Das Haus im Wald
Früher konnte man das Haus noch sehen, wenn man aus dem Fenster in den Hof und über die Eiche blickte. Na vielleicht nicht ganz das Haus, eher den Rauch, der an kalten Tagen aus dessen Schornstein stieg. Jetzt ist mein Blick verschwommen und die Eiche alt und knorrig wie ich selbst. Mag es am Nebel liegen oder an der Zeit, die sich in meinen Augen spiegelt. Es spielt keine Rolle. Die Sicht bleibt trüb und verläuft sich im Flüstern des Eichenlaubes, welches bisher den
Herbstwinden trotzte und sich unermüdlich an den Ästen festklammert.
Tausendmal mag sich der Baum mit dem Wind gedreht haben, und nun nach sicher 150 Jahren hat sich sein Stamm geformt, als würde er gar noch in diesem Moment seine Pirouetten drehen. Seine Wurzeln schmulen durch's Erdreich und bewahren die Geschichten, die um sie herum passierten in all den Jahren. Zum Teil sind es meine Geschichten, aber auch die meiner Familie und Freunde.
Der Regen hört nicht auf. Die Tropfen reisen mit dem Wind über den Hof, unter's Dach, in das kleine Fenster und
landen schließlich sicher auf meiner Nasenspitze, um mich an eine Geschichte zu erinnern, die mich prägte, wie keine andere.
Siebzig Winter muss das her sein. Anfangs war es genau solch ein Regen, der auch damals meine Nasenspitze kitzelte. Ich kam gerade mit meinem kleinen Bruder Ole vom Opa zurück, und wir spielten im Hof, bis Mutter uns zum Essen rief. Erst war es nur nass und kalt, was uns egal war. Doch dann wurden aus den Tropfen kleine Flocken und es begann zu schneien, wie es noch nie zuvor geschneit hatte. Der Wind kam aus dem Süd-Westen. Die Flocken wurden
immer dicker und leichter, und es dauerte keine halbe Stunde und alles um uns herum war weiß. Der Schnee befreite die Strassen von all den hässlichen Bildern, mit denen der Krieg unsere Kinderherzen auf so scheußliche Art beschmutzte.
Die Gicht in meinen Händen schmerzt und fühlt sich an wie die Kälte des Schnees von damals. Wir spielten solange im Schnee, bis unsere Hände völlig rot und taub waren.
Mutter schimpfte und prophezeite uns beiden einen fiesen Schnupfen, womit sie leider richtig lag. Sie schimpfte immer, wenn sie besorgt war, besonders
mit mir, da ich der Ältere war und somit die Verantwortung trug.
Wind zieht auf. Er fegt durch das Laub und zerrt an den einzelnen Blättern, als wolle er sie allesamt auf der Stelle mitnehmen. Doch einige halten sich hartnäckig. Der alte Baum jammert, und seine Äste knarren und knacken, dass es einem unheimlich ist. Als ich gerade die Fensterläden schließen will, kracht einer der Äste herunter auf die Holzbank, die ich letzten Sommer unter den Baum stellte, da mir das der schattigste und schönste Platz für eine Holzbank und somit für gemütliche Sonntagnachmittage zu sein schien.
Nun schlägt der Ast auf sie und weckt
damit die wohl wunderlichste Erinnerung an meine Kindertage.
Es geht um das alte Haus. Aber dort beginnt nicht die Geschichte. Sie beginnt hier an einem sehr finsteren Tag. Damals kickten Ole und ich mit einer Blechdose, die uns Soldaten, die an unserem Haus vorbeimarschierten, zuwarfen. Mutter schimpfte wegen des Krachs, und rief, das Vater nicht schlafen könne, und es sicher ein Donnerwetter geben würde, wenn er ertsmal aus dem Bett ist. Doch dazu kam es nicht. Ich erinnere mich, wie jemand mich am Arm packte und mich zur Seite schupste. Es war ein Mann in Uniform, groß und kräftig. Ihm
folgten zwei weitere Herren, die ebenfalls Uniformen trugen, allerdings ganz andere.
Energisch klopfte einer der Männer an unsere Tür. Ole und ich versteckten uns im Stall. Kurz darauf sahen wir, wie die Männer unseren Vater in Handschellen abführten.
Mein Bruder war erst drei Jahre alt und damit noch zu klein, um zu verstehen. Doch mir war klar, dass das sehr ernst war und nun noch düstere Zeiten anbrechen würden.
Zögernd nahm ich schließlich Ole an die Hand und ging mit ihm ins Haus.
