Lina packte meinen Arm, weil ich immer noch nicht reagierte.
„Mason, los, dafür haben wir jetzt keine Zeit!“ sagte sie.
Das war unglaublich. Meine Exfrau, die ich vor wenigen Stunden noch für tot hielt, stand nun vor mir wie das blühende Leben. Ich konnte nicht genau sagen, ob ich mich darüber freute, denn angesichts der Tatsache, dass sie soeben unseren Polizeipräsidenten erschossen hatte, kamen mir Zweifel auf.
Mein Blick wanderte von Lina zu Gordy McDavon, der reglos da lag. Und ich
bezweifelte, dass er in den nächsten Minuten einfach wieder aufstehen würde. Es war schwer für mich, zu begreifen, was sich da vor meinen eigenen Augen abgespielt hatte.
Nur um sicher zu gehen, wollte ich McDavons Hals abtasten, doch Lina hielt mich davon ab.
„Was soll der Mist? Er ist tot. Und jetzt komm. Wir müssen hier weg! Oder willst du, dass uns jemand sieht?“
Ich schüttelte den Kopf und folgte ihr nach draußen auf den Gang.
„Das ist doch alles nur ein übler Scherz!“ murmelte ich vor mich hin.
„Was hast du getan, Lina?“ rief ich ihr nach, denn sie war mir schon ein paar
Schritte voraus.
Lina war im Begriff das Gebäude durch den Ausgang zu verlassen, doch sie blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um.
„Ich habe dir deinen Arsch gerettet, mein Lieber.“
Ich antwortete nichts darauf und Lina verdrehte die Augen.
„Okay, hör zu, ich hab nur das getan, was du auch getan hättest. Die anderen Cops sind im Einsatz. Also waren nur noch Thommy und Will hier.“
Sie ging an mir vorbei und steuerte den Tresen an, blieb stehen und winkte mich zu sich. Ich folgte ihr und sah die beiden Polizisten am Boden liegend.
„Sind die etwa tot?“ fragte ich
misstrauisch.
Lina zog aus ihrer Jackentasche eine Spritze heraus und wedelte damit vor meinen Augen herum.
„Es war kinderleicht, die beiden zu überwältigen, okay? Sie werden eine Weile schlafen. Das ist alles.“
„Was hast du nur angerichtet? Findest du nicht, dass du mir noch einiges zu erklären hast? Ich hab gedacht, du bist tot, Lina. Und jetzt tauchst du plötzlich hier auf und erschießt McDavon.“
„Ich weiß, ich weiß. Ich werde dir alles erklären. Ich möchte nur, das wir von hier verschwinden. Bitte.“
Die Sache schien sich in eine Richtung zu entwickeln, die mir ganz und gar nicht
gefiel. Ich vertraute Lina, aber irgendetwas in mir warnte mich vor ihr. Nie im Leben hatte ich solche Gefühle gegenüber ihr gehegt, doch heute war das anders. Mir wurde etwas mulmig, denn ich wusste, dass das nur Anfang von etwas war, dass ich nicht kontrollieren konnte und das machte mir Angst.
„Du wirst mir also alles erklären, ja?“
Lina nickte.
„Der Wagen steht draußen.“
Es war zwecklos, ich hatte sowieso keine Wahl. Blieb ich hier, musste ich wohl oder übel erklären, warum der Polizeipräsident tot im Verhörraum lag. Und bei meiner derzeitigen Lage war es sowieso egal, welchen Schritt ich als
nächstes tun würde. Ich saß in der Scheiße, so oder so.
Nachdem wir das Revier schließlich verließen, stiegen wir in Linas Auto, dass sie zur Sicherheit ein paar Straßen weiter, um ihrer Meinung nach ja keine Aufmerksamkeit zu erregen, geparkt hatte.
Sie startete den Motor und wenige Sekunden später fädelten wir uns in den fließenden Verkehr ein.
„Also. Was ist hier los? Warum hast du McDavon erschossen. Und vor allem: Auch wenn ich erleichtert bin dich zu sehen. Warum bist du noch am Leben?“
„Eines will ich klar stellen, Mason.
McDavon hätte dich auflaufen lassen. Oder meinst du etwa im Ernst, dass er euren Fehler einfach so auf die leichte Schulter genommen hätte? Jonathan und du, ihr habt Mist gebaut.“
„Woher weißt du das?“
„Das spielt doch überhaupt keine Rolle jetzt!“ sagte sie wütend.
