Mit zusammengebissenen Zähnen zündete Altaria eine Räucherkerze auf dem Altar der Windgeborenen an. Eine lebensgroße Figur saß auf dem Sockel, ein Vogel mit scharfem Schnabel und bohrendem Blick, die Federn mit Gold verziert. Seine pechschwarzen Schwingen waren drohend zu voller Spanne ausgebreitet. Es war ein Windgreif, das Wappentier ihrer Familie.
Wachsam ruhte er über den kleinen Gaben, die für die Toten hinterlassen worden waren. Ein Bündel Weihrauch. Vertrocknete Blumen. Das Kerzenlicht badete den Greif in lebendigen, hungrigen Flammen, die über
seinen Körper tanzten. Das polierte Ebenholz, aus dem es geschnitzt worden war, spiegelte ihr müdes Gesicht und ihre wirren, ungekämmten Haare wieder.
Sie trug ein schwarzes Kleid, einen Albtraum aus Perlen und Spitze, der sie klein und großmütterlich aussehen ließ. Malakas hätte es urkomisch gefunden. Doch ihr Bruder war tot. Verschwunden. Aus ihrer Welt gerissen. Sie bohrte ihre Fingernägel in ihre Handfläche, bis es wehtat. Man hatte ihn sanft auf ein kunstvoll gewebtes Tuch gebettet. Die Brüder hatten ihr bestes getan, um den schrecklichen Zustand seines Körpers zu verbergen. Sie
hatten das Blut weggewischt und ihn gesalbt, doch selbst jetzt, in seinen schönsten Gewändern und mit geschlossenen Augen, wirkte Malakas nicht friedlich.
Sein Mund war noch leicht geöffnet, wie im Moment letzten Erstaunens, seine Hände in der Totenstarre verkrampft, sein Genick gebrochen. Er sah verstümmelt aus, so wahllos zerstört wie eine Puppe von einem grausamen Kind, und entsetzlich jung.
Ihn so zu sehen machte sie so wütend, das ihr die Luft wegblieb. Was bedeutete es schon, eine Königin zu sein, wenn alle, die sie liebte, ihr entrissen wurden? Schritte halten aus der Richtung des
Korridors wieder, und sie drehte sich abrupt um. Es war General Thorwick, der Schwertmeister ihres Bruders, und er führte jemanden mit sich, sanft, als wäre es ein verschrecktes Pferd. Er neigte seinen Kopf, als er sie sah. „Prinzessin“.
In seinem Gesicht waren Schatten und harte Linien, die sie vorher noch nie bemerkt hatte, und sie könnte schwören, dass all seine Haare über Nacht grau geworden waren. Doch sie dachte nicht lange darüber nach, denn ihre Augen waren auf die dunkle Gestalt gerichtet, die ihm folgte. Ihr Rücken wurde steif und sie verschränkte wütend die Arme.
“Ich verbiete es”, sagte sie barsch, ohne ihn zu begrüßen. Thorwick blickte sie an, und sie meinte, in seinen strengen, stählernen Augen so etwas wie Mitleid zu erkennen. “Ihr seid nicht die einzige, die um Malakas trauert, Mylady. Sein Platz ist hier, selbst wenn...”. Er ließ den Satz zwischen ihnen schweben, wie eine scharfe Klinge. Selbst wenn sein Verstand komplett vernebelt ist und es wahrscheinlicher ist, dass er sein Bett nässt, als dass er eine Kerze für meinen Bruder anzuzündet, beendete sie den Satz in Gedanken. Sie betrachtete die gebeugte Gestalt und bereitete sich selbst auf das
Schlimmste vor. Der Mann war alt, sein ergrauter Bart war ungepflegt und wirr. Er hatte klare, grüne Augen, die stetig ins Nichts starrten. Er ging wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte, berührte hier und da die Wände, ohne Richtung, ohne Ziel. Seine kostbare Robe war staubbedeckt. Seine Lippen bewegten sich, als wollte er etwas sagen, dann ließ er ein leises, gackerndes Lachen ertönen. Seit Jahren hatte er keinen sinnvollen Laut mehr von sich gegeben. Tränen des Schams stiegen ihr in die Augen, doch sie ballte die Fäuste und zwang sie zurück. Ich hasse dich... ich hasse dich so
sehr. Mutter und Malakas haben mich verlassen, weil sie keine Wahl hatten, doch du, du hast dich von uns abgewandt und bist zu diesem – Ding – geworden. Diese leere Hülle, die mich nicht erkennt. Gerade jetzt, wo ich dich am meisten gebraucht hätte... Sie wandte sich ab und schenkte Thorwick einen bohrenden, vorwurfsvollen Blick. “Warum habt ihr ihn mitgebracht?”. Der Mund des Generals verzog sich mit unterdrückter Bitterkeit, als hätte er auf etwas Saures gebissen, doch sein Blick blieb ungerührt. “Er ist immer noch einer der Windgeborenen, Hoheit. Er muss Malakas die letzte Ehre erweisen”.
