„Mama! Mama!“
Zaghaft, fast weinerlich rief das kleine Rehkitz immer wieder nach seiner Mutter. Schon seit Stunden war sie nicht hier gewesen, hatte einfach die Kleine zwischen zwei dichten Sträuchern abgelegt und war ohne ein Wort zu sagen, gegangen.
Instinktiv drückte sich das Kitz ganz tief in die kleine Grube, um sich etwas zu wärmen, denn es fror jämmerlich und auch Hunger machte sich langsam bemerkbar.
Ob Mamas Verschwinden vielleicht mit den Vorgängen von gestern zusammenhing?
Gestern - das Kitz mochte gar nicht mehr daran denken. Dabei hatte der Tag so schön begonnen. Mama wollte es endlich
ihrer Familie vorstellen, den vielen Geschwistern, Onkeln und Tanten. Doch kaum hatten sie sich dem Rudel genähert, gingen die Beschimpfungen schon los und schuld war nur seine weiße Farbe. Doch was ist an einem blütenweißen Fell so schlimm? Das Kitz verstand die Aufregung nicht ganz.
‚Verschwinde mit dem Balg, das bringt noch das ganze Rudel in Gefahr mit dieser Leuchtfarbe.
‚Halte dich gefälligst an die Kleiderordnung, Kleines!'
‚Ja sag einmal, seit wann ist weiß modern? Ab mit dir, hier ist kein Platz für dich“, waren noch die harmlosesten Bemerkungen.
Sogar die kleinsten Kitze lachten und fragten schelmisch: „Sag, willst du vielleicht ein Eisbär
werden, wenn du groß bist?“
Erschrocken flüchteten Mutter und Kind in eine ruhige Ecke des Waldes. Hier zwischen den Büschen war es windstill und einigermaßen sicher. Doch Mama wurde zusehends unruhiger, schließlich sprang sie auf und lief davon.
„Mama, bitte komm zurück. Ich habe dich ja so lieb“, konnte das Kitz gerade noch flüstern, bevor es erschöpft einschlief.
Es wurde erst wieder wach, als es jemand ganz sanft an stupste.
„He, Kleines, was ist denn mit dir? Geht es dir gut?“
Langsam öffnete es die Augen und sah geradewegs in das freundliche Gesicht einer älteren Rehgeiß.
„Ich bin Rehrieke. Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Ich habe Hunger und mir ist kalt, aber meine Mama ist schon so lange weg“, klagte die Kleine.
„Na, das werden wir gleich ändern“, versprach Rehrieke. Sie ahnte, was geschehen war, denn sie kannte die strengen Regeln des Rudels. Ein weißes Reh würde dort nie und nimmer angenommen, es würde zu sehr auffallen und wäre eine schnelle Beute für einen HINTERHÄLTIGen Fuchs oder gar einen Bären. Damit wäre das ganze Rudel in Gefahr. Aber, dass eine Mutter einfach ihr Kind verlässt, das konnte sie nicht verstehen. War es EGOISMUS oder einfach Angst, wer
konnte das schon genau sagen.
Sie selbst hatte erst vor kurzem ein Kitz verloren und sich daher etwas von den anderen abgesondert. Sie wollte allein sein in ihrer Trauer.
So ein kleines, schutzloses Wesen einfach seinem Schicksal überlassen, nein, nie und nimmer würde sie so etwas zulassen.
Vorsichtig legte sie sich neben das zitternde Kitzlein und wärmte es mit ihrem eigenen Körper. Bald begann das Kleine zu trinken und schließlich schliefen beide glücklich ein.
Auch in den nächsten Tagen kümmerte sich Rehrieke rührend um ihren kleinen Schützling. Bald streckte das Kleine frech das Näschen in die LUFT und tollte übermütig umher. Fiel es einmal hin, hatte
Rehrieke lange zu tun, um den SCHMUTZ aus dem strahlend weißen Fell zu bekommen, doch sie tat es gerne, denn das Kitz war ihr inzwischen sehr ans Herz gewachsen.
Um im Wald ohne den Schutz des Rudels überleben zu können, braucht man neben einer gehörigen Portion Mut auch sehr viel Wissen, denn überall lauern Gefahren.
Genau wie Menschenkinder musste auch das kleine Kitz jeden Tag viel lernen, doch es begriff schnell und es dauerte nicht lange, bis es die einzelnen Vogelstimmen unterscheiden konnte. Es achtete auf den warnenden Ruf des Eichelhähers, der sofort jeden Fremden meldete und es konnte bald harmlose Spaziergänger von Jägern
unterscheiden. Auch grün schimmernde KATZENAUGEN rieten zur Vorsicht. Rehkitze stehen zwar nicht vorrangig auf der Speisekarte der Wildkatzen, doch man konnte nie wissen…
Bald schloss es Freundschaft mit anderen Waldbewohnern, einem Eichhörnchen, das ganz tolle Kletterkunststücke vorführte und einem Igel, der pfauchend des Nachts nach Würmern grub. Auch ein Hase, den alle nur MarathonLÄUFER nannten, zählte zum engeren Freundeskreis.