„Natürlich. Ich möchte wissen, wer dir das erzählt hat. Niemand außer mir und Jonathan wusste davon. Okay, McDavon vielleicht noch. Aber der hätte es keinem anderen erzählt, da bin ich mir sicher.“
Lina schaute kurz zu mir rüber.
„Ist das dein Ernst, Mason? Ich werd dir mal was sagen und danach möchte ich von dir wissen, ob es immer noch eine Rolle
spielt, was ich weiß.
Es geht hier um dich und Jonathan. Ihr habt jemanden ins Gefängnis gebracht, der völlig unschuldig ist. Und genau dieser Mann will jetzt Rache. Aber eins verstehe ich überhaupt nicht, Mason. Jonathans Frau wurde vergewaltigt. Jonathan hatte die Idee, die Beweise zu manipulieren. Und wenn ich mich recht entsinne, war es Jonathan, der dich darum gebeten hat, ihm zu helfen. Korrigier mich, wenn ich falsch liege.“
„Was willst du denn damit andeuten?“ wollte ich wissen.
„Was ich damit andeuten will? Jonathan trägt einen Großteil der Schuld und DU bist derjenige, der dafür bestraft wird.
DEINE Familie wird gerade zerstört, nicht die von Jonathan.
Weißt du eigentlich, dass ich einen Riesenschreck bekam, als ich diesen Kerl da vor meinem Haus hab herum lungern sehen!? Da war etwas faul, das hab ich geahnt.“
„Du redest von Erin Dexter!“
„Ist mir scheißegal, wie er heißt, okay? Beinahe wäre ich nämlich ins Haus gegangen weil ich immer noch der Ansicht war, das Tyler dort ist. Aber er hat mit eine SMS geschickt, dass bei ihm alles in Ordnung sei. Was ich natürlich nicht glaube. Jemand wird ihn gezwungen haben, es zu schreiben.“
Mir wurde noch schlechter bei dem
Gedanken, was gewesen wäre, wenn Tyler sich noch im Haus aufgehalten hätte.
„Wer war die Frau im Haus?“
„Das war meine Putzhilfe, Mason. Aber sie hatte ebenfalls Familie!“ Ihr Zorn war überdeutlich zu spüren.
„Tut mir leid!“ sagte ich leise.
„Es ist zu spät. Das bringt sie nun auch nicht mehr zurück.“
Einige Minuten vergingen und keiner von uns beiden wechselte ein Wort.
In meinem Kopf begann es allmählich zu arbeiten. Lina hatte Recht. Zumindest was Jonathan anging. Ich war hier derjenige, der zu Schaden kam. Also stand nur eine Frage im Raum: Was für einen Hintergrund hat es, dass ich derjenige
bin, dem so übel mitgespielt wird?
„Ich habe Jonathan angerufen und ihn um ein Treffen gebeten.“
Lina riss mich aus meinen Gedanken.
„Wie bitte?“
Wir lösten uns kurz aus dem Verkehr und hielten auf einem Standstreifen.
Lina beugte sich seitlich nach vorn und öffnete das Handschuhfach, um eine Waffe heraus zu ziehen. Vorsichtig legte sie mir die Neunmillimeter auf den Schoß.
Überrascht blickte ich Lina an und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Mason, ich vertraue dir. Aber ich denke, DU solltest niemandem trauen. Ich spüre, dass du Zweifel hast. Auch mir
gegenüber. Aber das ist schon okay.
Jonathan verschweigt uns etwas und im Moment glaubt er mit Sicherheit, dass wir niemals auf die Idee kommen würden, ihm gegenüber misstrauisch zu sein. Und was das Schlimmste ist, als ich ihn angerufen habe, hat er nicht etwa gesagt: 'Gott, Lina, du bist ja noch am Leben.' Ganz im Gegenteil. Wenn du mich fragst, ist das was oberfaul.“
Sie machte eine kurze Pause, dann nahm sie meine Hand. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal in Linas Augen jemals so viel Traurigkeit gesehen hatte.
„Ich will nur meinen Sohn zurück, verstehst du?“
Ich nickte nur, denn für Worte war der
Kloß in meinem Hals zu groß.