Altaria schüttelte heftig den Kopf, ihre Nägel bohrten sich in ihre Wangen. Sie wollte ihn nicht hier, wo er ihre stille Trauer störte. Sie wollte alleine sein und sich in den Schlaf weinen. Thorwick war ein pflichtbewusster Soldat und ein guter Mann, aber er lag falsch. Alles auf der Welt war falsch. “Ihr habt einen Fehler gemacht”, sagte sie schroff. “Malakas sollte ihn begraben, nicht anders herum”. Thorwick blickte sie an mit wilden, nackten Schmerz in seinen Augen. Er trat einen Schritt zurück. Für einen Augenblick fühlte sie sich schuldig dafür, dass sie ihn verletzt hatte – er hatte ihrer Familie seit Ewigkeiten treu
gedient, und er war Malakas' mehr als ein Lehrmeister gewesen, mehr ein Vater... ein Vater, der sein Gesicht erkannte, und der ihm die Zuneigung schenken konnte, die ihm lange verwert gewesen war.
Lange Jahre hatte er ihren Bruder in die Schwert- und Reitkunst eingewiesen, und ihn fortgelockt in eine Welt voller Abenteuer. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie ihm vergeben hatte, doch sie hatte es letzendlich getan. Thorwick hatte immer versucht, Malakas zu beschützen, auch auf Kosten seines eigenen Lebens.
Letzen Endes hatte er versagt, und sie verspürte einen Stich der Wut auf den Mentor
ihres Bruders. Doch als sie seine von Trauer verzerrte, trostlose Miene sah, wusste sie, dass sie ihn niemals mehr hassen konnte, als er es selbst bereits tat. Seine regungslose Maske war zerbrochen, und Tränen standen in seinen Augen, die die dunklen Ringen unter ihnen betonten. Zeugen schlafloser Nächte. Er hat das nicht verdient, schalt sie eine Stimme der Vernunft in ihrem Kopf, doch sie weigerte sich, zu gehorchen. Sie war eingesperrt mit der grässlichen, alles ertränkenden Leere in ihrem Herzen, sie wollte schreien und brüllen, ihren Schmerz
jemand anderem zufügen, nur, damit sie nicht mehr so schrecklich alleine war. Es war ein beschämender und selbstsüchtiger Gedanke, doch das kümmerte sie längst nicht mehr. “Hoheit, ich bitte euch...”, begann Thorwick, seine Stimme ein erbärmliches Krächzen. Sie gestikulierte in wild in seine Richtung, ihre Bewegungen unkontrolliert. “Was wollt ihr, dass ich tue? Ich kann nicht einmal an Morgen denken! Mein Bruder ist eine verrottete Leiche und er wird im Grotto meiner Ahnen beigesetzt werden, während ich zuschauen muss! Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, auf ihn zu warten, und nun kommt er nie wieder zurück!”. Sie brach aus wie ein Vulkan, und all ihr unterdrückter
Schmerz sprudelte an die Oberfläche. Der bärtige alte Mann, Arvoll, Lehnslord des Herzlandes und einst sein König, drehte sich beim Klang ihrer Stimme um und legte seinen Kopf schräg. “Nie wieder?”, fragte er, flüsternd, fast andächtig. Es war zu viel. Die Tränen kamen, ihre Schultern hebten und senkten sich in hilflosen Schluchzern. Sie blickte ihn zögernd an. “Vater”, murmelte sie. Thorwick war zu ihr gehastet, um sie zu stützen, bevor ihre Knie e den Boden berührten.
