Samstag
Ich saß in meinem Zimmer und dachte nach. Die Sache vorgestern... Da hatte er sich tatsächlich Mühe gegeben. Und gestern... Gestern waren seine Bemühungen in meinen Augen wie hinweggewischt. Wie gern würde ich jetzt mit Julienne oder Katja reden, egal wie sauer sie nun werden würden, allerdings ist Julienne irgendwo in Berlin auf dem Touri-Trip mit Kamera und allem drum und dran, und Katja ist dieses Wochenende in Süddeutschland, bei ihrer Verwandschaft zu Besuch. Plötzlich gab mein Handy Klingeltöne von sich. Ich sah es erstaunt an, rappelte
mich auf und ging zur Kommode. Dort hatte ich es gestern abgelegt. Ich sah auf den Handydisplay.
NEUE NACHRICHT VON CLAUDE DESENS
Ich zog irritiert eine Augenbraue hoch. Das leuchtete nicht so ganz ein. Claude hatte mir seine Handynummer gegeben. Aber so weit ich wusste, hatte ich ihm nie meine gegeben! Das ergab keinen Sinn. Es sei denn... Nein! Aber was wäre, wenn es doch... Ach, unmöglich! Wieso sollte Anna ihm meine Handynummer geben? Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Claude hatte Anna mal einen riesengroßen Gefallen getan, als er für die Fahrdienst
gespielt hatte, nachdem sie total verzweifelt war, weil sie nicht wusste, wie sie zu einem Termin in eine 100 km entfernte Großstadt kommen sollte. Nun, das Problem hatte sich gelöst und seitdem war Anna ihm einen Gefallen schuldig. Woher ich das wusste? Hendrik. Hendrik, die männliche Quasselstrippe. Hatte durchaus seine Vorteile. Man konnte Informationen aufschnappen und gleichzeitig sicher sein, dass er wichtige Dinge, die man ihm erzählte, nicht weitersagte. Also durchaus ein praktischer Informant. Und ein Tresorraum für Geheimnisse. Von der Sache mit Claude, also wie es, seitdem Hendrik es rausgefunden hatte,
weitergegangen war, konnte ich ihm dennoch nichts erzählen. Die beiden waren immer noch befreundet. Und Hendrik verstand mich ebenso wenig wie Katja und Julienne. Also war das Ganze mehr oder minder für die Katz.
Ich seufzte und entriegelte mein Handy. Dann erschien die Meldung noch einmal. Ich wählte "Nachricht öffnen".
"Hi Lina", stand zu Beginn der Nachricht. "Das tut mir ales furchtbar leid. Alles. Wirklich. Ich wünschte, du würdest mit mir reden, dann würde ich versuchen, es dir zu erzählen. Ruf mich am besten
an.
Claude"
Was sollte ich jetzt tun? Auf der einen Seite wäre es sicher sinnvoll, mir anzuhören, was er vorzubringen hatte, jedoch hatte ich andererseits Angst, dass es sich um eine Banalität handelte, die eigentlich keine Hürde darstellte und es ihm somit offensichtlich nicht ernst wäre. Ich fühlte mich, als hätte man meinen Körper in zwei Teile geteilt un jeder wollte tun, was er für richtig hielt und liefen dabei in die entgegengesetzte Richtung. Nur das ein Strick an ihrem jeweiligen Arm sie beisammen hielt und
es ihnen unmöglich machte, ihr eigenes Ziel zu erreichen.Für meinen Moment schien der Verstand überhand zu nehmen und sofort setzte er meinen Körper in Kraft, um mich antworten zu lassen. Wie benommen tippte ich meine Antwort, ohne bewusst darauf zu achten, was mein Verstand mich tippen ließ. Am Ende sah ich noch einmal darüber
"Ich habe keinen blassen Schimmer, was es da zu bereden gibt. Vergiss es.
Lina."
Nun, ups. Es lohnte sich eben doch, wenn man noch einmal drüber sah, was so schien als würde man objektiv etwas schreiben. Tatsächlich hatte die verletzte Seite wohl eher geheuchelt,
mein Verstand zu sein und so mein Vertrauen erschlichen. Tja, da haste dich geschnitten, liebe Wut.
Ich seufzte, löschte den Entwurf der SMS und las noch einmal Claude´s Nachricht.
"Ruf mich am besten an. Claude"
Vielleicht sollte ich ihn wirklich anrufen. Missmutig suchte ich seine Nummer aus dem Kontaktverzeichnis meines Handys und drückte auf ANRUFEN.
