Kurzgeschichte
Der Springbrunnen

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"Der Springbrunnen"
Veröffentlicht am 06. Januar 2014, 48 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Der Springbrunnen

Der Springbrunnen

Der Springbrunnen

Da lag sie, zusammengerollt in ihrem Bett. Die unebene alte Matratze drückte sich in ihren Rücken und ließ sie gequält aufstöhnen. In eine alte Stoffdecke gehüllt, sah sie zum Fenster und beobachtete das ruhige Schneetreiben das draußen stattfand. Es war Nacht und der Mond schien sichelförmig auf ihr Gesicht hinab. 
Sie zitterte erbärmlich und eine einzelne Träne rann still ihre Wange hinunter. Heute war Heilig Abend. Der Abend vor Weihnachten. Mitleidig ertappte sie sich bei einem ihrer Tagträume in denen sie sich vorstellte Plätzchen zu futtern, den

Tannenbaum zu schmücken, Geschenke auszupacken und Weihnachtslieder zu summen. Vielleicht war es etwas armselig aber auch verständlich. Sie wollte dazugehören. Sie hatte noch nie richtig Weihnachten gefeiert. Sie war mehr die stille Beobachterin vor den Fenstern anderer Familien. Und sie war neidisch. Selbst dieses Jahr war sie zu soviel Freundlichkeit nicht eingeladen. Sie beneidete die Kinder die sich darauf freuen konnten während sie Jahr für Jahr immer nur in ihrer Vorstellung einer Weihnacht lebte. Von ihrer Familie konnte sie solch eine Wärme und Liebenswürdigkeit nicht erwarten. 
Von ihren leiblichen Eltern früh

weggegeben. Adoptiert. Und letztendlich ignoriert. Traurig drehte sie sich auf die andere Seite. Sie lebte in einem tristen Zuhause. Ihre jetzigen Eltern waren selbst so voller Probleme und Sorgen das sie den Blick für alles andere verloren. Sie seufzte in die Decke hinein. 16 Jahre war sie alt. In ihrem bisherigen Dasein war nie etwas passiert an das sie sich gern zurückerinnerte.
Und doch... jetzt wo sie so grübelte, gab es schon etwas an das sie gern zurückdachte. Nur ein einziger Lichtpunkt, doch der war genug. Etwas, nein jemand der in ihr ein Kribbeln auslöste. Ihre Wangen verfärbten sich leicht rot als sie an den schwarzhaarigen

Jungen dachte den sie am Marktplatz bei dem großen Springbrunnen mit der Engelsskulptur getroffen hatte. 

Man hatte sie losgeschickt um etwas Essbares zu besorgen und da hatte sie ihn fast umgerannt. Sie war ausgerutscht und die Tüte mit den Brötchen war mit ihr in den Schnee gefallen. 
„Hey alles in Ordnung?” hatte er besorgt gefragt doch als sie den Kopf hob konnte sie nicht anders als ihn wortlos ansehen. Seine Augen und Haare waren so schwarz das sie einen starken Kontrast zu dem weißen Schnee bildeten der auf seinen Kopf fiel. Er streckte ihr seine Hand entgegen die sie zögerlich annahm

und half ihr auf. Fragend sah er sie an bevor er sich hinunterbückte. Er klopfte die fast noch warmen Brötchen vom Schnee sauber und packte sie wieder in die Tüte. Als Antwort auf seine Frage nickte sie nur dämlich vor sich her und nuschelte ein „Danke“. Er  zeigte ein leicht schiefes, sympathisches Lächeln und gab ihr die Brötchen wieder.
„Hier.” 

Sie nahm sie verlegen an sich doch bevor sie etwas erwidern konnte wurde von der anderen Seite des Marktplatzes nach ihm gerufen. Ein hübsches Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen in einem eleganten Mantel winkte ihm zu. Sofort kam sie sich so fehl am Platz vor und

rannte mit der Tüte an die Brust gedrückt die enge Seitengasse hoch die nach Hause führte. 


