Hilflos musste ich mit ansehen, wie Linas Kopf mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufschlug. Ich wollte ihr zu Hilfe eilen, doch ich kam erst gar nicht dazu, denn etwas riss mich mit voller Wucht nach hinten. Ich spürte, wie eine Welle des Schmerzes durch meine Schulter strömte. Unsanft landete ich auf dem Rücken und sah im gleichen Moment, wie Jonathan auf mich zukam.
„Mason! Ist alles okay? Bist du verletzt?“
„Meine Schulter. Verdammt nochmal, was ist hier los?“ stöhnte ich auf.
„Wir müssen hier weg.“
Jonathan griff mir unter die Arme und zog mich nach oben, was den Schmerz nicht unbedingt abklingen ließ.
Immer mehr Leute hatten sich inzwischen um Lina versammelt.
„Sie braucht einen Arzt! Schnell!“ rief eine junge Joggerin panisch. Eine andere Frau tastete nach Linas Puls.
Das Traurige war, dass sie wohl keinen mehr fühlen würde. Zum zweiten Mal an diesem Tag verlor ich meine Exfrau, nur diesmal mit dem Unterschied, dass sie jetzt wirklich nicht mehr wieder kam.
Ich war vermutlich viel zu geschockt, um das alles zu begreifen, denn im Moment funktionierte ich einfach nur noch.
„Alles okay soweit? Das ist eine gute Gelegenheit, um zu verschwinden.“
Er hatte Recht. Zur Zeit zog Lina die
gesamte Aufmerksamkeit auf sich, was von Vorteil sein konnte.
Ich vergewisserte mich kurz, ob die Kugel ein glatter Durchschuss war. Das Glück schien auf meiner Seite, aber ich verlor Blut und das bedeutete, dass ich mich versorgen lassen musste.
Jonathan lief neben mit her und stütze mich so gut es ging. Wir entfernten uns immer weiter von Lina.
Einen Schritt vor den anderen zu setzen, gestaltete sich eher schwierig. Leichter Schwindel überkam mich und Jonathan merkte sehr schnell, dass ich eine Gelegenheit zum Sitzen brauchte.
„Ist nicht mehr weit. Da vorn steht mein
Wagen.“
„Wer zum Teufel war das?“ presste ich hervor und sog die Luft scharf ein.
„Frag mich jetzt bitte nicht solche Sachen!“ gab er wider.
„Immerhin scheinst du sehr viele Dinge über Lina zu wissen.“ Mein Misstrauen gegenüber Jonathan blieb.
„Du hast überhaupt keine Ahnung, in was für eine Scheiße du da geraten bist, Mason. Und du kannst froh sein, dass ich dir dabei helfe, am Leben zu bleiben!“
Wir hatten mittlerweile Jons Landrover erreicht und stiegen ein.
„Wo bringst du mich hin?“ fragte ich ihn.
„Zu einem Freund! Wir müssen deine Wunde versorgen. Du siehst nicht gut aus
und ich brauche dich mit klarem Verstand.“
„Am liebsten würde ich die Wahrheit aus dir raus prügeln, Jon. Jeder und ich meine wirkliche Jeder verschweigt mir etwas. Aber von dir hätte ich das am allerwenigsten erwartet.“
„Du solltest nicht zu früh urteilen, Mason. Ich weiß, dass du Lina immer noch geliebt hast, aber das ändert nichts an dem, was sie getan hat. Ich werde nur nicht derjenige sein, der dir das auf die Nase bindet, klar? Du wärst erschrocken über dich selbst.“
„Jon, du redest Unsinn.“
Sein Blick wanderte zu mir hinüber.
„Ich habe dich nie angelogen,
Mason.“
„Du hast unser Geheimnis verraten.“
„Ja!“ lachte er kurz auf. „Und das war das Beste, was ich machen konnte, glaub mir.
Versuch ein bisschen zu schlafen, Mason. Wir brauchen mindestens zwei Stunden.“
Es fiel mir tatsächlich schwer, meine Augen offen zu halten und meine Konzentration ließ auch allmählich nach.
Jonathan bog inzwischen auf den Highway, Richtung Süden und unsere Unterhaltung war fürs erste auf Eis gelegt.
Erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, was in den letzten Minuten passiert war.
Lina weilte nicht mehr unter uns und ich entging nur knapp einem Anschlag. Ich
wollte eigentlich nicht darüber nachdenken, denn allein die Tatsache, dass Tyler soeben seine Mutter verloren hatte, ließ mich innerlich zusammen brechen. Wie sollte ich ihm all das erklären? Ich wusste selbst nicht ein mal, was mit mir geschah. Ich trat von einem Fettnäpfchen in das Nächste und ich hatte einfach da Gefühl, dass es kein Ende nehmen würde. Wohin sollte das also noch führen?
Ich hatte so viele Fragen, doch ich war einfach zu müde, um sie Jonathan zu stellen. Es dauerte nur wenige Minuten und ich fiel in einen unruhigen Schlaf.
Ich erwachte erst wieder, als der Wagen
zum stehen kam. Das helle Licht blendete meine Augen. Ich musste ein paar mal blinzeln, um mich daran zu gewöhnen.
„Wir sind da!“ sagte Jon.
Ich wollte mich aufrichten, musste jedoch kurz inne halten, weil mich eine neue Welle des Schmerzes überkam. Jede noch so kleine Bewegung reichte aus, um genau das auszulösen.
Irgendwie fühlte es sich noch schlimmer an als im Park. Ich brauchte dringend Hilfe.
Jonathan war schon ausgestiegen und öffnete die Wagentür.
Als mein Füße den Boden berührten, sah ich mich zum ersten Mal um. Alles was erblicken konnte, waren massenweise
Bäume und Gestrüpp. Warum brachte mich Jonathan in einen Wald?
Die Frage beantwortete sich von allein, als ich das Haus vor mir wahrnahm.
„Hier wohnt also dein Freund?“
„Ja. Er mag es etwas abgeschieden.“
Ich legte meinen Arm um Jonathan und wir liefen Richtung Haus und stiegen die drei Treppen, die zur Haustür führten, nach oben.
„Du bist mir einige Erklärungen schuldig!“ sagte ich.
„Nicht jetzt, Mason. Du bekommst deine Antworten schon noch.“
Es war zwecklos, etwas zu erwidern. Ich sollte mich lieber erst einmal behandeln
lassen.
Jonathan ließ mich kurz los, um die Klingel zu betätigen.
Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür und beim Anblick des Menschen, der jetzt vor mir stand, wäre ich beinahe nach hinten umgekippt.
Panik und Angst suchten mich gleichzeitig heim.
„Sie sehen etwas blass aus...“ war alles, was ich noch hörte, dann brach ich zusammen.