Donnerstag
Den gestrigen Tag hat Claude mich komplett ignoriert. Als wäre ich heiße Luft und gar nicht wirklich da!
Egal, wie sehr ich versucht hatte, ihn doch noch anzusprechen... Er war immer schneller verschwunden, als ich auch nur seinen Namen aussprechen konnte.
Vermutlich sollte ich endlich aufgeben und einsehen, was für ein Schwachsinn die ganze Aktion ist, was für ein Idiot Claude wohl in Wirklichkeit ist, aber... Ich kann einfach nicht. Jedes Mal, wenn ich versuche, das Ganze objektiv zu betrachten, machen mir meine Emotionen einen Strich durch die
Rechnung. Ich wünschte, ich könnte sie einfach per Knopfdruck abschalten. So viel bliebe mir damit erspart. Ich könnte Claude ganz objektiv einstufen. Irgendwie sträubte sich allerdings mein Innerstes dagegen. Selbst wenn ich es könnte - Ich würde mich wohl weigern, dass zu tun.
Wieso? Keine Ahnung.
Nach dem letzten Gong, der uns in den Nachmittag entließ, packte ich in aller Seelenruhe meine Sachen ein. Ich hatte schließlich Zeit, der Bus würde erst in einer halben Stunde fahren, also warum die Hetzerei?
Im Augenwinkel sah ich, dass Claude sich ebenfalls noch im Saal aufhielt und
seine Sachen einpackte. Aber er war dennoch schneller als ich.
Plötzlich kam aus der hintersten Reihe Anna zu mir.
"Hey Lina", grüßte sie mich.
Ich lächelte sie an. "Hi."
"Sag mal, würdest du mir vielleicht deine Handynummer geben? Für den Fall, dass ich mal wieder krank werde. Die anderen wissen meist selber nicht, was wir im Unterricht machen."
"Ehm... Klar."
Sie reichte mir einen Fetzen liniertes Papier und einen quietschig-gelben Kuli.
"Lieblingsfarbe?"
Anna nickte, während ich aufschrieb.
Dann reichte ich ihr den Zettel und den
Stift und packte meine Sachen zu Ende ein.
"Ich schreibe dir dann einfach eine SMS und schreibe meinen Namen ans Ende, ja?"
"Jap. Kein Problem."
Dann stand ich auf, stellte meinen Stuhl auf den Tisch und wollte gerade um die Ecke biegen, um die Treppe nach unten zu gehen, als mich jemand an der Schulter berührte.
Ich zuckte zusammen und fuhr herum.
"Entschuldige", sagte Claude, "Ich wollte dir das hier nur schnell geben."
Er reichte mir einen zusammengefalteten Zettel, durch den die Tinte leicht durchschimmerte, allerdings nicht genug,
um mir zu zeigen, was darauf geschrieben war, ohne ihn zu öffnen.
"Was ist das?"
Claude rieb sich den Nacken.
"Meine Handynummer. Tut mir echt leid, wegen gestern."
Ich zog die Augenbrauen hoch. "Natürlich doch. Tschüss." Brüsk drehe ich mich und gehe. Ich spüre, wie er mich anstarrt und tue so, als würde ich den Zettel aus dem offenen Fenster des Treppenhauses werfen. In Wirklichkeit lasse ich ihn unauffällig in meine Jackentasche fallen. Man weiß ja nie...
Als ich im Bus sitze, lege ich auf meinem Handy einen neuen Kontakt an: Claude Desens