Sie beachtete ihn nicht, sondern starrte nur
staunend den Mann an, der sie gezeugt hatte. Und mit ihr gesprochen hatte, seit einer langen, stummen Ewigkeit. „Du... du verstehst mich?“. Es war eine Hoffnung, die zu süß und tödlich war, um sie in sich aufzusaugen, doch ohne es zu wollen, nahm sie einen kräftigen Schluck. Die grünen Augen, die ihren Blick erwiderten, waren wässrig, ihre Form exakt die, die die Augen von Malakas gehabt hatten.
Der alte Mann schien fieberhaft nachzudenken, dann schenkte er ihr ein verträumtes Lächeln. „Alyris“, sagte er zärtlich, und berührte ihre Schulter sacht. Altaria riss sich von der Berührung los, wollte, sie könnte die bloße Erinnerung daran
abwischen.
Alyris. Immer Alyris. Sie ist die Einzige, an die du dich noch erinnerst. Mutter, die so schön war... und so voller Traurigkeit. Mutter, die verwelkt ist wie eine Pflanze ohne Licht, bis nichts mehr von ihr übrig blieb. „Nein“, sagte sie mit strenger Stimme. Wischte ihre Wangen mit dem Ärmel ihres alten Kleids ab. „Ich bin nicht Mutter. Ich bin Altaria, und dein Sohn ist tot“. Keine Reaktion kam von dem Mann, der sie hätte lieben und großziehen sollen – er starrte verwundert durch eins der hohen Fenster des Palastes, erblickte eine Welt, die
niemand außer ihm sehen konnte. Sie kämpfte mit ihrer Selbstbeherrschung, hielt sich mit Gewalt davon ab, ihre Qualen in die Nacht hinaus zu heulen. Oder sich die Gestalt vor ihr zu greifen, zu schlagen und zu schütteln, bis der wandernde Geist ihres Vaters wieder erwachte. „Mylady“, sagte Thorwick berührt, und trat einen Schritt an sie heran. „Ich weiß, dass ihr schrecklich gelitten habt. Ich schwöre euch... all das wird bald ein Ende haben“.
Sie schaute an ihm vorbei, dachte an den Weg, für den sie sich entschieden hatte. Die Krone, die bald auf ihrem Kopf lasten
würde. „Nichts wird enden“, sagte sie fest entschlossen, „bis ich den Mann gefunden habe, der meinen Bruder ermordet hat“. Thorwick starrte sie entgeistert an. „Mylady?“, wiederholte er, als ob er glaubte, sie missverstanden zu haben. Sie hatte keine Geduld mehr für langatmige Erklärungen, nicht hier, neben seiner Leiche. „Ihr kanntet Malakas genauso gut wie ich“, fuhr sie ihn an. „Sein Tod war kein Zufall und auch kein Unfall. Jemand hat all dies geplant“. Thorwick rang die Hände in einem fruchtlosen Versuch, sie zu beruhigen. „Mylady, ich bitte euch, ich verstehe, das ihr euch fürchtet,
aber niemand würde so etwas wagen... wenn ihr abgedankt habt, werdet ihr alles vergessen können“.
Seine Stimme war sanft, wie die Stimme eines Lehrers, der einem verschreckten Kind etwas erklärt, was es nicht verstehen will. Sie hob ihr Kinn und schoss ihm einen wütenden Blick zu. Niemals. Ich werde es niemals vergessen. „Kniet nieder“. Jahre des Gehorsams und des Dienstes in der Armee zwangen den General, der Autorität in ihrer Stimme Folge zu leisten, und seine Knie knickten ein. „Was...?“, keuchte er, doch sie ließ ihn nicht ausreden.