Eine ganze Woche war das jetzt schon her und sie hatte ihn nicht wiedergetroffen. Dies war ein kleiner Ort. Nichts Eindrucksvolles. Hier passierte nie etwas Aufregendes. Wahrscheinlich hatte er die Stadt schon verlassen. Sie bedauerte es und ertappte sich dabei wie sie wieder verträumt lächelte. Als sie noch ganz klein war hatte jemand zu ihr gesagt das ihr Lächeln immer jenes war welches sie beim Tagträumen unbewusst aufsetzte.
Sie schloss ihre Finger fest um die

Decke. Ein Teil von ihr wünschte sich trotz allem ihn wiederzusehen. Plötzlich hörte sie ein schwaches Kratzen am Fenster. Als sie hochsah erkannte sie einen Schatten und öffnete es. 

Sofort huschte dieser hinein und sprang zu ihr aufs Bett. Sie kroch zitternd aber wieder guter Laune unter die Decke wo sich das kleine schwarze Knäuel kugelrund an sie schmiegte. 

„Du bist doch noch gekommen Hua.”
Sie legte ihre Arme um die schwarze Katze mit dem weißen, unförmigen Fleck auf der Stirn und zog die Decke über sie beide. 
Hua war ihr eines Tages einfach zugelaufen. Genau ein Tag nachdem sie

hier angekommen war. Sie hatte sie heimlich mit ins Haus genommen und versteckt gehalten da sie ihr leid tat und es bald kalt werden würde doch kurz darauf hatte ihre Mutter sie entdeckt. Hua hatten sie rausgeschmissen und sie hatte man zur Strafe dafür geschlagen. Der Vater hatte sogar damit gedroht das Tier ebenfalls zu verprügeln wenn er es noch einmal hier erwische. 
Deshalb schlich sich Hua jeden Abend durch das Fenster zu ihr ins Zimmer. Sie hob ihr immer ein paar Brocken vom Abendessen auf.
Durch Hua hatte sie endlich eine kleine Spielgefährtin gefunden mit der sie ihre Einsamkeit auf heitere Weise teilen

konnte. Damals war sie noch ein kleines Kätzchen gewesen.   
Sie strich mit dem Daumen über den weißen Fleck und Hua schnurrte wohlig. 

Kurz bevor sie eingeschlafen war hörte sie auf einmal laute Worte zu ihr ins Zimmer dringen. 
Schnell zog sie die Decke über sich und legte beide Hände an ihre Ohren. Hua war ebenso aufgewacht und schaute verschreckt. 
Schon wieder... schon wieder stritten sie sich.  Und dabei war in ein paar Stunden Weihnachten.
Sie wollte das nicht mehr... warum konnten sie denn nicht damit aufhören?

Ihr Herz klopfte wild. Ihre Hände wurden feucht. Sie hatte Angst. Angst vor der bevorstehenden Reaktion ihrer Eltern und Angst davor wieder in ihre Streitereien hineingezogen zu werden.
Plötzlich wurden schnelle Schritte lauter und sie konnte hören wie ihre Tür geöffnet wurde. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und sie kniff die Augen fest zusammen in der Erwartung wieder angebrüllt zu werden. Doch nichts geschah. Sie verharrte unter der Decke. Eine gebannte Minute war es still. Dann ein Schluchzen. 
Langsam zog sie die Decke soweit runter, dass sie ihre Adoptivmutter sehen konnte.


Diese saß mit dem Rücken an der Wand da und verbarg das Gesicht in beide Hände. Sie weinte.
Sie schob Hua weiter unter die Decke und zögerte. Sollte sie aufstehen und zu ihr gehen? Ihre Mutter und sie hatten sich in der Vergangenheit nie wirklich gut verstanden. Da war es in Ordnung unschlüssig zu sein. Doch sie war ein gutes Mädchen. Sie hatte viel Herz und ihr tat es trotz allem weh die Frau die sich einige Zeit um sie bemüht hatte so aufgelöst zu sehen. Doch bevor sie aus dem Bett steigen konnte hob ihre Mutter ruhig den Kopf und starrte sie mit verweinten und wutentbrannten Augen

an. Sie hielt inne. 
„Du bist Schuld.“, flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Es ist alles nur deine Schuld hörst du, wenn du nicht gewesen wärst dann...”, ihre Unterlippe bebte und sie musste schlucken. Das Ende des Satzes wurde prompt unterbrochen als ihr Adoptivvater mit zornesrotem Gesicht hereinkam und die Tür hinter sich mit lautem Knall zuschmiss. 
Aufgeschreckt kam Hua unter der Decke hervor und suchte panisch einen Ausweg. 
„Nein Hua, bleib da!”, rief sie ihr zu doch die Katze huschte von einer Ecke zur anderen und flitzte dann unters