Mutter hatte bereits den Tisch zum Abendbrot gedeckt, vier Teller, vier
Messer und vier Tassen mit heißem Tee.
Sie lächelte uns an und bat, Platz zunehmen. Ohne ein weiteres Wort schlürften wir den ersehnten Tee und löffelten unsere Suppe.
Der nächste Morgen übernahm das Schweigen des Vorabends und schlich durch's Haus, wie eine Krankheit, vor der jeder sich zu verstecken versuchte.
Ein dicker Kloß steckte mir im Hals, als ich mein Bett verließ. Meine Beine waren schwer und schmerzten. Nichts von mir wollte diesem Tag begegnen. Langsam schlich ich aus dem Zimmer und lukte durch die Küchentür.
Meine Mutter hatte bereits den Tisch gedeckt, wieder für vier. Und wieder
erfolgte lächelnd die Bitte, sich zu setzen. Mein Bruder kam aus dem Zimmer gestolpert, noch schlaftrunken und begann sogleich, seinen Brei zu löffeln. Ich hingegen konnte keinen Bissen herunter bekommen.
Nach einer Weile bemerkte ich, wie meine Mutter auf den vierten Teller starrte. Sie wirkte durcheinander, so als würde sie nicht verstehen, wieso dort ein vierter Teller stand.
Viele Abende folgten, und auch viele Morgen.
An einem Montag war es, meine Mutter stand am Fenster und hielt Ausschau, so wie sie es immer tat, wenn sie auf Vater wartete. Ich saß abseits am Ofen und
lauschte, was der Mann im Radio über die Verhaftung der Scholl-Geschwister berichtete. Der Empfang war sehr schlecht und der Sprecher war kaum zu verstehen. Nur einige Worte schafften den Weg bis ins alte Philipps, wie unser Vater immer das Radio nannte.
"Hey, Mam, hast du das gehört? Sie haben die Scholl-Geschwister heute hingerichtet."
Mutter reagierte nicht, schaute weiter in den Hof. Dann betrat Ole die Küche.
Er ging zu Vaters Stuhl, rückte ihn beiseite und nahm seinen Teller und Becher, wie auch Messer und Löffel vom Tisch und legte und stellte alles in die Spülschüssel. Dann setzte er sich auf
seinen Stuhl und starrte Mama an. Beide sagten kein Wort. Aber ich sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Meine Mutter war wie starr, mein kleiner Bruder wischte sich mit dem Ärmel die Nase, schüttelte den Kopf und flüsterte mit weinerlichem Ton:"Er kommt nicht mehr!"
Das ist so lang her und doch erinnere ich mich noch genau an die Stimme meines kleinen Bruders Ole. Sie war weich und klar.
Im kommenden Jahr verlor sie an Kraft und erholte sich niemehr. Eine Lungenentzündung hatte meinen Bruder ans Bett gefesselt, gerade fünf Tage nach
seinem vierten Geburtstag. Ole hatte hohes Fieber, und Mutter war sehr besorgt. Tag und Nacht saß sie bei ihm. Am Morgen des fünften Tages nickte sie für einen Moment weg und ich setzte mich dazu. Ole schaute mich an mit seinen fieberroten Augen und bat mich näher zukommen.
Ich hockte mich neben ihn an den Bettrand und streichelte über die schweißnasse Stirn. Ich liebte seine rotbraunen Haare. Es machte Spaß, mit den kleinen Löckchen zu spielen.
"Kann ich dir etwas bringen?"
"Nein, danke!"
Dann, nachdem er einen Moment nachdenklich in die Morgensonne
blickte, weinte er plötzlich und fing an von Vater zu sprechen. Er zählte alles auf, woran er sich erinnern konnte. Die Luft war ihm knapp, und Husten quälte seinen Rachen.Doch deutlich war der Satz, den er sprach bevor er einschlief:"Ich habe kein Bild von ihm, weiß nicht, wie er aussah."
Damals durchsuchte ich das ganze Haus, fragte jeden, den ich kannte. Doch es war, wie es war. Es gab kein Bild, nicht ein winziges. Der Krieg hatte alles zerstört. Das wenige, das wir besaßen, wurde uns genommen, und so auch viele unserer Erinnerungen.
Es vergingen einige Tage. Ole gesundete
wie durch ein Wunder, jedoch nur körperlich. Seine kleine Seele war im tiefsten Inneren gebrochen, suchte vergeblich nach Vaters Gesicht.
