NIE MEHR
Die Sonne eroberte ihr Reich langsam zurück. Tastend streckte sie die Finger aus, die leuchtenden Finger, die den nebelverhangenen Himmel mühsam durchbrachen. Den Mantel der Finsternis. Die Decke der Schwärze. Sie bekam Risse. Würde bald verschwinden, einen ganzen, ewigen Tag lang.
Er schlenderte die Straße entlang. Die Hände hatte er in den Jackentaschen seines ausgewaschenen Sweatshirts vergraben, die Kapuze über den Kopf gezogen. Seine blonden Locken kringelten sich feucht und kalt, rutschten unter den Stoff und blieben an seiner nackten Schulter kleben. Er legte
den Kopf schief und sah sie an. Wie oft hatte er seine Haare verflucht, hatte sie stoppelkurz schneiden lassen, nur damit sie nach einer knappen Woche wieder lebensmüde vor seine Augen hingen und ihm die Sicht versperrten. Jungs sollten keine Locken haben. Schon gar keine blonden.
Sie hatten ihn früher immer ausgelacht deswegen. Die, von denen er dachte, es wären seine Freunde.
Doch er vergrub diese Erinnerung mit einem Schnauben unter der Schwärze, die seinen Kopf füllte. Denn jetzt hatte er Freunde. Gute Freunde, denen er vertrauen konnte. Denn sie mussten zusammen halten, sonst gingen sie alle drauf. Er war immer
noch leicht benebelt von dem Alkohol, den er letzte Nacht so leicht getrunken hatte, als wäre es Wasser. Trotzdem war er diesen Morgen der Einzige gewesen, der auch nur ein klares Wort aus dem Mund bekam. Denn er hatte auf die Drogen verzichtet. Er war schon mal süchtig, und hatte es sich nur mit vielen Anstrengungen und Schmerzen abgewöhnen können.
Er wollte zwar nicht leben, aber sterben konnte er sich nicht leisten. Er begann zu summen, als er um die Ecke bog. Vor ihm erstreckte sich eine gesicherte Wohnanlage, mit Maschendrahtzäunen und Alarmanlage. Er schlich drum herum wie ein Panther, bereit anzugreifen und zu töten. Mit einem
letzten Blick zu dem unbesetzten Pförtnerhaus, nahm er Anlauf und sprang.
Die dünnen Metallstriemen des Zauns bohrten sich in seine Handflächen. Sie wurden glitschig von seinem Blut, doch er gab nicht einen Laut von sich. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er sich hoch, spannte die Muskeln in seinen Armen an und ließ sich auf der anderen Seite des Zauns fallen. Mit einem kurzen Schnaufen rollte er sich ab und blieb am Bauch hinter einem großen Baum liegen. Aus seiner Tasche kramte er Verbände und wickelte sie notdürftig um die aufgerissenen Hände. Dann zog er die Motorradhandschuhe über und richtete sich vorsichtig auf. Niemand hatte ihn bemerkt, die Anlage lag still da
und gab keinen Laut von sich. Er griff nach einem der untenliegend Äste des Baumes und zog sich daran hoch. Die borkige Rinde bröselte unter seinen Chucks weg, doch er kletterte weiter, wie ein Äffchen. Nur unauffälliger. Plötzlich hielt er an. Keine zwei Meter von ihm entfernt war ein Fenster in die Mauer des Gebäudes eingelassen. Es war angelehnt. Leise Musik plätscherte durch die kühle Morgenluft und sein Gesicht verzog sich zu einem leichten Grinsen. Er ging in die Knie, spannte seine Muskeln an und stieß sich vom Baum ab.
Seine Finger krallten sich in das kalte Metall des Fensterbretts, das schwarze Leder der Motorradhandschuhe bekam einen Riss mehr. Doch darauf achtete er
nicht. Mit den Füßen hing er in der Luft und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, sie abzustellen. Schließlich schob er sie auf eine kaum fünf Zentimeter große Erhebung der Wand. Er lag schon mit dem gesamten Oberkörper auf dem Fensterbrett und stieß die Scheibe mit der Faust nach innen ganz auf. Sie gehorchte ohne Quietschen und er ließ sich wie eine Schlange, mit Kopf voran ins Zimmer gleiten. Unter seinen Fingern spürte er den flauschigen Stoff des Teppichs. Sein Atmen rasselte und er stemmte sich aus seiner Bauchlage hoch. Er zog sich die Handschuhe aus und holte keuchend Luft. Nun saß er da, mit verdreckten Schuhen und blutigen Händen in einem fremden
Zimmer und war sich immer unsicherer, was er tun sollte. Doch noch bevor er sich umentscheiden konnte, weglaufen konnte, öffnete sich die Tür. Langsam und vorsichtig schob sich eine Person in den Raum. Mit bebender Brust drückte er sich in eine dunkle Ecke, die Kapuze war ihm vom Kopf gerutscht, seine blonden Locken leuchteten in der Dunkelheit.