Bett.
Sie wollte schon runter und sie holen als eine große Hand sie am Arm packte und sie heftig zu sich herum riss. Sie drehte ihren Kopf und sah in die blutunterlaufenen, wütenden Augen ihres Adoptivvaters. Er war mal wieder schlechter Laune. Warum auch immer. Seine Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und seine große raue Hand die sich kratzig auf ihrer Haut anfühlte, quetschte ihr das Blut am Handgelenk ab. Sie keuchte vor Schmerz auf als er fester zudrückte.
„Was habe ich dir über die Katze gesagt?”, bellte er aufgebracht und wollte an ihr vorbei um sich Hua zu

holen. Die Fahne die ihr entgegenschlug verriet, dass er seit dem frühen Abend nicht mehr ganz nüchtern war. Voller Angst weiteten sich ihre Augen. 

„Nein bitte, lass sie in Ruhe ich werde sie hinausschicken bitte.”, flehte sie ihn an und zerrte an seinem Arm. 
Außer sich schlug er sie mit solcher Wucht und traf sie mit dem Ellenbogen am Kopf sodass sie zu Boden stürzte und Blut ihr in dünnen Äderchen die Stirn hinunter rann. Für einen Moment drehte sich heftig alles. Sie hielt sich mit beiden Händen am Boden fest um das Gleichgewicht zu halten und stöhnte. Aus weiter Ferne drangen Geräusche zu ihr. Sie hörte ein Schluchzen, Flüche die

von ihrem Vater stammen mussten und Krallen die den Boden zerkratzten. Auf ihren Lippen schmeckte sie Blut und Tränen. Hatte sie sich beim Sturz auch noch auf die Zunge gebissen? Sie riskierte einen wackeligen Versuch wieder auf die Beine zu kommen. Doch einen Moment später wurde sie auch schon ruckartig an den Haaren hochgezogen. Sie schrie auf. Ihre Mutter stand hinter ihr und schluchzte mit wutverzerrter Stimme in ihren Haarschopf hinein. 

„Sieh was du angerichtet hast. Es war schlimm genug aber du musstest es wieder auf die Spitze treiben.“ 

Eine Hand in ihren Haaren, hielt sie grob

ihren Schopf auf die Szene gerichtet in der ihr Adoptivvater auf allen Vieren ging und erfolglos nach Hua griff. Nein, den Gefallen tat sie ihr nicht. Sie kniff die Augen fest zusammen und hielt sich beide Ohren zu. Warum musste sie auch immer für all das Übel ihrer Familie herhalten? Sie war es leid. Und sie war fertig. Sie wollte nicht mehr. Verzweifelt riss sie sich von ihrer Mutter los und stolperte zur Tür hinaus aus dem Zimmer. Hinter sich konnte sie noch immer das verzweifelte Miauen und Fauchen Huas hören. Tränen sammelten sich in ihren Augen und flossen ihr Gesicht hinab.
Voller Angst erreichte sie die Tür und

stieß sie auf. Frostige Luft empfing sie. Es fühlte sich beinahe so an als würden sich tausend eisige Nadeln in ihre Haut bohren. Sie rannte die Stufen hinunter und schrie spitz auf als sie den bitterkalten Schnee unter ihren nackten Füßen bemerkte. Kalte Schauer breiteten sich auf ihrem Körper aus. Was sollte sie tun? Zurück konnte sie nicht mehr. Sie biss die Zähne zusammen und hastete die enge Seitengasse hinab. Verfluchte den schneidenden Wind der ihr weitere Tränen in die Augen trieb. Keuchend musste sie sich an einer Häuserwand abstützen als ein Schwindelanfall sie erfasste. Alles begann sich wieder zu drehen und ihr wurde übel. Heftig rieb

sie sich die Augen und hoffte so den Schwindel loszuwerden. Kämpfte den Brechreiz nieder. Als Stimmen am anderen Ende der Gasse immer näher kamen, ergriff sie die Panik. Nackte Angst kroch ihr den Rücken hinauf. Was wenn ihr Vater sie verfolgt hatte? Was wenn er sie suchte um sie wieder heim zu bringen? Nein, sie wollte auf keinen Fall wieder zurück! Sie wartete nicht länger. Von der Befürchtung getrieben, wieder ihrem Vater zu begegnen, rannte sie mehr taumelnd als laufend durch mehrere Straßen. Nahm keine Notiz von Pärchen die Arm in Arm an ihr vorbeigingen und ihr hinterherstarrten. Verstört erreichte sie eine offene Straße