Ich hörte, wie es wählte und klingelte. Nur zwei Mal klingelte es, dann ging bereits jemand ran.
"Lina!" Claude´s Stimme. Sofort rutschte mir das Herz in die Hose und all
der Pseudo-Mut war hin und weg...
"Hi", sagte ich. Moment mal! Hi? Hi?! Mehr fiel mir nicht ein?! Kommt schon, Gefühle, warum jetzt! "Du wolltest, dass ich dich anrufe?" Oh man.
"Ja. Lina, hör mal, das tut mir echt leid. Alles. Ich... Ich würde dir gern alles erklären..."
Stille.
"Dann erklär es mir."
Ich höre, wie er tief durchatmete. "Lina, ich wollte mich bereits von Aimée trennen, aber..."
Deine Freundin, nehme ich an?"
"Ja. Also... Ich wollte mich von Aimée trennen, aber sie will das nicht
zulassen."
"Wenn du dich trennst, hat sie da eigentlich nichts entgegenzusetzen, oder? Sie kann dich schließlich nicht zwingen, ihr Freund zu bleiben."
"Nein. Zumindest sollte man das meinen. Lina, hör zu, ich weiß, das hört sich wie eine echt schlechte Ausrede an, aber... Wie soll ich es ausdrücken? Aimée ist ein wenig labil."
Oh. Ich begann langsam zu verstehen.
"Ich weiß nicht, was sie macht, wenn ich mich wirklich trenne, als ich es letztes Mal versucht habe, hat sie wie ein Sturzbach geweint und mir Dinge an den Kopf geworfen, was sie machen würde, wenn ich das wahr mache."
Ich schluckte, in meinem Hals hatte sich ein Kloß gebildet. "W-was zum Beispiel?"
"Nun, im Moment sind es glücklicherweise noch keine Drohungen sich etwas anzutun, aber ich weiß nicht, wie lange das so bleibt. Soweit ich weiß, hatte sie mal eine Weile Depressionen. Also... Im Moment erpresst sie mich. Weißt du, ihre Eltern sind streng religiös und sie droht, mich bei ihnen zu verraten. Die werden mich erschießen! Und das meine ich Ernst!"
"Warum sollten sie das tun?"
"Lina, verzeih mir das bitte, aber sagen wir es so... Wir haben Dinge getan, die ihren Eltern nicht sonderlich in ihre
Weltanschauung passen. Und wenn sie mich nicht erschießen, werden sie mich zwingen, sie zu heiraten, schätze ich."
Es fühlte sich an. als würde ein tonnenschwerer, übergroßer Amboss gegen meinen Kopf prallen. Okay, klar, er war volljährig, irgendwie war es klar in unserer Zeit, dass das vorgekommen war, aber trotzdem... Natürlich weiß man, ob er schon mal vorher eine Freundin hatte, allerdings möchte wohl keine, und ich wiederhole keine, so etwas direkt von ihm hören. Obwohl es eigentlich von vornherein klar ist, dass da eventuell was war.
"Lina, bist du noch dran?"
"Was? Ja."
"Tut mir leid, dass ich das jetzt erzählt habe." Er räusperte sich.
"Ist okay", sage ich und versuche dabei, möglichst unbekümmert zu klingen. "Also was machen wir nun?", frage ich schließlich.
"Ich weiß nicht. Es wäre irgendwie falsch eine Beziehung mit dir zu führen, wenn ich offiziell mit Aimée zusammen bin."
"Was willst du sonst machen? Sie erpresst dich! Willst du bis ans Ende deines Lebens an diese Frau gekettet sein, nur weil sie dich erpresst?"
"Nein."
"Und was bedeutet das für uns?"
"Hast du morgen Zeit?"
Auch wenn mich leichte Schuldgefühle plagen, grinse ich etwas in mich hinein. "Ja."
"Was hältst du davon, wenn wir uns morgen im Café Wolke verabreden, um 14 Uhr?"
"Mhmh. Okay. Treffen wir uns dann dort?"
"Ja, denke schon."
"Okay. Bis morgen!"
Ich wollte gerade auflegen, als er einwarf: "Warte kurz!"
Ich hielt mir das Handy wieder ans Ohr.
"Ich versuche, das mit Aimée zu lösen, sobald ich kann. Mach dir keine Sorgen, wir... Ich habe mir geschworen, dass ich sie auf keinen Fall mehr küssen werde
oder sonstiges. Versprochen."
"Okay."
"Na dann, bis morgen."
"Bis morgen."