„Hallo?“, fragte die Gestalt in der Tür unsicher. Es war ein Mädchen, nicht älter als zwölf Jahre und in einen dunkelroten Bademantel gewickelt. Tapsig machte sie einen Schritt vor in die Finsternis. „Wer ist da?“ Sie kniff die Augen zusammen und blinzelt kurz. „Denny?“
Er seufzte erleichtert und schob sich aus
der Ecke. Die blutigen, aufgerissenen Hände verbarg er hinter dem Rücken und richtete sich langsam auf. „Morgen, Ellie. Wieso bist du denn noch wach?“ In seinen Augen lag eine liebevolle Erleichterung und seine Worte schienen, obwohl er sie sanft und leise gesprochen hatte, den ganzen Raum zu füllen.
Das Mädchen antwortete ihm nicht. Sie stürmte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Die Beine besitzergreifend um seine Hüfte geschlungen hing sie an ihm wie ein kleines Äffchen und vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter. „Mama ist bei der blöden Ulla. Ich hatte den ganzen Fernseher nur für mich.“
Er lachte, vergrub seine Finger in dem
weichen Frottee ihres Mantels und legte sein Kinn auf ihren Kopf. „Und du bist überhaupt nicht müde?“
Sie gähnte. „Nein. Jetzt wo du da bist, könnte ich doch gar nicht schlafen!“ Sie suchte seinen Blick. In ihren türkisgrünen Augen lag Besorgnis, die seltsam wirkte in dem Kindergesicht. „Du hast ´ne neue Narbe“, stellte sie sachlich fest und deutete auf seine Schläfe. „Genau da.“
Er grinste, setzte sie aufs Bett und hockte sich vor ihr hin. „Mmmh, so neu ist die doch gar nicht. Du hast das so gesagt, als wäre mein Gesicht voll von Narben.“
Sie feixte ihn lächelnd an. „Letztes Mal war sie noch nicht da.“ Ihr Blick fiel auf das Blut an seinen Händen. „Iiiih, hast du
mir das jetzt in die Haare geschmiert?“
„Ne, in deinen Mantel.“ Dafür fing er sich einen Knuff in die Seite ein, dem er jedoch geschickt auswich.
Plötzlich wurde das Mädchen wieder ernst und sah ihn skeptisch von der Seite an. „Und wie lang gedenkt der Herr diesmal zu bleiben? Diesen popeligen Zettel von letztem Mal, nehme ich nicht als Entschuldigung an!“ Er strich ihr über den Nasenrücken. „Du hast eben noch geschlafen.“ Auf die erste Frage ging er nicht ein. Das machte er oft so. Man konnte nichts aus ihm herauslocken, was ihm nicht passte. Doch sie wusste das. Sie packte ihn an den Schultern und sah ihm tief in die Augen. „Wie lang wirst du bleiben?“ Sie
betonte jedes Wort, als würde er die Frage nicht verstehen, wenn auch nur eines fehlte.
Gedankenverloren fing er an, eine ihrer Haarsträhnen zwischen den Fingern zu zwirbeln. Die Antwort kam zögernd, als Frage formuliert. „Wann kommt Mom denn?“
Sie legte den Kopf schief. „Nicht vor morgen Nachmittag.“
Er biss sich auf die Lippe, dass sein Blut ihm den Mund spülte. Der warme, metallene Geschmack bereitete ihn auf das vor, was er als nächstes sagte. „Und Paul?“
„Ist ´ne Woche auf Geschäftsreise.“ Das beruhigte ihn. Er atmete tief durch. „Na, dann.“
Sie ließ sich nach hinten aufs Bett fallen
und er legte sich neben sie. „Er schimpft oft auf dich“, sagte sie zögernd. Er schwieg.
„Er hat gesagt, wenn er dich findet bringt er dich um!“ Tränen bildeten sich in ihren Augen, er wischte sie gedankenverloren mit dem Daumen weg. „Das macht er doch nicht wirklich, oder, Denny? Das würde er doch nicht machen?“
„Er wird mich nicht finden.“ Das war das einzige was er versprechen konnte. Und versuchte zu halten. Sie fragte nicht weiter. Einige Zeit lang lagen sie noch schweigend nebeneinander, dann gähnte sie in Minutentakt. Wie ein Hundebaby rollte sie sich zusammen, das Gesicht vertrauensvoll in seine Armbeuge gedrückt, den Kopf auf
seine Schulter gelegt. Seine Knöchel hatte sie zwischen den Füßen eingeklemmt, als wolle sie ihn selbst im Schlaf nicht loslassen. Durch das Fenster wehte die kühle Morgenluft, der Wind spielte mit den Vorhängen.
„Denny?“
„Mh?“
„Wann kommst du wieder zurück?“
Nie mehr, dachte er. Doch er traute sich nicht, es auszusprechen, diese zwei, verletzenden Worte. Sein Schweigen war Antwort genug. Er hörte, wie sie einen Schluchzer unterdrückte.
„Passt du trotzdem auf mich auf?“
„Dazu sind große Brüder doch da.“
Die Dunkelheit legte ihnen ihren
wärmenden Mantel um. Er lauschte dem gleichmäßigen Atem seiner Schwester, während er ins Nichts starrte.