und rempelte in blinder Furcht einen älteren Mann an. Nachdem er sich lautstark beschwert und sie sich entschuldigt hatte, fiel ihr auf wie gut gekleidet er war. Er war mit einem dicken schweren Mantel und einem eleganten Hut ausgestattet. Ein langer, dunkler Schal lag um seinen Hals und in der Hand trug er einen schwarzen Gehstock in dessen Knauf ein wundervoller klarer Stein eingelassen war. So etwas hatte sie schon einmal beim Vorbeigehen im Schaufenster eines Juweliers gesehen. Sie glaubte einen Diamanten vor sich zu haben, doch was wusste sie schon. Augenblicklich wünschte sie sich ein Gewand herbei.

Etwas das ihr schäbiges Nachthemd verbarg. Erst seine Frage ob sie vielleicht Hilfe brauchte und der anschließend musternde Blick hatten sie wieder in die Realität geholt. Ja sie hatte Probleme. So große das sie von zu Hause weggelaufen war anstatt Heilig Abend zu feiern. Sie schämte sich und fühlte sich so nackt. Heiße Tränen brannten in ihren Augen und sie schaute weg. Warum sollte ihr Vater sich die Mühe machen und nach ihr suchen? Sie bedeutete ihm nichts. Kein Stück. Er hatte sie so oft grün und blau geschlagen das sie sich fragte welche Rolle sie in dieser Familie gespielt hatte. Warum hatten sie sie nicht einfach wieder weggegeben oder

ausgesetzt wenn sie ihnen doch so zuwider war? Ohne ein weiteres Wort zu sagen ging sie an ihm vorbei. Sie rieb sich die kalten Hände und hauchte warme Luft hinein. Zitternd stapfte sie mit verlorenem Blick die Straße hinunter und gelangte zu dem runden Platz mit dem alten Engelsbrunnen.
Sie blieb direkt davor stehen und sah hinauf. Der alte Springbrunnen der noch nie Wasser hatte fließen lassen. In der Mitte stand eine schon etwas in die Jahre gekommene Engelsfigur. Eine Frau deren Flügel sich um sie schlugen wie ein Gewand und dessen Hände zum Gebet zusammengefaltet waren. Aus steinernen Augen blickte sie ihr mitleidig entgegen.

Sie schüttelte den Kopf.
Langsam setzte sie sich mit dem Rücken an den kalten Stein des Springbrunnens und zog die Beine an sich. 
Sie konnte sich vorstellen wie schäbig sie in den Augen anderer Menschen aussehen musste. Sie legte ihre Arme um die Beine und vergrub ihren Kopf. Ihre Finger waren schon ganz steifgefroren. Wenn es doch nur nicht so kalt wäre. Was sollte sie nun tun, sie war von zu Hause geflüchtet und nun konnte sie nirgends mehr hin. Ihre Glieder fühlten sich wie Blei an. Sie wurde schläfrig und wollte nicht mehr. Mit jeder Minute die verstrich spürte sie wie ihr alles mehr und mehr gleichgültig wurde.


Irgendwann lag sie im Schnee, mit Hua im Arm. Als sie hinuntersah und sie erkannte, erstarrte sie. Ohne es zu wollen flossen Tränen ihr Gesicht hinab. „Hua.“, krächzte sie. Die etwas zu klein geratene Katze zitterte und sah mitgenommen aus aber sie war ihrem Vater entkommen. Das war alles was zählte. Schnurrend stimmte Hua ihr zu. Sie musste schmunzeln und versuchte das Tier enger an sich zu drücken doch ihre Arme ließen sich nicht mehr bewegen. Auch ihr Zeitgefühl hatte sie im Stich gelassen. Wie lange sie hier wohl schon lag? Hundemüde schloss sie wieder die

