MORITZ
An einem Sommerabend des Jahres 1953 ging mein Vater mit einigen Freunden auf die Jagd. Sie waren alle Mitglieder des Jagdkollektivs. In diesem Jahr gab es sehr viele Wildschweine und die Männer hatten die leise Hoffnung, einige Schweine zu erlegen um mal wieder den Speiseplan der Familien mit einem herrlichen Braten zu bereichern.
Wir wohnten in einem kleinen Dorf im Harz. Mein Vater war dort Polizist. Sein Gehalt war sehr mager und wir zu dieser Zeit schon vier Kinder. Richtig satt wurden wir nie und so freuten wir uns, wenn Vati mal Wild mit nach Haus brachte. Das Erlegte musste
abgegeben werden, aber ein Teil durften die Jagdteilnehmer für sich behalten.
Am folgenden Morgen standen wir Kinder schon früh auf. Die Toilette war auf dem Hof und so erledigten wir erst einmal das Nötigste. Danach wollten wir in den Stall schauen, ob Vati etwas von der Jagd mitgebracht hatte. Aber der Stall war abgeschlossen. Was war denn hier los? Komisch. Schnell vergaßen wir das aber wieder, denn das Frühstück rief. Danach gingen wir zum See baden. Der See lag in der Nähe unseres Hauses. Über dem See erhob sich ein hoher Wald und inmitten des Waldes lag ein sehr schönes Schloss. Dort war zu dieser Zeit ein Altenheim unter gebracht. In Park des Schlosses konnten wir
Kinder gut spielen. Außerdem gab es in diesem Dorf noch einen großen Fischteich, in dem es sich herrlich molchen ließ. Wir Kinder hatten damals nie Langeweile.
Als wir dann zum Mittagessen nach Hause kamen, merkten wir gleich, dass etwas nicht stimmte. Es gab zwar einen schönen Wildschweinbraten zu essen, aber die Spannung war zu spüren. „Na Grosse, dann komm man mal mit.“ Mein Vati ging mit mir zu unserem Stall und öffnete die Tür. Im Stall stand eine Holzkiste. Vati entfernte die Decke, die auf ihr lag. Was ich dann sah, trieb mir ein breites Grinsen ins Gesicht. In der Kiste saß ein kleines Wildschwein. Ängstlich drückte es sich in die Ecke. Vati erzählte, dass die Männer es in der Nacht im
Wald gefunden hatten. Warscheinlich hatte es keine Eltern mehr, denn es sah ziemlich ruppig aus. Dann durfte ich dem hungrigen Frischling ein Fläschchen geben. Moritz, wie ich ihn taufte, war ein Naturtalent. Ohne Schwierigkeiten trank er aus der Flasche, als wenn er nie etwas anderes getan hätte. „Vati, darf ich ihn behalten?“ Bittend sah ich meinen Vater an. Dieser schmunzelte. „Du darfst ihn eine Weile behalten, aber wenn er größer ist, muss er wieder in den Wald.“ Ich freute mich und an den Abschied musste ich ja noch lange nicht denken.
Der kleine Moritz gedieh prächtig. Er fraß aber auch alles, was ihm unter den Rüssel kam. Alle Kinder, die uns besuchten, brachten
natürlich für Moritz viele Leckereien mit.
Tagsüber durfte er in den Garten. Von Tag zu Tag, machte er aber mehr Unsinn. Die ausgebuddelten Kartoffeln gingen, genau wie die abgefressenen Blumen, auf sein Konto. Meine Mutter, die Tiere sowieso nicht so mochte, schimpfte ständig über ihn. Wenn wir konnten, setzten wir ihn in einen kleinen Handwagen und nahmen ihn mit zum See oder in den Wald. Auch zu Freunden durfte er uns begleiten, denn er war total zutraulich und lief auch hinter jedem her, der ihn freundlich ansah.
Auch mein Vater nahm ihn oft am Abend mit. Moritz hatte inzwischen ein Halsband und eine Leine. Dann ging es zur Gaststätte, die wunderschön zwischen Schloss und See lag.
Was die Männer da mit Moritz veranstalteten, wusste von uns Kindern niemand. Aber es musste etwas lustiges sein, denn die Männer bogen sich vor lachen und tätschelten Moritz liebevoll den Rücken. Unser Schweinchen, was nun schon ziemlich kräftig war, machte jetzt nur noch Blödsinn. In den Gemüsegarten durfte er schon lange nicht mehr, denn der regte ihn gewaltig zum Buddeln an. Im Rest des Gartens durfte er immer ein wenig spielen, natürlich unter unserer Aufsicht. Mitnehmen durfte ich Moritz nur noch an der Leine, aber auch da riss er sich oft los und rannte mit lustigen Sprüngen durch die Dorfstrassen.
