ERKENNTNISSE
Die Sonne entschließt sich, ihre ersten wirklich warmen Strahlen zur Erde zu schicken. Es tut gut, diese Wärme und damit neue Kraft zu tanken, das Leben wieder zu spüren.
Ich schlendere durch Rostocks Altstadt, meine Studienerinnerungen im Gepäck.
Doch vieles hat sich verändert, manches ist schöner geworden, anderes begegnet mir wieder. Da, das Cafe, wo es stets die köstliche Schwarzwälder Kirschtorte gab. Die Wiedersehensfreude zaubert mir ein Grinsen ins Gesicht. Das Hotel ;Warnow“ existiert auch noch, wie
schön, nur der „Intershop“ darin, wo ich die gelegentlichen Zuwendungen meiner Westomi in Schokolade und Nutella umwandelte , hat natürlich ausgedient. Erinnerungen eben.
An der Straßenbahnhaltestelle verschnaufe ich, längere Pflasterwanderungen sind ungewohnt für die Dörflerin. Die Bank teile ich mit einem Obdachlosen. Zusammengerollt wie eine Katze liegt er da, die Schiffermütze fiel ihm vom Kopf, mitleidige Passanten werfen kleine Geldstücke ein. Der Mann bemerkt mich und brummt leise, eine blaue Dunstfahne weht mir entgegen. Wie lang mag er schon hier liegen? Die ganze Nacht? Eine
Alkoholflasche ist nirgends zu sehen. Das leicht ergraute Haar hängt ihm wirr ins Gesicht, ein ungepflegter Bart umwuchert Kinn, Mund und Wangen.
Ich bin geneigt, aufzustehen, um mir einen anderen Sitzplatz zu wählen, als der Mann vollständig erwacht und sich aufrichtet. Zwei blaue, eingetrübte Augen schauen mich an. Sie spiegeln Ungläubigkeit, Angst und Freude in einem wider. „Christine, bist du das?“
In meinem Gehirn beginnt es zu rattern, ein Räderwerk dreht sich, Filme spulen zurück. Dann macht es „klick“. „Benni!“ Ich bin so verblüfft, dass mir nur sein Name einfällt.
Benni, Beststudent mit 1,3er
Durchschnitt, einer der besten Absolventen unseres Studienjahres. Immer auf Erfolgskurs. Was er anfasste, gelang. Was er sagte, hatte Gewicht. Nach dem Studium übernahm er ein landwirtschaftliches Gut mit 3000 Stück Rindern auf dem Darß, jener herrlichen Halbinsel in der Ostsee. Er heiratete, baute ein Häuschen.
„Was ist schief gelaufen?“ frage ich. Er zuckt die Schultern. „Irgendwie waren wir überflüssig, damals, 1990.“ sagt er ohne Bedauern. Er hat es so hingenommen, war ja nichts zu machen. Oder doch nicht? Er konnte nicht darüber reden. Sein bester Freund wurde der Alkohol. Benni, der kaum mal ein
Bier trank bei den Seminargruppenfeten.
„Erst ging die Frau flöten, dann das Haus oder war`s umgedreht?“ Er weiß es nicht mehr richtig, der Alkohol hat schon zu viel zerstört. „Warum hast du keinen anderen Job gefunden, es ging doch vielen ähnlich!“ Resigniert zuckt er wieder mit den Schultern. „Wer nimmt schon einen Säufer?“ Benni hat mit seinem Leben abgeschlossen, Benni der Beststudent.
Eine junge Frau läuft eiligen Schrittes an uns vorbei. „Caro…“ ruft Benni leise. Die junge Frau verschwendet keinen Blick an den Obdachlosen. „Meine Tochter, sie kennt mich schon lange nicht mehr. Jeden Tag kommt sie hier
vorüber, deshalb bin ich hier Ich will sie wenigstens sehen.“ Seine blauen Augen werden leicht grau.
Unsicher rutsche ich auf der Bank hin und her, getrieben von dem Wunsch, zu helfen, tief in mir und dem Unvermögen, dem Nichtwissen, wie. Er scheint meine Gedanken zu erraten, was mich erröten lässt. „Ist schon o.k. Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen. Schön, dass du vorbeigekommen bist und wir reden konnten nach so langer Zeit. „Bleib gesund!“ Mehr fällt mir zum Abschied nicht ein.
Das mulmige Gefühl in der Magengrube bleibt. Es überfällt mich immer, wenn ich an den Rostocktrip denke. Es fühlt
sich irgendwie anders an, wenn Unglück und Armut ein konkretes Gesicht haben.