Augen. 
Als sich etwas Kaltes sanft auf sie legte dämmerte ihr das es wieder zu schneien angefangen hatte. Dann hörte sie laute, schallende Schläge. Glocken des kleinen Kirchturms im Norden. Der Morgen war noch nicht angebrochen also war es jetzt wahrscheinlich Mitternacht. Ihr Körper war steifgefroren doch trotzdem konnte sie fühlen wie jeder Glockenton in ihr nachhallte. Hua, dessen Schnurren längst verstummt war, lag unter einer leichten Schneedecke und rührte sich nicht mehr. Sie schlief tief und fest. Ihre Lippen hoben sich schwach zu einem Lächeln. Auch sie musste jetzt schlafen denn sie wollte unbedingt ausgeruht sein wenn

der nächste Tag anbrach. Weihnachten. Das letzte woran sie dachte bevor ihre Lider ihr den Dienst versagten.


Ganz leise schlich sich ein helles Lachen an ihre Ohren. Kitzelte sie, wärmte sie, breitete sich aus und wurde lauter. Dieser erheiternde Klang war so ansteckend das sie spürte wie sich ein Grinsen auf ihr Gesicht legte. Als es sich mit dem Knistern eines Kaminfeuers mischte, zogen Bilder an ihr vorbei. Sie sah sich selbst, wie sie kauernd unter einem geöffneten Fenster dahockte und den prunkvollen Kamin einer wohlhabenden Familie bestaunte, in dessen Mitte ein wunderbares Feuer

brannte. Das Bild verblasste und wich dem Geruch von Glühwein und frischen Plätzchen welcher ihre Nase umschmeichelte. Sie nahm einen tiefen Atemzug und sah wie sich aus dem Nichts ein Spiegelbild vor ihren Augen kristallisierte. Nur wenig jünger als sie es jetzt war, unterhielt sie sich scheu mit der älteren Dame die nahe des Glockenturmes lebte. Die Frau überreichte ihr ein besticktes Tuch in das allerlei Arten von Plätzchen eingewickelt waren. Das waren Erinnerungen! Auf einmal erschienen so viele Bilder. Sie, wie sie unter schneebedeckten Tannen stapfte und Pulverschnee auf ihren Kopf rieselte als

sie einmal zu fest an einem Nadelzweig gezogen hatte. Sie, wie sie sich von ihrem alltäglichen Einkaufsmarsch davongestohlen hatte um sich die dekorierten Schaufenster der Läden anzusehen. Sie, wie sie die anderen Kindern beim Schlittenfahren beobachtete und es dann ebenfalls mit Hua auf dem Schoß und einer alten Bäckertüte versuchte. Sie sah den Schneemann den sie klammheimlich als Kind hinterm Haus zusammengerollt hatte und der nur aus einem grinsenden Kopf, ein paar kleinen Steinen und zwei abgebrochenen Zweigen bestand, bevor ihr Adoptivvater ihn am nächsten Tag entdeckt hatte. All diese Bilder

erinnerten sie daran, dass sie im Schatten des ganzen Übels auch schöne Momente erlebt hatte, die ihr Herz auftauten wenn es mal wieder eingefroren war. Sie begann so herzhaft zu lachen. Endlich fiel ihr auf das sie all die Jahre sehr wohl ihr eigenes Weihnachten gefeiert hatte. Ihre Füße hatten sie von einer Sonnenseite zur anderen getragen. Es war ihr bloß nie aufgefallen da sie nur auf die schlechten Dinge in ihrem Leben fixiert gewesen war. Grinsend wischte sie sich dicke Kullertränen aus dem Gesicht. Sie wusste nicht ob sie noch immer am Lachen war oder vor Glück weinte. Dann ganz ohne Vorwarnung, erstrahlte die

Leere um sie herum in gleißendes Licht. Blitzartig hob sie ihre Arme vor das Gesicht und hielt vor lauter Angst geblendet zu werden, die Augen fest verschlossen. Als sie hörte wie das Lachen, das die ganze Zeit über zu hören war, immer leiser wurde bekam sie es mit der Angst zu tun. „Nein!“ rief sie und griff blind mit der Hand ins Leere. „Geh nicht weg!“ Sie wollte nicht, dass die Stimme verschwand. Wollte nicht allein sein. Vorsichtig tat sie zwei Schritte vorwärts und hob die Lider. Ein Fehler. Das Licht brannte sich sofort in ihre Augen, machte sie tränenblind. Als hätte sie etwas Verbotenes getan, verschwand die fröhliche Stimme in