„Sir Liam Thorwick, ihr habt geschworen, meinem Haus zu dienen. Ich bin Altaria Windgreif, die letzte Erbin von Elokan und die rechtmäßige Königin des Herzlands. Ihr werdet mir jetzt zuhören, und euch gut einprägen, was ich sage. Ich werde nicht abdanken. Ich kenne keine Gnade. Ich werde denjenigen finden, der meine Familie zerstört hat... oder das, was von ihr noch übrig war“. Sie lächelte grimmig. Thorwick sah aus wie ein Mann, der eine Gräte im Hals stecken hatte und fieberhaft versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. „Was meint ihr damit, ihr werdet nicht
abdanken? Altaria, ihr seid wahnsinnig. Ihr wisst genau, dass keine Frau allein den Thron besteigen darf, geschweige denn von einer, die so jung ist wie ihr“. Sie durchbohrte ihn mit Blicken, ihre Augen sprühten Funken. „Und warum ist das so?“, verlangte sie zu wissen. „Ihr dachtet, Malakas wäre bereit, zu regieren, und er war nur fünf Monde älter. Was hatte er, dass ich nicht habe?“. Mit ihren blitzenden grünen Augen und dem hochmütig erhobenen Kinn erinnerte sie ihn an ihren Vater, in jenen Tagen, als Arvoll noch ein gesunder, beeindruckender Mann gewesen war. Der General hatte Schwierigkeiten, ihr zu
antworten, ohne bei einer Lüge ertappt zu werden. Noch nie hatte eine Frau alleine die Armeen des Herzlandes angeführt. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, so klar und selbstverständlich wie jeder Atemzug. Er hatte noch nie wirklich darüber nachgedacht. Was hatte Malakas besessen, das seine jüngere Schwester nicht besaß? Mut, flüsterte es in seinem Kopf, doch das stimmte nicht. Der Verlust des Vaters war eine schreckliche Angelegenheit für beide Kinder gewesen, doch mehr noch für Altaria, die in den Grenzen des Palastes aufgewachsen war und nie viele Freunde gehabt hatte. Nein, es war etwas anderes gewesen, das ihm damals die Brust geöffnet und Malakas für ihn zu
einem Sohn gemacht hatte, den er mehr geliebt hatte als alles andere auf der Welt. Er war ein guter Mensch, eine reine Seele, wo andere durch und durch verdorben waren. Malakas hatte einen Weg in sein Herz gefunden. Zum Teufel, er wäre für den Jungen gestorben. Doch er hatte es nicht getan, und er konnte den Vorwurf in Altaria's Blick leuchten sehen, scharf und unerbittlich. Er schuldete ihr immer noch eine Antwort. Die Antwort ist Leidenschaft, Malakas war voller Leidenschaft und er hatte ein gutes Herz... doch ist das eine Antwort, die ich ihr geben kann? Das war es nicht, es würde wirken wie ein Schlag in ihr Gesicht, und es
war unrecht, sie so zu verurteilen. Sie ist nicht charmant, aber sie hat ihr eigenes... etwas, dachte er, als er ihre entschlossene Miene und ihre verschränkten Arme sah. Hier war ein Fels, der niemals nachgeben würde, der in der Brandung auftauchte wie eine dunkle, schützende Festung. „Prinzessin“, begann er, „euch fehlen Jahre der Erfahrung. Wurdet ihr jemals darin unterrichtet, ein Land zu beherrschen?“. Altaria hatte genug von seinem großväterlichen Gehabe. Obwohl sie Malakas geliebt hatte, war er im weitesten Sinne ein gutaussehender Trottel gewesen.
Er war ein guter Kämpfer, saß im Sattel, als
wäre er dort geboren worden, und er konnte singen, hell und klar, bis die Hofdamen sich in den Schlaf weinten, doch er hatte nie auch nur das geringste von Politik verstanden.
