Eines Tages, weit weg von allen Menschen, begegneten sich inmitten der Tundra Tjin und Tjan, zwei Pferde, wie sie vom Aussehen her nicht unterschiedlicher sein konnten. Wie es dazu kam, möchte ich euch erzählen.
Tjin war ein Rappe, schwarz wie die Nacht, mit silberner Mähne, die mit goldenen Fäden durchwoben war. Er stammte aus einer Herde von Wildpferden, die seit Jahrhunderten durch die Weiten der Tundra zogen. Ihr fragt euch, wie eine Herde Pferde in die Tundra kommt? Das ist eine traurige Geschichte, doch ist sie schnell erzählt.
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Vor vielen hundert Jahren wurde in einem arabischen Emirat eine Herde Pferde verkauft, alles schwarze königliche Tiere, die zu einem weiter östlich lebenden Herrscher gebracht werden sollten. Während dieser Reise erkrankten
die Treiber, da sie schlechtes Wasser getrunken hatten. Auch viele der Pferde wurden krank. Nur wenige der Tiere überlebten diese Seuche. Alle Menschen starben an der Cholera. Ein Treiber mit Herz ließ, als er begriff, dass alle sterben würden, mit letzter Kraft die Tiere frei. So konnten sie in die Wildnis entfliehen.
Nie wieder wollten die Pferde mit den Menschen etwas zu tun haben. Sie flohen deshalb, sobald sie auch nur einen einzigen Menschen sahen, immer weiter weg von dem Ort, von welchem sie stammten. Erst in den Weiten der westsibirischen Tundra, fanden sie ihren Frieden und die Ruhe, um sich zu vermehren. Die in dieser Region lebenden Eskimos, konnten mit diesen Tieren nichts anfangen, die stets nur in den Sommermonaten in die Nähe der Siedlungen kamen, um zu weiden.
Allerdings gab es seit Jahrhunderten Geschichten über die schwarze Herde die von Generation zu Generation, in den langen Wintermonaten, weiter
erzählt wurden. So stellte man auf eine Lichtung stets Ballen mit Heu, um für Futter zu sorgen, als Dank für das Geschehene. Schon einige Male hatten diese Tiere, den Menschen das Leben gerettet, indem sie Verletzte oder halb erfrorene Eskimos in die Nähe der Siedlungen gebracht und laut angefangen hatten zu rufen. Sobald sich ihnen jemand näherte, flohen die Tiere.
So auch an dem Tag, als sich Tjin und Tjan das erste Mal begegneten.
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Es war mitten im beginnenden Frühjahr, als alles seinen Lauf nahm. Tjins Herde kam gerade an einer beliebten Wiese an und die Tiere begannen in aller Seelenruhe zu grasen. Sie wussten sich in der Obhut ihres Leithengstes und vertrauten ihm, dass er die Umgebung genau begutachten würde. Gemächlichen Schrittes bewegte sich die Herde vorwärts, während sie graste, wanderte so Stück
um Stück voran. Wie immer stand die Herde dicht beieinander, denn sie brauchten sich gegenseitig. Sie wollten sich nicht nur sehen, hören und riechen, sondern auch spüren. So oft wie es irgend ging, berührten sie sich, indem sie sich gegenseitig neckten oder einfach nur ihre Körper aneinander rieben. In der Herde gab es eine festgelegte Rangordnung, die keiner in Frage stellte. Man akzeptierte es einfach, nahm die Schwächeren in die Mitte, um diese zu schützen. Der Leithengst der Herde war einige Male mit wachen Sinnen das Terrain abgelaufen. Nun war er beruhigt, es schien, dass alles in Ordnung war. Er ging zu seiner Herde und fing ebenfalls an zu grasen. Immer wieder neckte er sich mit Dong und Aila, seinen beiden Lieblingsstuten, die ihm schon so viele prachtvolle Nachkommen geschenkt hatten.
Ach, wie viele der Herdenkinder waren schon gestorben, durch dieses harte Klima. Erst seitdem er die Herde übernommen hatte, waren
alle am Leben geblieben. Er hatte nämlich durch Zufall einen sehr geschützten Bereich, in einem Tal entdeckt, in dem es heiße Quellen gab, dort konnten sie überwintern. Die einstmals sehr schlanken Tiere waren mit jeder Generation kräftiger geworden und hatten sich ein dickes Fell zugelegt.
