Wenn du von mir schreibst
„Jetzt leben wir in einer Wohnung“, sage ich. „Endlich.“
Du schaust auf unsere ineinander verschlungenen Finger. Als wären sie nicht wirklich da. „Eigentlich“, sagst du dann, „leben wir hier drinnen.“ Erst tippst du an deine Stirn, dann berührst du leicht meine.
Ich nehme meine Hand aus deiner und greife nach dem Mietvertrag. „Hier steht es!“, rufe ich. „Hier steht es in Worten, die gleichen, die auch du benutzt, hier steht es schwarz auf weiß. Wir leben jetzt hier.“ Und da lächelst du ein
bisschen, aber sagen tust du nichts.
Winter. Weiße Flocken an den Fenstern nennst du „Schneerückstände“. Sie schmelzen zu schnell, hast du einmal gesagt: „In meinen Händen schmelzen sie so schnell, dass sie kaum existieren. Sie existieren nur in meinen Worten. Deswegen schreibe ich.“
Vielleicht, denke ich, wird auch die Wohnung erst wahr, wenn du darüber schreibst. Und vielleicht, wenn du erst eine Weile in deinem Kopf darin gelebt hast, kannst irgendwann auch wirklich darin leben.
„Ich wollte es dir nicht kaputtmachen“, sagst du. „Ich bin halt Realist.“
Na gut, dann bin ich eben Surrealist. Ich
zeichne ein Bild von dir und mir mit zwei, drei Pinselstrichen.
Wenn ich sage: „Ich liebe dich, von ganzem Herzen“, sagst du: „Alles, was das Herz kann, ist Blut pumpen.“
„Aber das ist nicht wahr! Mein Herz kann schlagen; es schlägt schneller, wenn es dich sieht, es erkennt dich. Und wenn es dich schon mal kennt, kann es dich irgendwann vielleicht auch lieben.“
„Deins vielleicht.“ Du lächelst ein bisschen. Du bist halt Realist.
Der Winter ist nur außerhalb unserer Wohnung real. Es ist schön, abends mit dir am Küchentisch zu sitzen und ab und zu nach draußen zu schauen. Das Leben, das hinter unseren Stirnknochen
stattfindet, breitet sich langsam aus, in die Wohnung hinein: Erst zieht der Duft von unserem Risotto durch die Küche, dann finden meine Bilder raus aus den Kartons und zieren die Wände des Wohnzimmers. Im Januar finde ich deine Socken in der Küche und deine Zahnbürste im Schlafzimmer. Dein Laptop hat seinen Stammplatz auf dem Küchentisch gefunden, beim Tischdecken schieben wir Teller und Töpfe drum herum.
„Tut mir leid, ich bin unordentlich geworden“, sagst du.
„Du bist heimisch geworden“, sage ich. Triumphierend. Es schneit. Ich tanze barfuß durch die Küche im Takt deines Tastaturgeklimpers.
Im Februar fällt die Heizung aus. Der Winter zieht in unsere Wohnung ein. „Verdammte Kälte“, schimpfe ich abends. „Bleib bloß draußen. Diese Wohnung gehört uns, nicht dir.“
„Genau genommen gehört sie unserem Vermieter“, sagst du und ich verdrehe die Augen. „Schon gut, ich weiß ja.“ Du bist halt Realist.
An manchen Tagen möchtest du mich kaum beim Namen nennen. Auch ich vermeide dann deinen Namen. „Wie soll ein einzelnes Wort schon für eine ganze Person stehen?“, fragst du.
Na schön, dann finde ich dir einen neuen Namen. Ich flechte ihn dir aus marshmallowgeküssten Mündern, deinen
behandschuhten Fingern an meinen winterrauen Lippen. Ich taufe dich auf die Stille, die zwischen uns tanzt, wenn wir schweigend in der Küche sitzen, ich lese Agatha Christie und du schreibst. Über mich?
Darüber sprichst du nicht, aber ich denke oft daran. Fasst du mich also auch an, wenn du arbeitest, mit Handschuhen aus Worten? Bearbeitest mich mit der Tastatur wie ein Steinmetz mit Hammer und Meißel, bevor du mich in ein Satzgefüge kleidest, wie eine Puppe?
Bist du auch dann Realist, wenn du von mir schreibst? Erwähnst du meine schlechte Haut in den Wintermonaten, meine kindische Angst vor großen
Hunden? Wie ein Foto von mir. Ein Passfoto, ein Schnappschuss. Arbeitest du mit Farbe oder in Schwarz-Weiß?
Die Heizung ist repariert. Der Winter zieht sich zurück und existiert nur noch in seiner flockigen Schönheit vor dem Fenster. So gefällt es mir. Winterwirklichkeit tanke ich in langen Spaziergängen in meiner Mittagspause.
Manchmal, wenn ich von der Arbeit komme, ist es ganz still im Haus. Keine Tastatur klappert. Dein Laptop steht zusammengeklappt auf dem Küchentisch und du kommst mir im Anzug entgegen, mit wunderschön weichen Augen: „Wir gehen essen.“ Dann weiß ich, du hast eine Geschichte beendet.
An was du gerade schreibst, weiß ich nie; ich erfahre es immer erst beim Frühstück, wenn du mir beiläufig ein Magazin hinüberschiebst. Eine Zeitungsglosse über Kantinenessen. Ein Beitrag in einer Literaturzeitschrift, mit deinem Namen versehen. Ich lese und staune. Mal hat die Protagonistin meine Nase, mal gleichen die fiktiven Dialoge unseren Gesprächen aus samtenen Dezembernächten.
Wir halten Händchen, während wir auf einen freien Tisch warten. Wenn der Wein gekommen ist und wir anstoßen, sagst du: „Auf dich! Auf die schönste Frau der Welt. Meiner Welt“, und das sagst du nicht, weil es dir gefällt oder
du es gar so meinst, sondern weil es mir gefällt. Und dann denke ich es mir wieder: Wir leben in der gleichen Welt. Wir müssen nur noch eine Sprache finden, die wir beide verstehen.
April. Der weiße Vorhang aus Eisblumen am Fenster weicht einer neuen, grünen Wirklichkeit. Die Heizung fällt wieder aus, aber diesmal tanze ich trotzdem in der Küche. Ohne Schuhe.
„Vielleicht hattest du Recht“, sagst du auf einmal. „Wir leben hier.“
„Na endlich“, sage ich und tapse zu dir rüber.
„Es ist ein bisschen wie dreimal leben“, sagst du. „Oder nicht? Du lebst hier, in dieser Wohnung, du lebst in deinem
Kopf… Und ein bisschen auch in meinem.“
Sehr wirklich ziehst du mich zu dir und kein Schnee fällt und meine Stirn wird zu einem Zuhause für deine Stirn. Jetzt ist es nicht mehr Winter.