Ich kam gerade vom Zeitungsaustragen, lief am Kahlen Wäldchen vorbei. Wieso alle es das Kahle Wäldchen nannten, weiß ich bis heute nicht, denn kahl war dieser Wald nicht. Er war finster und dicht. Keine zehn Meter konnte man weit schauen, wenn man erst einmal drin war. Ich liebte es, dort zu spazieren. Dort konnte ich alles um mich herum vergessen, die Sorgen, den Krieg, das Elend, das traurige Gesicht meiner Mutter, den kranken
Ole.
Ich lief völlig in Gedanken, achtete nicht auf die Zeit. Der Abendhimmel schlich über mich und überraschte mich mit einem heftigen Sturm. Es begann so heftig zu schneien, dass sogar die Kronen der Bäume aufgaben und sich neigten, so dass aller Schnee auf mich fiel. Als ich den Heimweg antreten wollte, mußte ich erkennen, dass ich nicht mehr wußte, wo er war. Es schien, als hätte der Schnee alle Wege versteckt, alles sah gleich aus. Nach einigen Minuten des Umherirrens erblickte ich ein Häuschen. Es stand so plötzlich vor mir, wie auch der Mann, der mich nun
hereinbat.
"Komm nur! Trockne dich erstmal", sprach er mit tiefer Stimme. Seine Augen sahen müde aus, doch irgendetwas war in ihnen, das ich nicht zu beschreiben vermochte. Schon im allerersten Moment war mir klar, das irgendein Geheimnis sich hier bettete. Es schlummerte hinter dem alten Eichenholzstämmen, die den Grundbau des Hauses bildeten. Die Tür war schwer und kämpfte bei jeder Bewegung, nicht aus den Angeln zu fallen. Im Haus brannten nur einige Kerzen. Strom gab es wohl nicht. Der Raum, es schien wohl nur diesen einen zu geben, war klein und übersichtlich. Es gab zwei verhangende
Fenster, vor denen eine Art Bett stand. Gleich davor ein wackeliger Tisch und ein Hocker. Der alte setzte sich und sprang sogleich wieder auf:"Oh, wie unhöflich!"
"Nein, ist schon gut. Ich brauch nicht zu sitzen."
"Ich hab nicht oft Besuch."
Der Alte rieb sich die Nase und zog dann einen Zeitungsstapel unter dem Bett hervor.
"Hier! Setz dich nur drauf! Ich mach uns Tee."
"Danke!", gab ich zurück und grübelte, wo ich eigentlich war.
Und als ob der Alte Gedanken lesen konnte, meinte er, während er den Kessel
mit dem Wasser über die Feuerstelle hing:" Du bist nicht weit weg von deinem Zuhause. Wenn der Schneesturm nicht so heftig wäre, könntest du sogar euer Dach sehen."
Ich wunderte mich. Ich war so oft hier im Wald, aber noch nie hatte ich dieses Haus bemerkt, noch irgendein anderes. Es gab keine Häuser im Wald.
"Es ist besser, du wartest den Sturm ab, sonst verirrst du dich nochmal, Kleiner."
"Ich heiße Ben."
"Wie?"
"Ben, ich heiße Ben, Herr."
"Ach! Gut. Ich bin der Wei..., bin der Waldemar. Ja, der bin ich", nickte mir
der Alte, also der Waldemar zu.
Wir unterhielten uns über allesmögliche, über mein Zuhause, das Zeitungsaustragen, über Ole und meinen Vater und auch über den Krieg. Er sprach mit mir wie mit einem Erwachsenen. Das gefiel mir. Von anderen Erwachsenen im Dorf hörte ich nur immer 'Ach, du verstehst das noch nicht mit deinen elf oder zwölf Jahren', oder wie alt ich eben war. Nie erzählte mir man wirklich, was im Krieg los war. Aber Waldemar konnte das so wunderbar, dass ich plötzlich alles verstehen konnte. Ich fragte mich nur, woher er soviel wusste, wo er doch hier so einsam im Wald
lebte.
Später, als wir den Tee beinah ausgetrunken hatten, erfuhr ich, dass er mal so etwas wie ein Reporter war. Er schrieb im Ausland und konnte drei Sprachen. Muss viel rumgekommen sein. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb ich später studierte, und eine eigene Agentur gründete. Der große Renner waren Zeitschriften für Kinder. Aber das ist eine andere Geschichte. Zurück zu unserer.
Der Alte stand auf und holte eine Kiste unter dem Bett hervor. Sie war nicht besonders, eben eine Kiste, etwas
instabil, und der Deckel klemmte. Ich sollte sie öffnen und mir alles ansehen.