einem letzten Echo und heulte als tosender Wind wieder auf. Sie schrie. Alles drehte sich in einer rasenden Geschwindigkeit um sie. Es fühlte sich an als würden in Form von Wind getriebene Schreie sie von einer Richtung zur anderen peitschen. Als sie glaubte nicht mehr stehen zu können, wurde ihr auch schon der Boden unter den Füßen weggerissen. Ihr Schrei erstickte in einem heftigen Hustenanfall. Ohne ihr Augenlicht und mit ausgestreckten Armen die ins Leere griffen, fiel sie schluchzend immer tiefer. „Nein bleib bei mir, geh nicht weg.“, weinte sie. Doch die Stimme hatte sich dem Gebrüll des Sturmes

längst ergeben. 

„Nein, nein, bleib hier, geh nicht weg!“ 

Sie streckte die Arme aus und erwischte den Kragen eines Mantels. Völlig aufgelöst riss sie die Augen auf und blickte in die schwarze Iris eines ihr bekannten Gesichtes. Sie atmete schwer und zitterte unkontrolliert. Wo war sie? Wo war die Stimme hin? Wessen Gesicht war das? „Ganz ruhig. Du hast schlecht geträumt.“, hörte sie ihn sagen. Geträumt? Sie war durcheinander. Wer war das? Mit hektisch klopfendem Herzen wühlte sie in ihren Erinnerungen herum und betrachtete dabei sein hübsches Gesicht. Ohne es zu wollen blieb sie an seinen Augen hängen. Wie

schwarz sie waren. Dann dämmerte es ihr. Der Junge den sie umgerannt hatte! Er beugte sich sichtlich verwirrt über sie und griff behutsam nach ihrer Hand die sich in seinen Kragen festgekrallt hatte. Es war helllichter Tag und sie lag auf dem Boden des Marktplatzes. Doch etwas stimmte nicht. Es fühlte sich alles so unreal an. Sie sah sich hastig um. Der Sturm, die Bilder, das Lachen. Es war alles weg. Nur hier und da sah man ein paar Leute über den Platz vorbeihasten. Hatte sie wirklich nur geträumt? 

„Keine Angst, ich bleibe hier.“ Was? Völlig perplex sah sie ihn an. 

„Du hast geschrien Bleib hier, geh nicht weg.“, wiederholte er ihre Worte und

drückte beruhigend ihre Finger. Prompt lief sie rot an und entzog ihm eilig ihre Hand. Sie wusste nichts darauf zu antworten. Hatte sie im Schlaf geredet während er sie hier gefunden hatte? Liegend neben dem Brunnen! In einem Nachthemd! Gott, war ihr das peinlich. Sie entschied lieber nichts zu sagen. Etwas unbeholfen zog sie sich mit beiden Händen am Brunnen hoch und erschrak über den nassen Randstein. Als sie aufblickte traute sie ihren Augen nicht. Hohe Wasserfontänen umkreisten den steinernen Körper des Engels. Die fliegenden Tropfen glänzten in der Mittagssonne, brachen das Licht und bildeten einen kleinen Regenbogen.

Vergessen waren die Peinlichkeiten und der wirre Traum. Voller Staunen sah sie zu den Wasserspielen des Brunnens hinauf. Sie hatte ihn noch nie intakt gesehen. Mit ausgestreckter Hand bückte sie sich über den Randstein und fing einzelne Wassertropfen auf. Ein kurzes Quieken entfuhr ihr. Wie eisig es war. Als sie sich auf Zehenspitzen vorwagte um mehr von dem kalten Wasserspiel abzubekommen wurde sie schlagartig zurückgezogen. „Vorsicht, oder willst du bei der Kälte baden gehen?“ Kälte? Sie fror kein Stück. Sie drehte sich um und sah in sein besorgtes Gesicht. Mist. Er musste sie für Verrückt halten. In diesem Aufzug und der Jahreszeit

draußen zu schlafen. Beim Stichwort Jahreszeit jagte ein Hochgefühl ihren Rücken hinauf nur um dann augenblicklich wieder abzustürzen. Es war Weihnachten, doch wo war Hua? Erschrocken sah sie auf den Platz auf dem sie gelegen hatte und suchte Hals über Kopf nach ihrer Freundin. Wo war sie? „Was ist los?“ fragte der Junge dessen Namen sie noch nicht einmal kannte, doch daran verschwendete sie jetzt keinen Gedanken. Sie riss sich von ihm los und rannte um den Springbrunnen herum. Aber von Hua waren noch nicht einmal Pfotenabdrücke zu sehen. Dieser verdammte Schnee. Ohne sie war Weihnachten nicht