Sie war es, die schreiben und rechnen gelernt hatte, sie, die die Dienerschaft befehligte und ihre Nase in diplomatische Briefe gesteckt hatte. Ihr Bruder war immer langsam und unaufmerksam gewesen, wenn es um das geschriebene Wort ging. Die Behauptung, dass er ein Königreich besser regieren konnte als sie, war so ungerecht, dass sie verärgert schnaubte. „Thorwick, ich bitte euch. Erinnert euch daran, wie er wirklich war, nicht, wie ihr gewollt
habt, dass er wird. Stellt euch vor, wie lange er auf einem Thron still sitzen bleiben würde. Keine fünf Minuten. Oder, wie er die jährlichen Abgaben berechnet... die Intrigen am Hof verfolgt...“. Thorwick konnte es vor seinem geistigen Auge sehen. Der Junge war immer ungeduldig gewesen. Papierkram hatte ihn immer gelangweilt, und wenn er sich um solcherlei Arbeit bemühte, waren die Ergebnisse immer erbärmlich gewesen. Der Adel hätte ihn niemals für seine Güte respektiert – im Gegenteil, sie hätten sich auf ihn gestürzt wie ein Pack hungriger Wölfe und ihn in Stücke gerissen.
Sie hat Recht, dachte er resigniert. Sie hat gewonnen. Und sie ist kaum siebzehn Winter alt. Sie sollte Rotz und Wasser heulen, weil ihr Bruder tot ist, doch stattdessen sitzt sie hier und legt ruhig ihre Argumente dar. Sie beherrscht sich und ist vernünftig, während ich mich anstelle wie ein hysterischer Vater. Er griff nach seiner letzten, verzweifelten Ausrede. “Ihr seid eine Frau”, beharrte er. “Wenn ihr die Tradition brecht, dann wird es Krieg geben. Der Rat wird versuchen, euch auszuschalten. Menschen, die euch einst respektiert haben, werden sich gegen euch erheben. Ist es das, was ihr wollt, Altaria?“.
Sie stand kerzengerade da, so aufrecht und würdevoll, wie es ihrem Blut gebührte, doch er sah, dass sie sich auf die Lippen biss. Sie ist nicht dumm, erinnert er sich. Sie kennt den Preis, den sie zahlen wird. Doch warum würde sie so weit gehen? „Thorwick“, begann sie. „Ich mag nur ein Mädchen sein, aber vor allem anderen bin ich ein Windblut. Wenn diese Leute meinen Bruder umgebracht haben, um diesen Thron zu erlangen, dann werde ich ihnen diesen nicht kampflos überlassen. Das Herzland hat etwas besseres verdient als ein Rudel von
Mördern ohne Gewissen“. Sie sah sein zweifelndes Gesicht, doch sie gab ihm nicht die Zeit, zu protestieren, sondern fuhr in klarer Stimme fort. „Ich weiß, dass ich mir mächtige Feinde machen werde. Thorwick, ihr seid von eurem Schwur befreit. Ihr könnt diesen Ort verlassen und anderswo Frieden finden, und ich werde es euch nicht übelnehmen.
Aber wenn ihr Malakas geliebt habt... wenn ihr meinen Bruder nur halb so sehr geliebt habt, wie ich es getan habe... dann bleibt hier, und helft mir, seine Mörder zur Strecke zu
bringen“. Es war ein Angebot, und gleichzeitig ein versteckter Hilferuf. Er wusste, dass sie es als freundliche Geste gemeint hatte, und war fasziniert davon, dass sie, nicht einmal eine erwachsene Frau, ihm, einem Veteranen zahlloser Schlachten, die Flucht anbot.
Doch der bloße Gedanke daran, seinen Schwur zu brechen, bereitete ihm Schwindel und ließ sein Herz fast stillstehen. Es wäre dasselbe, wie Malakas noch einmal zu verlieren. Dreißig Winter seines Lebens hatten er und seine Klinge unter dieser Familie gedient, und er hatte den Prinzen großgezogen wie sein eigenes Fleisch und
Blut.
Jetzt erst begriff er wirklich, wie sehr Altaria vernachlässigt worden war, und durch den Tod ihres Bruders war sie endgültig allein. Eine Einsamkeit, die kein Mensch aushalten konnte. Doch anstatt aufzugeben oder sich zu verstecken, rüstete sich das Mädchen zum Kampf. Er konnte nicht umhin, ihre Entschlossenheit zu bewundern. Wenn ihr Malakas geliebt habt... ob er Malakas geliebt hatte? Mehr, als jede Frau, die in seinen Armen geschlafen hatte, mehr als Bier und Brot und warme Sommerabende, sogar mehr als den Rausch der Sinne, der ihn überfiel, wenn er um sein Leben kämpfte.