Jetzt, während sie grasten, legte Tjin entspannt die Ohrenspitzen nach vorn und ließ seinen Schweif locker pendeln. Mit völlig entspanntem Gesichtsausdruck, sah er in die Runde, als ein ihm völlig unbekanntes Geräusch an seine Ohren drang.
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Der Leithengst stampfte mit seinen Hufen auf und begann seinen Kopf zu schütteln. Seine Ohren legten sich flach nach hinten und er bleckte die Zähne. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber er wusste nicht was. Er wurde immer
unruhiger und begann zu tänzeln. Was bedeutete dieses ihm unbekannte Geräusch? Bedeutete es Gefahr für seine Herde?
Wieder begann er, seine Herde zu umkreisen und versuchte das Geräusch zu orten, damit er wusste, von wo die Gefahr kam. Immer wieder blieb er stehen und sah sich um. Er zog sein rechtes Hinterbein an, um im Notfall sofort zielen zu können und durch einen Tritt seinen Gegner ausschalten zu können. Da war nichts, nur dieses unbekannte Geräusch. Angst stieg in ihm auf, er riss den Kopf nach oben, seine gesamte Körperhaltung drückte Furcht aus. Seine Augen und Nüstern waren geweitet und der Schweif eingezogen. Er rollte die Augen, sodass man nur noch das Weiße sehen konnte. Langsam aber sicher bekam er richtige Panik und übertrug diese seine Unruhe, auch auf die Herde. Diese hatte schon seit einer Weile aufgehört zu grasen und lief unruhig im Kreis.
Auf einmal witterte er einen Brandgeruch, jetzt
war es Zeit zu fliehen. Es war schade um die schöne Weide, die Gefahr eines Brandes war nicht zu unterschätzen. Er lief los, gefolgt von seiner Herde und er brachte alle in einen sicheren Bereich. Erst, als er nichts mehr hörte und roch, hielt er inne und ließ alle erst einmal zur Ruhe kommen.
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Erleichtert umrundete er seine Herde und stellte fest, dass alle da waren, sie hatten niemanden verloren. Auch die Fohlen waren alle da. Langsam entspannte sich Tjin wieder und begann zu grasen. Fast eine Stunde waren sie gelaufen, zu ihrer alten Weide. Ganz langsam zog er die Herde wieder zurück zur Weide, auf der sie gerade waren. Er übergab Daos, seinem Sohn, die Herde und lief ein Stück nach vorn, um nachzusehen, ob alles wieder ruhig war. Es roch komisch. Die Geräusche eines Brandes konnte er
nicht wahrnehmen. Vor einem halben Sonnenumlauf hatten sie die Weide verlassen, also konnte es sein, dass die Gefahr vorüber war. Ganz vorsichtig näherte sich der Hengst dem Ort des Geschehens, um zu sehen, was dieses Geräusch verursacht hatte. Erschrocken blieb er stehen, als er die Weide betrat. Mitten darin lag etwas Glänzendes, das stark qualmte.
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Er hörte auch ein Stöhnen und ein kaum wahrnehmbares Wiehern. Verwundert sah er sich um. Die Neugier trieb ihn vorwärts, ganz langsam, mit angelegten Ohren, bereit sofort zu fliehen. Hier war keine Gefahr. Im Gegenteil, hier war etwas geschehen, etwas, dass er nicht verstand. Sein Instinkt sagte ihm, hier brauchte jemand seine Hilfe.
Vorsichtig näherte er sich dem qualmenden Etwas. Es roch nach Feuer, aber es brannte
nicht. Da sah er in der Nähe einen Menschen liegen, der vergeblich versuchte aufzustehen. Er konnte sich nicht richtig bewegen.
Tjin näherte sich dem Menschen sehr vorsichtig, denn seine Erfahrungen mit diesen Wesen waren unterschiedlich: von sehr gut, bis sehr schlecht. Der Hengst spürte, dass dieser Mensch seine Hilfe brauchte. Er beugte den Kopf und stupste den nun wieder reglos Liegenden an.