dasselbe. Sie unterdrückte wieder aufsteigende Tränen und rannte zurück. Dort packte sie seine Hand und zog daran. „Bitte.“, gab sie verzweifelt von sich. Er musste ihr helfen. Verständnislos sah er sie an. Verdammt, sie hatte sich selten mit jemandem unterhalten. Meistens wurde sie gemieden oder nicht beachtet. Daher fehlte ihr auch das nötige Konversationstalent. Und jetzt stand jemand wie er da und redete mit ihr. Das war sie nicht gewohnt. Doch bevor sie ihm mit Händen und Füßen mitteilen konnte was los war hörte sie hinter sich ein Miauen. Abrupt wandte sie sich dem Brunnen zu als ihr Blick auch schon an

einem kleinen schwarzen Knäul hängen blieb das wie sie bis grad eben versuchte einzelne Wassertropfen aufzufangen. Ein Seufzer gnadenloser Erleichterung entfuhr ihr. Sie ging zum Randstein des Brunnens auf dem Hua saß und angefangen hatte sich zu putzen. Während sie sich neben sie hockte und sie beobachtete, schickte sie ein Dankesgebet gen Himmel. Was hätte sie nur ohne Hua getan. Sie hatte sie schon in so mancher Lebenslage begleitet und war nicht verschwunden selbst als sie Prügel einstecken musste. 

„Tapferes Kätzchen.“, flüsterte sie und kraulte Hua unterm Kinn. Diese hieß die Streicheleinheit mit einem Schnurren

sofort willkommen. „Alles wieder in Ordnung?“ Sie zuckte zusammen und sah hoch. Der geheimnisvolle Junge mit dem schwarzen Haar stand wenige Schritte vor ihr und schaute sie schief lächelnd an. Erstaunt sah sie in sein Gesicht. Sie hatte angenommen er wäre längst wieder gegangen. 

„Darf ich mich dazusetzen?“, fragte er scheu und deutete mit seinem Blick in Huas Richtung. Als sie nickte, schenkte er ihr wieder sein schiefes sympathisches Lächeln das ihr so gefiel, und nahm neben Hua Platz. Diese nahm beim Sauberlecken keine Notiz von ihm. Sie wusste nicht was sie hätte erwarten sollen, aber dass er sich dazusetzte und

mit ihr bis in den weiten Abend hinein sprach wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Hauptsächlich war er am erzählen. Er sprach über die Bewohner hier. Über Gott und die Welt. Das alles seine Schatten- und Sonnenseiten hatte. Sie nickte nur und hörte neugierig zu. Wenn er ihr ab und zu eine Frage stellte lief sie auf der Stelle rot an und verhaspelte sich oft. Doch mit der Zeit wurde es leichter. Am späten Abend war sie sogar so gut, dass sie völlig frei reden konnte. Irgendwann wurde sie mutiger und erzählte von ihren Problemen und Ängsten. Sie wusste er würde sie für nichts verurteilen. In diesen Momenten war sie glücklich. Sie

hatte gelacht und auch ein paar Tränen vergossen. Es war wie im Traum. Sie hätte ewig so weiterreden können. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so unbeschwert gefühlt. Sie war sich sicher, dass sie kein Weihnachten so viel Dankbarkeit empfunden hatte wie in diesem Jahr. Diesen Gedanken wollte sie ihm gerade mitteilen als sie bemerkte wie seine Hand im Brunnenwasser umherstrich. Er sah sie gedankenverloren an. 

Hua hatte sich bereits zurückgezogen und schlief zwischen ihren Füßen. Mit einem Mal war sie unglaublich müde. Schläfrig rieb sie sich die Augen und unterdrückte ein Gähnen. 