Sehr wichtig war auch die tägliche Nahrungssuche. Rehrieke zeigte ihm, wo die saftigsten Kräuter wuchsen und die zartesten Triebe der jungen Bäumchen zu finden waren. Sie warnte es vor vielen giftigen
Pflanzen, wie dem Roten FINGERHUT und den duftenden Maiglöckchen. Am liebsten jedoch naschten beide Beeren. Brombeeren und Heidelbeeren gab es zum Frühstück, süße Erdbeeren als Nachtisch zum Mittagessen. Die TAFEL war immer reich gedeckt.
Am Waldesrand, nahe dem Teich, stand ein nettes, kleines Häuschen. Darin wohnte ein kleines Mädchen mit seiner Mutter, einer Witwe.
„Morgen habe ich Geburtstag, Mama. Oh, wie ich mich freue. Gibt es auch wieder ein kleines Geschenk für mich?“, fragte das Mädchen.
„Aber natürlich, Liebes . Lass dich einfach überraschen“, antwortete die Mutter und
versuchte ein fröhliches Gesicht zu machen.
Was konnte sie Sabine schon schenken? Obwohl sie Tag und Nacht an der NÄHMASCHINE saß, reichte das GELD nur für das Nötigste.
„Weißt du was? Wir gehen jetzt in den Wald und suchen Erdbeeren. Davon bekommst du dann die leckerste Geburtstagstorte, die du je gegessen hast“ verkündete die Mutter am nächsten Tag ihrem Töchterchen.
„Oh ja, Mami. Ich freue mich“ lachte das Mädchen.
Und so geschah es, dass sich plötzlich ein weißes Rehkitz und ein kleines Mädchen einen Augenblick lang gegenüber standen.
Für beide war es ein überwältigendes Erlebnis.
Das Mädchen blieb, entgegen seiner sonstigen Art, wie angewurzelt stehen.
Ein weißes Reh! Welch wunderschöner Anblick. Es konnte sich nicht sattsehen an diesem herrlichen Tier. Und das war kein Traum und auch keine Gestalt aus einem Märchenbuch. Nein, es stand wahrhaftig vor ihm. Ein Geburtstagsgeschenk der ganz besonderen Art.
Auch dem Rehkitz gefiel dieses kleine Mädchen mit seinen blauen Augen und den blonden Locken, die in der Sonne ganz hell schimmerten. Für einen Moment vergaß es sogar alle Vorsicht und machte einen kleinen Schritt auf das Mädchen zu, um im nächsten Augenblick mit einem großen Satz davon zu springen.
„Ein weißes Reh! Mami, das war das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich je bekam“, jubelte Sabine auf dem Heimweg.
Zuhause angekommen, setzte sich die Mutter sofort an den COMPUTER. Sie wollte unbedingt das Rätsel um dieses weiße Rehkitz lösen.
„So ein Tier nennt man Albino, es ist ganz etwas Besonderes“, erklärte sie dann ihrem kleinen Mädchen.
„Dann werde ich es einfach ‚Binchen nennen. Mami, wir gehen doch morgen wieder in den Wald. Bitte, bitte. Ich will Binchen unbedingt wieder sehen“, bettelte Sabine.
Sie wusste, dass ihr ihre Mutter kaum einen Wunsch abschlagen konnte und so kam es, dass die beiden von nun an täglich in den
Wald gingen.
Immer vertrauter wurden Kind und Kitz. Das Mädchen saß oft stundenlang regungslos im Gras, während das Rehkitz vertrauensvoll in der Nähe herum tollte. Ab und zu brachte Sabine auch Leckerbissen, wie Apfelstückchen oder Möhren mit, die das Reh dankbar annahm.
Rehrieke beobachtete diese Entwicklung mit Freude, hatte sie doch vollstes Vertrauen zu dem kleinen Menschenkind.
Diese friedliche Idylle blieb natürlich auch anderen Spaziergängern nicht lange verborgen und so konnte man eines Tages auf der ersten Seite einer Tageszeitung die Überschrift
‚Binchen und Sabine.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte,
lesen. Darunter ein Bild dieser wunderbaren Freundschaft.
Inzwischen zählten auch die Jäger zu den Bewunderern dieses weißen Rehes. Darüber freuten sich alle Waldbewohner und langsam, ganz langsam begriffen auch die Rehe, dass jedes Lebewesen einzigartig und kostbar ist und anders sein nicht unbedingt ein Nachteil sein muss.