Ein neues Hobby hatte er sich auch zugelegt. Im Garten hing meine Mutter fast täglich
Wäsche auf. Damit diese nicht zu weit unten hing, wurden Wäschestangen unter die Leine gestellt. Somit kam die Wäsche weiter nach oben und trocknete schneller. Der Nebeneffekt war, Moritz kam an die Wäsche nicht ran, denn die lustig im Wind wedelnden Wäschestücke, nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Wehe, ein Teil hing zu weit runter, Moritz erwischte und zerriss es ohne Gnade. Im Zeitalter der Bezugsscheine für Textilien, konnte man es meiner Mutter nicht verdenken, dass sie für Moritz nur ein Ziel sah, nämlich den Bratentiegel!
Eines Tages wollten wir zu Moritz in den Stall, aber er war nicht da. Meine Mutter wusste
angeblich nicht, wo er war und mein Vater war nicht zu Haus. Am Abend kam er heim, aber ohne unseren Moritz. Angeblich hatte er ihn in den Wald gebracht und laufen lassen. Unseren zutraulichen kleinen Moritz? Hier stimmte etwas nicht, absolut nicht. Wir sahen Moritz nie wieder.
Als ich schon älter war und schon lange nicht mehr in diesem Ort wohnte, fragte ich Vati noch einmal zum Verbleib von Moritz und auch, was sie am Abend in der Kneipe immer mit ihm gemacht hatten. Mein Vater grinste und dann erzählte er.
Am Anfang hatten sie Moritz immer mit in den Biergarten genommen um etwas Spaß mit ihm zu treiben. Es war ja auch immer zu
drollig, wenn er auf seinen kleinen Beinchen durch den Garten rannte. Irgendwann einmal sahen sie, wie der kleine Kerl versuchte, mit seiner Zunge an das Bier im Glas zu kommen. Man reichte ihm ein Schälchen mit etwas Bier, was Moritz eilig weg schlabberte. Das wiederholte sich an jedem Kneipenabend. Dann versuchte man etwas anderes. Moritz bekam im Garten kein Bier mehr. Das gefiel ihm gar nicht. Empört quiekte er vor sich hin. Einige der Männer stellten im Gastraum das Schälchen an den Tresen. Moritz, kaum im Raum, rannte zur Theke und genoss sein Bier. Die Männer feixten, denn sie hatten längst einen Plan. Das Schälchen wurde auf die Theke gestellt und ein kleiner Tritt davor aufgebaut, der es
Moritz erleichterte, an das Bierschälchen zu kommen.
Nun war es so, dass Sonnabend und Sonntags Gäste mit Sonderbussen von auswärts kamen. Sie aßen dort und gönnten sich einige Gläser Bier. Auch unsere Jagdgenossen aus dem Ort saßen dort immer mit in der Runde und ließen ihrem Jägerlatein freien Lauf. Dabei ließen sie fallen, dass hier sogar die Wildschweine saufen würden, natürlich nur Bier. Die Besucher lachten die Männer aus. Saufende Schweine, das hatte es ja noch nie gegeben. Die Stimmung stieg und die Jäger brachten immer wieder die Rede auf saufende Schweine. Diese würden jeden Abend hier einkehren. Dann kam, was kommen musste.
Die ersten Wetten wurden abgeschlossen, das Bier auf die Theke gestellt. Nun fehlte nur noch das Schwein. Die Spannung stieg. Jetzt waren die Männer vor der Gaststätte dran. Die Vorstellung konnte beginnen. Mit lautem Krachen flog die Kneipentür auf und Moritz jagte auf die Theke los, hoch auf den Tritt und ran an das Bier. In der Gaststätte war es plötzlich totenstill. Sogar das Quieken einiger Frauen, die auf den Tisch gesprungen waren, verstummte. Nur das Schmatzen des kleinen Schweinchens war zu hören. Moritz tollte noch ein wenig umher und empfahl sich dann. Er ließ eine begeisterte Gesellschaft zurück. Nun wurde erst recht diskutiert und was das Schönste war, unsere Jäger bekamen ein Bier nach dem anderen
spendiert. Solch eine Vorstellung ließ man sich doch etwas kosten. Die Jäger waren zufrieden und hatten ihr Ziel erreicht.
Nun wollte ich nur noch wissen, was aus Moritz geworden war. Mein Vater lachte: „Das war ganz einfach. Unter den Gästen war ein Förster aus Thüringen. Dem hatte Moritz so gefallen, dass er ihn unbedingt haben wollte.“ Und so kam es, dass unser Moritz uns Kinder wieder verlassen hat. Sein Verbleib hätte in der nächsten Zeit sowieso geregelt werden müssen. Er war schon ziemlich groß und konnte nicht mehr frei herum laufen. Wir Kinder haben ziemlich getrauert und so manche Träne ist noch geflossen. Aber eine Befürchtung ging nicht
in Erfüllung. Es gab einige Wochen keinen Wildbraten, bei keiner der beteiligten Familien. So konnten wir hoffen, dass Moritz noch ein glückliches Schweineleben beim Förster führen durfte.