„Müde?“, fragte er. Etwas in ihr schien zu glauben, dass das seine letzte Frage an sie sei. Blinzelnd sah sie ihn an. Er hob die Hand aus dem Wasser. Bildete sie sich das nur ein oder tauchte sein Spiegelbild wirklich nicht wieder auf? Angestrengt versuchte sie die Augen offen zu halten. Was war los? War stundenlanges Reden wirklich so ermüdend? Träge nickte sie ihm zu und sah sich um. Die Nacht war längst hereingebrochen. Es schien als würde der bisher so ruhige Wind aus allen dunklen Ecken pfeifen und eisige Kälte mit sich bringen. Sie spürte wie er ihre Hand nahm und sie mit sich auf den Boden zog. Verwirrt saß sie neben ihn.

Was jetzt? 

„Für heute ist es genug. Schlaf jetzt.“, raunte er ihr zu und lehnte sich mit den Rücken an den kalten Brunnenstein. Schlafen? Hier? Völlig entkräftet hob sie Hua hoch die komplett regungslos auf ihrem Schoß weiterschlief. Sie schaffte es gerade noch ihren Kopf in den Nacken zu legen und zum Firmament emporzuschauen. Der Mond kam sichelförmig hinter einer Wolkendecke zum Vorschein und strahlte auf sie herab. Zu hell. Ihre Augen fielen zu und sie schmunzelte als ihr auffiel das sie ihn die ganze Zeit über nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Jetzt war es zu spät. Er hatte Recht. Für heute war es

genug. In der Ferne erklang ein letzter Glockenschlag der mit dem Wind davon getrieben wurde. Keine Angst, keine Sorgen. Es war wie im Traum. Ein herrlicher Traum.


Der neue Tag war angebrochen und die Sonne kam hinter den Dächern der Häuser zum Vorschein. 
In kürzester Zeit begann die Stadt zu erwachen und zu regen. Es war Weihnachten. Familien kamen zusammen und feierten miteinander. Als eine Frau mittleren Alters die nahe des Marktplatzes wohnte, am Springbrunnen vorbeikam, ließ sie entrüstet den Korb mit Geschenken fallen. „Um Gottes

Willen.” rief sie und rannte zum Brunnen.
Weitere Bürger hatten sich am Schauplatz versammelt und betrachteten das elendige Bild vor ihren Augen.
Sie keuchten auf und man hörte sie untereinander flüstern. 
„Ist das nicht das Mädchen das dort oben auf dem Hügel gelebt hat?”
„Sie war adoptiert.”
„Sieht so aus als hätte man sie hinausgeworfen.”
„Warum liegt sie hier?”
„Wahrscheinlich hatten sie genug von ihr.”
Aufgeregt tuschelten sie und betrachteten schockiert das Mädchen vor

ihnen das erfroren neben dem Springbrunnen lag.
In ihren Armen lag eine Katze die die Nacht ebenfalls nicht überlebt hatte.
Sie beide begrub eine dünne Schneeschicht. Ihre Lippen und Wangen waren ganz blau und ihre Haarspitzen eingefroren. 
Die Frau kniete nieder und strich ihr sanft einige Strähnen aus dem Gesicht.
„So ein hübsches Mädchen, wie schrecklich.”
Sofort entstand ein großes Durcheinander. Es kamen immer mehr Schaulustige dazu während andere Hilfe holten. 
Aber keiner, nicht ein einziger bemerkte

das verträumte Lächeln auf dem Gesicht des Engels das bis heute noch nicht da gewesen war. 


                                                                       

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SPADE

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Gast Eine wirklich schöne und vorallem traurige Geschichte, die zum Nachdenken anregt :)
Vor langer Zeit - Antworten
aprilinparis Sehr schöne Geschichte - tolles Ende! Freu mich auf mehr Geschichten! :)
Vor langer Zeit - Antworten
Falkonide Ja doch, eine moderne Variante von dem Mädchen mit den schwefelhölzern.
Traurig und gut geschrieben :)
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Sehr schön geschrieben - erinnert mich ein bisschen an "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern".
Gern gelesen.

LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Lighania Eine wirklich schön geschriebene und traurige Geschichte. Man fühlt sich richtig in die Protagonistin ein und leidet mit ihr. Das Ende passt perfekt zu dem Rest und ich hatte irgendwie schon vermutet das es so enden wird, was mich aber nicht enttäuscht. Weiter so :)
Vor langer Zeit - Antworten
SPADE Ich dank dir für dein Feedback
Vor langer Zeit - Antworten
Lighania Kein Problem^^
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