Er fragte sich, ob er jemals Söhne seines eigenen Blutes so sehr hätte lieben können, oder ob sie im Schatten des Prinzen aufgewachsen wären. Er hatte keine Wahl. Er verbeugte sich tief. „Ich lebe, um zu dienen. Ich schwöre, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um euch zu beschützen“. Altaria's Augen waren hellgrün und gebieterisch. „Ich nehme euren Schwur an, Sir Liam Thorwick. Behaltet ihn in eurem Herzen“. Es war eine Floskel, die älter war als die Welt, und doch klang der General weniger formell als bedrückt. Bloß weil er zugestimmt hat, mir bei meinem Vorhaben zu helfen, heißt es nicht, dass es
ihm gefällt, was ich tue, stellte Altaria wehmütig fest. Sein Wort ist Gold wert, und trotzdem... „Steht auf“, befahl sie ihm, und er gehorchte, ein wachsames Auge auf ihren Vater gerichtet. Sie schaute zu dem prächtigen, bunten Tuch hinüber, auf dem die Leiche ihres Bruders ruhte, und wandte brüsk ihr Gesicht ab. Ich darf nicht mehr darüber nachdenken, wie hilflos ich mich fühle. Ich muss jetzt stark sein. „Ich hoffe, ihr kümmert euch darum, dass mein Bruder seinen Segen erhält“, sagte sie, in dem vollen Wissen, dass sie nicht
zuschauen würde können, ohne sich erneut in Tränen aufzulösen. „Ich... Ich muss für eine Weile allein sein“. Thorwick schaute ihr tief in die Augen, und sie spürte, dass er mehr darin las, als ihr lieb war. „Natürlich, meine Königin“, sagte er sanft und führte ihren Vater vor zum Altar. Als sie die Halle mit den flackernden Lichtern schon fast gänzlich durchquert hatte, verspürte sie den seltsamen Impuls, sich umzudrehen. Thorwick lenkte seinen König kundig durch den Ritus des letzten Segens, betupfte die Stirn ihres Bruders mit duftendem Öl. Sie fühlte Respekt und tiefe Zuneigung für den General in sich aufsteigen, und fühlte sich ein wenig schuldig dafür, wie sie ihn
behandelt hatte. Ich hoffe, dass er mir eines Tages dafür vergibt, dass ich ihn manipuliert habe, aber ich brauche ihn an meiner Seite, dachte sie. Er ist ein höchst geachteter, mächtiger Mann, auch wenn er selbst nicht weiß. Und er ist der einzige, der verstehen kann, was ich verloren habe. Die Hände des Königs zitterten in seinem Griff. Der Mann war verdorrt wie Gras in der Wüstensonne, ein bloßer Schatten des imposanten, brüllenden Löwen von einem Mann, der er einst gewesen war.
Seine Augen waren umwölkt und stets in die
Leere gerichtet, die das Innere seines Schädels ausfüllte. Und trotzdem fühlte Thorwick in sich Übelkeit aufsteigen bei dem Gedanken an dem, was er gerade tat. Er half einem Vater, sein eigenes Kind zu begraben. Er konnte sich selber sehen, kniend vor dem alten, starken Arvoll, wie er ihm von seinem Versagen berichtete. Es tut mir leid, dass ich Malakas im Stich gelassen habe. Es ist meine Schuld, dass er jetzt unter der Erde liegt. „Und was werdet ihr nun tun?“, verlangte der Mann fordernd von ihm zu wissen. Er spürte das Gewicht eines Blickes auf sich lasten wie
Finger, die sich in seine Schultern gruben, und drehte sich unwillkürlich um. Altaria starrte ihn an, so klein und unendlich traurig in ihrem schwarzen Kleid. So jung, und so mutig. Sie verdient eine Rüstung, die einer Königin würdig ist, nicht dieses lächerliche Stück Stoff, dachte er im Stillen, und dann: Ich habe eins eurer Kinder sterben lassen, mein König. Ich habe Malakas verloren, doch ich werde mich eher in ein Schwert stürzen, als das ihr etwas geschieht. Sie ist meine Zukunft – Altaria, die letzte Windgeborene.