Langsam öffnete der Mensch die Augen. Stöhnend hob er den Kopf.
„Wer bist du denn?“ Fragende Augen sahen Tjin an, wieder stupste er den Mann an. Dieser ließ sich nach hinten sacken und atmete schwer. Tjin legte sich neben den Mann, der verletzt war und daher nicht in der Lage war aufzustehen. In der Nähe lebten in einer Siedlung Menschen, die der Leithengst mochte, er würde den Verletzten dorthin bringen, denn sonst würde dieser sterben. Immer wieder stupste der Rappe den am Boden liegenden vorsichtig an, bis dieser
reagierte.
„Willst du mir helfen?“ Tjin wieherte. Vielleicht verstand der Mensch, dass dies ja heißen sollte. Endlich er versuchte sich auf Tjins Rücken zu ziehen, indem er sich an der Mähne des Hengstes festhielt. Schließlich gelang es ihm sich hochzuziehen.
Ganz vorsichtig stand das Pferd auf, damit der Reiter nicht herabfiel und lief vorsichtig zur nächsten Ortschaft. Lange waren sie unterwegs, immer wieder einmal kam der Verletzte zu Bewusstsein. Ständig wiederholte er die Worte. „Ich muss nach Tjan sehen, sie war im Flugzeug.“ Im selben Augenblich verlor er wieder die Besinnung und hing schlapp auf dem Rücken seines Retters. Nach fast einem Viertel Sonnenumlauf kamen sie in die Nähe der Siedlung. Laut wieherte der Hengst, um auf sich aufmerksam zu machen. Sofort kamen einige Menschen gelaufen, denn schon einige Male hatte dieser Rappe Verletzte zu ihnen gebracht.
Man kannte ihn also.
Kaum, dass man ihm entgegen kam, blieb Tjin stehen und legte sich vorsichtig nieder. Diesmal rannte er nicht weg, denn der Verletzte konnte sich allein nicht mehr bewegen. Auch wenn seine Ohren fest am Kopf lagen, die Nüstern weit gebläht und die Augen weit aufgerissen waren, blieb er ruhig liegen. Die Menschen nahmen den völlig blutbesudelten Mann vorsichtig vom Rücken des Pferdes. Kaum, dass dieser kein Gewicht mehr auf seinem Rücken spürte, erhob er sich und galoppierte davon. Die besorgte Stimme des Menschen noch im Kopf, lief er zurück zu dem qualmenden Etwas, denn es war noch jemand dort, der seine Hilfe brauchte. Das hatte Tjin der Stimme entnommen, obwohl er die Worte nicht verstehen konnte.
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Tjin umrundete das Wrack immer und immer wieder. Plötzlich hörte er es: aus einer Kiste drang ein leises Wiehern. Er schlug mit seinen Hufen gegen die halb zerbrochene Kiste, versuchte sie gänzlich zu öffnen. Auf einmal gab sie nach. Was der Rappe da sah, konnte er nicht glauben: Eine Stute, weiß wie Schnee und so zart, dass er sich gleich in sie verliebte. Ihr ging es gar nicht gut.
Sie kniff das Maul zusammen und hatte einen stumpfen, nach innen gekehrten Blick. Schlimme Schmerzen musste sie haben. Den Kopf hielt sie sehr hoch und drückte den Rücken weg, indem sie ein Hohlkreuz machte. Immer wieder riss sie das Maul auf und schlug mit dem Kopf. Ab und zu machte sie einen Buckel vor Schmerzen. Tjin konnte ihr aber nicht helfen. Vielleicht wären die Menschen in der Lage, zu denen er den Verletzten gebracht hatte. Also gab er ihr das Zeichen, ihm zu folgen. Tjan lief sehr langsam und lahmte stark. Endlich erreichten sie die
Siedlung. Wieder wieherte der Hengst um Hilfe, diesmal jedoch für seine neue Freundin. Auch jetzt eilten die Bewohner der Siedlung zu ihm und staunten nicht schlecht, dass er ein Pferd brachte. Vorsichtig näherten sie sich und nahmen es am zerrissenen Geschirr, zogen es mit sich fort.