Eine seltsam festliche Atmosphäre herrschte plötzlich. Andere Worte finde ich nicht. Ich nahm also den Deckel hoch und staunte nicht schlecht, als ich den Inhalt erblickte. Viele, viele Fotos.
Damals waren Bilder etwas besonderes, ich meine im Krieg. Und es war auch ganz gleich, was drauf war, es war eben etwas ganz besonderes.
Jedes Bild hielt ich in meinen Händen, als hätte man mir einen Schatz anvertraut. Damals war noch alles schwarz/weiss, aber in meinen Gedanken konnte ich alle Farben sehen. Eine Rose
in einem Garten. Ich schwöre, sie hatte das schönste Rot, dass ich bis dahin je sah. Dann eine Frau auf einer Bank, sie trug ein Kleid mit Sonnenblumen. Das Gelb war da, es war auf dem Bild. Und dann ein Foto, da waren Katzenjunge, sicher fünf oder sechs. Sie waren alle Schwarz mit weissen Pfötchen, aber eben nicht dieses Fotoschwarz/weiss, sondern richtiges Schwarz und richtiges Weiss.
Und dann stockte mir der Atem. Das nächste Bild ließ meine Hände so heftig erzittern, dass der Alte mir es aus der Hand nahm und fraglich das Motiv in Augenschein nahm.
"Den hab ich vor zwei Wintern fotografiert. Ich kannte ihn nicht, nur
gefiel mir sein Hut", lachte der Alte.
"Ich kenne ihn. Das ist... war mein Vater."
"Oh! Das ist....ja...", stammelte Waldemar nach Worten.
Ich weiß noch genau, wie unendlich lang mir der Moment erschien, bis er endlich sagte:"Hier, nimm es nur! Ich denke, du kannst dich mehr darüber freuen als ich (oder wie ich, werde mir das nie merken)."
Dann reichte er mir das Foto und zwinkerte, und ich schwöre, in seinen Augen war ein Funkeln, wie Sterne sonst nur in klarster Nacht funkeln.
Als ich später auf dem Heimweg war,
behielt ich den ganzen Weg meine Hand in der Hosentasche, damit ich auf keinen Fall das Bild verlieren konnte.
Meine Mutter stand im Hof und schimpfte sofort los:"Wo warst du nur? Der Sturm hat das Scheunendach beschädigt. Beim Müller ist die alte Kiefer ins Haus gedonnert. Und du treibst dich herum."
"Ich hatte mich verlaufen", war alles, was mir einfiel. Dann rannte ich ins Haus zu Ole ans Bett und zog das Foto aus der Tasche, um es ihm zu überreichen.
Ach, war das ein spannender Moment. Voller Erwartungen auf eine Reaktion in
seinen Augen starrte ich ihn an. Ole hielt das Bild in seinen Händen, als wären es tausend Euro oder so, na damals noch Mark, Reichsmark genau genommen. Jedenfalls hielt sein Blick fest und ein Lächeln ging über sein Gesicht, es war ein heilendes Lächeln. Es erfüllte den ganzen Raum. Und als Mutter hereintrat, merkte sie sofort, dass etwas Eigenartiges, Besonderes in der Luft lag.
"Was habt ihr?", fragte sie neugierig.
Ole drehte das Bild zu ihr und fing an, irgendwas zu nuscheln:"vooon eeee uuu....ich kann doch nicht lesen. Und hier, schau mal! Da steht irgendwas."
Er reichte mir das Bild und ich las
vor:
"VON EUREM VATER
FÜR MEINE SÖHNE OLE UND BEN
GRÜßT MIR MAMA
HAB EUCH ALLE LIEB"
Wir drehten das Bild hin und her. Meine Mutter weinte fast. Sie schwor, dass es seine Handschrift war, die Handschrift unseres Vaters, ihres Mannes. Doch konnte das sein?
Später erfuhr ich, das Haus im Wald wäre seit Jahren unbewohnt. Keiner glaubte mir, wenn ich vom Alten erzählte, und dass wir Tee tranken und so.
Nun schaue ich aus dem Fenster rüber zum Kahlen Wald bis hin zum alten Haus. Und erzähl mir einer, ich spinne. Das ist mir gleich. Ich weiß, was ich weiß. Damals vor siebzig Jahren saß ich dort im kleinen Haus und trank Tee mit einem Mann namens Waldemar.Und der gab mir ein Foto meines Vaters, das einzige Foto meines Vaters, den ich seit dem Tag seiner Verhaftung nie mehr sah.
(c) Shirley
01/2014