Kein Wintermärchen.
Der Zauber des ersten Schnees. Plötzlich ist er da. Jedes Jahr aufs Neue ist es dieser Moment, auf den ich warte. Der erste Schnee, er fühlt sich an wie das erste Verliebtsein, wie ein Kribbeln im Bauch. Er lässt mich an die Zeit zurückdenken, als ich ein Kind war. Der erste Schnee hat etwas Aufregendes, etwas Verheißungsvolles. Dieses Jahr blieb der Schnee aus.
Ich liebe den Winter, die Kälte, die Gemütlichkeit. Der Winter nimmt dem Leben die Hektik. Er lädt ein zum durchatmen, beruhigt. Dieses Jahr ist alles anders.
Es war an einem Sonntagmorgen, an dem ich feststellte, dass er gegangen war. Ohne eine Warnung. Sein Gesicht sah friedlich aus, seine blauen Augen waren regungslos und starr, aber
sein Blick war so wie am Anfang. Wie früher als alles noch einfach war. Wie in dem Winter, als wir uns kennenlernten. Mit den Jahren hatte sein Blick sich verändert. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt es mir auf. Er hatte seine Leichtigkeit verloren. Wir hatten uns verloren.
Ich trug meinen schwarzen Wintermantel, meine schwarze Mütze und meine schwarzen Handschuhe. Es war kalt geworden. Der erste Frost. Vielleicht würde es bald zum ersten Mal schneien, dachte ich. Ich war auf dem Weg nach Hause, als ich ihn traf. Er gefiel mir sofort.
Seit diesem Tag verbrachten wir jeden Tag zusammen. Es war wie ein Traum, wie ein Märchen. Ein Märchen, das im Winter begann, mit dem ersten Schnee. Die Jahre zogen vorüber und immer wieder war es der erste Schnee, der mich daran erinnerte, wie glücklich ich bin. Ich
hatte sie gefunden, die Liebe meines Lebens.
Wir hatten Träume. Wir wollten eine Familie gründen. Wir arbeiteten hart um uns unseren gemeinsamen Traum zu erfüllen. Es sollte ja nur für ein paar Jahre sein. Wenn wir Kinder haben wollen, müssen wir für sie sorgen können, dann brauchen wir finanzielle Sicherheiten. Mir ist nicht aufgefallen, dass unsere Träume zur Belastung wurden. Dass sie immer schwerer wurden, dass sie ihn erdrückten.
Glück ist zerbrechlich, man muss es schützen, es ist kostbar - Ich habe ihn erdrückt.
Er ist gegangen, ohne ein Wort des Abschieds. Ich bleibe zurück, allein. So allein, wie man nur sein kann auf dieser Welt.
Ich habe diesen schwarzen Mantel nicht mehr, den ich damals trug, als wir uns kennenlernten. Warum eigentlich nicht? Manche Dinge werden
erst kostbar, wenn man sie nicht mehr hat. Manches, war immer schon kostbar, wie er. Aber er ist mir entglitten.
Diesen Winter gibt es keinen Schnee. Nicht mal einen Winter.
Ich sitze an meinem Fenster und warte, aber er kommt einfach nicht. Ich habe ihn verloren. Dabei brauche ich ihn um diesen kurzen Moment des Glücks noch einmal zu spüren. Noch einmal das Gefühl zu haben zu leben. Als er ging, war es als würde ein Teil von mir gehen.
Warum gehe ich nicht? Mir fehlt die Kraft dazu. Seit drei Monaten ist jeder Gedanke an ihn gerichtet.
Der erste Schnee, der alles in eine weiße Winterwunderwelt verwandelt. Als Kind war ich fasziniert vom Schnee. Kalte Schneeflocken auf
meiner Haut, erinnern mich daran, dass ich noch lebe. Sie würden mich daran erinnern. Aber in diesem Winter gibt es keinen Schnee.
Es ist als hätte ich den Schnee nicht mehr verdient. Als hätte ich mein Glück verspielt, als wäre es aufgebraucht. Das kommt davon wenn man zu viel will. Wenn man versucht das Glück zu fassen, dann zerbricht es, oder es schmilzt, wie eine Schneeflocke, die man versucht festzuhalten.
In all den Jahren, in all den Wintern habe ich nicht einmal gefragt, Warum? Warum leben wir Jahr für Jahr vor uns hin. Wofür leben wir? Wir werden sterben. Wir leben um zu sterben? Wir leben und versuchen zu verdrängen, dass wir sterben werden?
Er war aufgebraucht. Man kann den ersten Schnee nicht konservieren. Er wird früher oder später schmelzen. Es lässt sich nicht aufhalten.
Man muss darauf hoffen, dass neuer Schnee kommt. Im nächsten Winter. Doch es gibt keinen Winter.
Er hat sich entschieden zu sterben. Ich würde genauso entscheiden, wenn ich die Kraft dazu hätte.
Ich bleibe zurück. Ich bin auch vorher allein zurecht gekommen. Bevor ich ihn kannte. Ich habe für ihn gelebt. Ich muss erst wieder herausfinden, wer ich bin, ohne ihn. Wir waren ineinander verschmolzen und ich muss zu mir zurückfinden. Falls ich das will.
Gemütliche Winterabende vor dem Kamin. Verschnupfte Nasen. Der Trubel der Vorweihnachtszeit. Ein fröhliches Weihnachtsfest: Gibt es dieses Jahr nicht.
Wenn es einen barmherzigen Gott gibt, warum
lässt er uns dann leiden? Warum lässt er uns leben, wenn wir doch sterben werden? Als er noch da war, brauchte ich keinen Gott. Im Moment meiner größten Not sind nur zwei Fußabdrücke im Schnee. Es sind meine, nicht seine.
Weihnachten, die Geburt Jesu. Wir haben uns so sehr Kinder gewünscht. Ich werde keine Kinder mit ihm haben. Es ist zu spät. Wir haben zu lange gewartet auf den richtigen Moment.
Jeden Morgen neben ihm aufzuwachen, gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Jeden Morgen, an dem ich jetzt aufwache ohne ihn, lässt mich innerlich zusammenzucken. Es ist als wäre mein Inneres zerbrochen. In tausende Eiskristalle. In mir ist es so kalt, dass sie nicht schmelzen. Aber Eiskristalle sind nicht wie der Schnee. Sie sind spitz und scharf, nicht sanft und friedlich.
Schneeflocken, die vom Himmel fallen, sie
tanzen durch die Luft. Sie glitzern und funkeln. Wir sind wie Schneeflocken. Wir leben einen kurzen Moment, doch dann schmelzen wir dahin. Unsere Existenz ist nicht ewig. Sie ist endlich.
Doch wo kommen wir her und wo gehen wir hin? Wo führt mich meine Reise hin? Ich habe längst das Gefühl verloren, einen Einfluss auf mein Schicksal zu haben. Ich scheine von außen gelenkt. Irgendjemand, Irgendetwas scheint die Strippen in der Hand zu haben. Wir alle scheinen fremdbestimmt. Jemand, Etwas verfügt über uns und die Welt um uns. Es ist mir Recht.
Diese Welt bedeutet mir nichts mehr. Nicht nach dem er gegangen ist. Wo ist er hin gegangen? Was erwartet uns nach dem Tod? Wird es jemals wieder einen Winter geben?