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Traurig sah Tjin ihr nach und dachte, er würde sie nie wieder sehen. Er hatte allerdings wichtigere Aufgaben zu erledigen, er musste zurück zu seiner Herde, um dort nach dem Rechten zu sehen. Im schnellen Galopp kehrte er zu seiner Herde zurück und führte sie wieder auf die Weide. Dort grasten sie einige Tage ungestört und zogen weiter.
Viele Mondumläufe später erst kamen sie auf diese Weide zurück, das qualmende Etwas war verschwunden. Nur ein tiefer Graben zeugte
noch davon, dass hier etwas geschehen war. Es war ruhig und so machte sich die Herde über das gute Gras her und genoss wie immer, diese völlige Ruhe. Auch Tjin war entspannt.
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Drei ganze Tage blieben sie auf dieser saftigen Wiese, bis ihre Ruhe unterbrochen wurde. Von weitem kam eine schneeweiße Stute angelaufen, ohne Geschirr und ohne Sattel. Die Bewohner der Siedlung, die kein Pferd halten konnten, da sie arm waren, hatten sie das Tier freigegeben. Immer wieder hatte man Ausschau gehalten nach der Herde des Rappen, in der Hoffnung, dass dieser die Stute bei sich aufnehmen würde. Ihr Besitzer war an den Folgen seiner Verletzungen gestorben, da diese zu schwer waren. Die Stute jedoch hatte überlebt. Die Menschen im Dorf brauchten kein Pferd, sie hielten sich Hunde und Rentiere. Aber sie hatten es nicht übers Herz
gebracht, dieses schöne Tier zu töten. Deshalb brachten sie jetzt die Stute auf die Weide. Sie wussten, der Rappe würde sie beschützen und sie in seiner Herde willkommen heißen, sonst hätte er sie nicht gerettet.
Als Tjin die kleine zierliche Tjan sah, schlug sein Herz einen Purzelbaum, hatte er doch gedacht, er würde diese Schönheit nie wieder sehen. Er lief langsam auf sie zu, um sie zu umwerben. Es war die richtige Zeit, die meisten seiner Stuten waren rossig. Er würde sie ebenfalls gern in seiner Herde haben, dazu musste sie bereit sein. Also umwarb er sie. Schon von weitem roch er, dass auch sie rossig war, bereit gedeckt zu werden. Immer wieder lockte Tjan den Rappen heran und jagte ihn dann quietschend und ausschlagend davon. Tjin umkreiste die Stute immer wieder, mit gewölbtem Hals und erhobenem Schweif. Er stolzierte und tänzelte um sie herum und flehmte oder wie man auch sagen kann, witterte nach den Duftstoffen, welche die Stute absonderte, sodass
er sie länger und intensiver in seiner Nase behalten konnte. Tjan blitzte den Hengst immer wieder an, dadurch zeigte sie ihm, dass auch sie Interesse an ihm hatte. Endlich gab die Stute ihm zu verstehen, dass sie ihn auch haben wollte und ließ ihn an sich heran.
So begann Tjin sie zu beknabbern, indem er ihr vorsichtig in den Hals und den Widerrist biss, ganz vorsichtig und zärtlich. Er rieb sich immer wieder an ihrem Körper und schmuste mit ihr, dann endlich konnte er sie zu der Seinigen machen. Ein glücklicher Tjin kehrte mit seiner neuen Stute, die so völlig anders war, zu seiner Herde zurück. Im darauf folgenden Frühjahr liefen zwischen der sonst schwarzen Herde schon zwei weiße Pferde herum, ein Fohlen und seine Mutter. Im Laufe der Jahre bekamen Tjin und Tjan, noch sehr viele kleine weiße Fohlen und wenn man heute die Herde der beiden sieht, besteht sie nicht mehr nur aus dunklen Tieren, sondern überall dazwischen, stehen kleine und
große weiße Pferde. Die Liebe der beiden, dauert auch heute noch und Tjin und Tjan, sind heute noch einen Einheit.
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