Der Zug fährt an. Du spürst das Rütteln des Motors und siehst den Bahnhof an deinem Fenster vorbeiziehen. Du siehst Menschen, die sich unterhalten, die eilen und langsam immer kleiner werden, bis sie mit der wohlbekannten Häuserfront verschwinden. Gedrängt sitzt du auf dem Stuhl, mit dem Kopf am Fenster. Du fühlst dein Herz nicht schlagen und bist dir nicht sicher, ob du atmest, weil deine Brust zugeschnürt zu sein scheint. Sind das Tränen, die sich an die Oberfläche kämpfen wollen? Verbissen beißt du dir auf die Lippe. Nicht schon wieder, nicht
jedes Mal, bitte nicht jedes Mal. Auf der Suche nach Ablenkung drehst du die Musik in deinen Kopfhörern lauter, aber sie schenkt dir keinen Frieden, viel zu laut. Dein Kopf ist gar nicht bereit die Töne aufzudrehen, aber du machst sie nicht aus. Willst auch die Leute nicht hören, die mit dir im Zug sitzen. Womöglich fangen sie noch an zu lachen. Wie können sie nur lachen? Fröhlich sein? Wenn du es jetzt nicht sein kannst? Das Buch, aus dem du auf dem Hinweg noch so gern gelesen hast liegt nun unberührt auf deinem Schoß. Vielleicht könntest du dich auch dorthin flüchten, nur wie, wenn du die Buchstaben eh
nicht aufnehmen kannst? Also starrst du einfach weiter aus dem Fenster, während flache Atemzüge sich aus deiner Brust erheben, die versuchen das Elend zu unterdrücken, das eigentlich kein Elend ist. So leicht, es könnte so leicht sein, so schön. Wenn nur die Entfernung nicht wäre. Kilometer, die in deiner Seele brennen wie Feuer, das stärker wird mit jeder Sekunde, die der Zug in die völlig falsche Richtung fährt. Was machst du dort bloß? Warum machst du das? Wie leicht es wäre beim nächsten Halt einfach hinaus zu springen und zurück zu fahren. Du hast kein Geld für ein Ticket, aber was interessiert dich
das? Warum sollten dich solche Lappalien interessieren, wenn du doch nur zurück willst, zurück. Und es ist so kalt in diesem dämlichen Zug, hat die Deutsche Bahn denn keine Heizung? Dein Körper erbebt und jetzt kommt da doch diese eine Träne, die du nicht hattest zurück halten können. Was die anderen Menschen wohl denken? Wahrscheinlich gar nichts. Sind viel zu beschäftigt damit zu lachen und zu reden um dich zu bemerken, eingesunken in deiner Ecke mit verbissenem Gesicht. Dann tippt dir jemand auf die Schulter und du blickst langsam auf. Du brauchst einige Sekunden um die Uniform der Person einem Kontrolleur zuzuordnen.
Mit tauben, stumpfen Fingern holst du das Ticket hervor und überreichst es. Erschrocken stellst du fest, dass deine Hände zittern und du legst sie schnell ineinander gehakt auf das Buch in deinem Schoß. Dein Blick richtet sich auf die Uhrzeit, die im Abteil eingeblendet wird und ein Seufzen verlässt deine Lippen. Es ist jetzt schon eine Stunde her. Eine Stunde ist sehr lang. Viel zu lang und alles verblasst zu Erinnerungen. Verzweifelt, so verzweifelt versuchst du sie zu fassen. Greifst nach Wortfetzen, Gesichtsausdrücken, die noch in deinen Gedanken kleben, aber sie sind so schwach, so verfälscht und nicht das,
was du eigentlich suchst. Ist es überhaupt möglich sich richtig zu erinnern? Wozu machst du das alles bloß durch? Du schluckst einen Kloß hinunter. Du möchtest nicht über den Sinn des Ganzen nachdenken, du hast Angst zu einem anderen Ergebnis zu kommen als noch vor einer Stunde, das geht nicht, das darfst du nicht. Jetzt schlägst du das Buch doch auf und starrst nachdenklich auf die Seiten, ohne auch nur ein Wort aufzunehmen. Nach zwei Sätzen gibst du auf und blickst ins Leere, während dein Kopf wieder versucht die Erinnerungen zu fassen, die so weit weg zu sein scheinen. Womit hast du das nur verdient? Es ist
so unfair, das alles ist so unfair. Du würdest gerne schreien, weinen, aber stattdessen schlägst du das Buch nur wieder zu und drehst die Musik in deinen Kopfhörern noch lauter, auch wenn dir der Schädel fast platzt. Jetzt ist es schon eine Stunde und dreißig Minuten. Viel zu lang, zu lang. Gleich ist die Fahrt vorbei. Mit langsamen Bewegungen öffnest du deinen Rucksack, steckst das Buch hinein und schließt ihn wieder. Dein Bahnhof wird angesagt und du ziehst dir die Jacke über, mechanische Bewegungen, wie einstudiert. Du nimmst deinen Rucksack, drehst dich noch einmal um und gehst dann zur Tür.
Noch immer ist deine Brust zugeschnürt, du kannst nicht richtig atmen und du weißt, dass du blass bist. Deine Gedanken sind viel zu wirr und unkontrolliert und du hoffst, dass du jetzt niemanden triffst, den du kennst.
Während sich die Türen vor die öffnen zwingst du ein Lächeln auf deine Lippen und betrittst den Bahnhofsboden. Hier willst du doch gar nicht sein. Und dort hinten wartet schon der Zug, der dich wieder zurück bringen könnte.
Du wendest dich energisch von ihm ab und verlässt den Bahnhof, während nur ein Satz in deinem Kopf hämmert.
Ich vermisse dich.