. Rechts von mir erblickte ich ein einziges großes Feld, um das alle einen Bogen zu machen schienen. Irritiert entschied ich jemanden zu fragen, wo ich mich befand.
„Hallo“, steuerte ich auf einen Jungen
zu, der dasselbe Alter wie ich zu haben schien, „Kannst du mir sagen, wo ich bin?“ Auf dem Gesicht des Jungen breitete sich ein Lächeln aus. Es sah fröhlich aus, und doch erkannte ich Belustigung in seinen blauen Augen.
„Wo du bist? Schöne Frage“, lachte er
und ich bedachte ihn mit einem irritierten Blick, „Na, überall und nirgendwo.“ Ich konnte mit seinen Worten nicht viel anfangen und das schien auch er zu bemerken. Vielleicht war es seine Absicht gewesen, mich zu verwirren, vielleicht nicht, jedenfalls schien er Mitleid mit mir zu haben.
„Na komm, ich bringe dich lieber zu Laurena. Sie wird dir alles erklären“,
sagte er und führte mich in die Richtung, aus der er gekommen war.
„Du bist wohl zum ersten Mal hier.“ Es war keine Frage und ich wusste auch nicht, was ich hätte antworten sollen. Schließlich wusste ich ja noch nicht einmal, wo ich war. Auf dem Weg fiel mir etwas in den Blick, was schlicht unmöglich war. In der Ferne sah ich Bäume, die nicht mit Schnee bedeckt waren, sondern mit satten, leuchtenden Blättern. Sie reihten sich dicht an dicht mit schneeüberzogenen Sträuchern, Büschen und Bäumen, die im Sonnenlicht glitzerten. Ich vermutete, dass mein Blick durch den Sturz im Wald noch immer vernebelt war. Wenige Minuten
später waren wir an einer kleinen hölzernen Hütte angelangt.
„So, da sind wir“, sagte der Junge und klopfte an die Tür, „Ich bin übrigens Julian.“
„Lisa“, stotterte ich, „Danke.“ Als ich mich wieder umdrehte, stand eine sportliche Frau im Türrahmen und lächelte einladend.
„Da bist du ja, wir haben alle auf dich gewartete. Komm rein!“, begrüßte sie mich, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte. Ich betrat die Hütte, die aus nur einem Raum bestand. Dennoch war sie gemütlich eingerichtet und war größer, als sie von außen wirkte. In der einen Ecke des Raumes loderte ein kleines
Kaminfeuer, welches aber nur wenig Wärme abgab. Auf dem Holzboden lag ein dicker, weicher Teppich und darauf stand ein gemütlich aussehendes Sofa. „Ich bin die Vertreterin der menschlichen Seelen. Du kannst mich Laurena nennen“, sagte sie und streckte mir ihre schmale Hand hin. Ihr strahlendes Lächeln verlieh ihr eine jugendliche Leichtigkeit, doch ihre Augen waren besorgt.
„Ich bin Lisa. Alle haben auf mich gewartet? Was soll das bedeuten?“, fragte ich und rang mich zu einem verlegenen Lächeln.
„Das bedeutete, dass jeder hier weiß, wer du bist. Du bist etwas Besonderes,
denk daran, bei jedem Schritt, den du hier tust“, erklärte sie ernst und verwirrte mich damit nur noch mehr. Ich erinnerte mich an Julian.
„Der Junge, der mich herbrachte, kannte mich nicht“, stellte ich fest.
„Julian ist einer unserer Bogenschützen, die sind manchmal ein bisschen schräg drauf“, antwortete sie leichthin, „Nun komm, Luella, ich werde dir den Ort zeigen.“
„Momentmal, ich heiße nicht Luella oder wie Sie mich grade genannt haben. Ich bin Lisa“, korrigierte ich und fragte mich, ob sie mich einfach nur falsch verstanden oder meinen Namen schon wieder vergessen hatte.
„Ich weiß, Schätzchen“, entgegnete sie liebevoll und streckte ihren Arm in Richtung Tür aus.
„Stopp, ich komme nicht mit, ehe ich nicht weiß, was hier vor sich geht!“, sagte ich bestimmt und rührte mich nicht von der Stelle, „Erst der Sturz, dieser Junge, dann Sie und die merkwürdige Landschaft. Was soll das alles?“
Laurena drehte sich zu mir um und schaute mir in die Augen: „Hör zu, manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen. Du wirst es schon noch verstehen, aber zuerst müssen wir den Feind in die Flucht schlagen.“ Also gab ich mich geschlagen und gehorchte ihren weisen Worten, in der Hoffnung, dass
sie Recht behielt.
Fortsetzung folgt...