Schneeflocke
Langsam rieselte der Schnee vom milchig weißen Himmel herab und bedeckte die Landschaft unter seiner weißen Pracht. Ich vergrub meine Schnauze zwischen meinen Vorderpfoten und beobachtete die Zweibeiner, wie sie geschäftig an mir vorbei rannten. Es waren viel mehr als sonst. Irgendetwas stimmte ganz gewaltig nicht, das sagte mir mein akitanischer Instinkt.
Das allerseltsamste war aber, dass einige von ihnen Bäume mit sich herumschleppten. Bäume! Als ob es da draußen nicht genug gäbe, mehr als man
jemals bepinkeln konnte. Aber na ja, die Menschen waren noch nie sonderlich normal gewesen. Immer wollten sie alles für sich haben und nun beanspruchten sie sogar die Bäume. Hoffentlich ließen sie noch welche über. Ihnen passte es schließlich auch nicht, wenn Meinereiner sein Geschäft einfach an ihren großen Steinhöhlen oder ihren schnellen Brummseldinger verrichtete.
Ich musterte eine vereinzelte Schneeflocke, die Haken schlagend herabsegelte. Vor was sie wohl flüchtete? Sie landete auf meiner Nasenspitze und ich versuchte angestrengt, sie mit beiden Augen
gleichzeitig zu sehen. Dabei bemerkte ich, wie eines der vorbeihastenden Pfotenpaare vor mir stehen blieb.
„Na, was machst du denn hier so ganz alleine?“ Der Besitzer der Pfoten, ein hochgewachsener Mann mit dickem Schal und roter Nase, die er immer wieder hochzog, beugte sich zu mir herab. Ich wollte ihn gerade genervt verknurren, als er mich hinterhältig zwischen den Ohren kraulte. Mein Schwachpunkt. Sofort war es um mich geschehen, ich reckte genießerisch den Hals. Es kam nicht oft vor, dass mich ein Zweibeiner mit seinen angenehm sanften Krallen verwöhnte. Viel häufiger
wurde ich mit Tritten und viel Geschrei davongejagt.
„Du bist wohl ein kleiner Streuner, hm? So siehst du zumindest aus.“ Er richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf und sah auf mich herab. „Warum eigentlich nicht?“, murmelte er leise vor sich hin und sah zu einem blauen Brummseldings, das zwischen vielen anderen Brummseldingern vor uns wartete. Und dann wieder zu mir.
Ich legte den Kopf schief. Was zum Teufel wollte der von mir? Auf einmal ging er zu seinem Brummseldings und öffnete die hintere Haut des Ungetüms.
Darin sah es weich und gemütlich aus.
„Hopp, spring rein, Kleiner! Dann bekommst du zu Weihnachten mal eine warme Stube und eine ordentliche Knackwurst.“
Weihnachten? Was war das schon wieder? Der wollte mich wohl veralbern. Oder war es einer dieser Hundefänger, von denen mein Hundefreund Charlie mir erzählt hatte? Wenn ja, hatte er ganz schön übertrieben. Von wegen Hetzjagd und Fangnetz und Gitterstäbe und so.
„Nun komm schon, es ist eiskalt.“ Er schlotterte und zog ein weißes Tuch
hervor, mit dem er sich über seine Nase wischte. „Hab keine Angst, ich tu dir nichts.“
Angst? Das war zu viel. Akitas hatten keine Angst! Ich brummelte missgelaunt und war mit einem gut gewählten Satz in dem komischen Ding, dem man die Haut aufziehen konnte. Und kaum dass ich es betreten hatte, machte der Zweibeiner es wieder zu! Trotzdem konnte ich noch nach draußen sehen. Ich sag’s euch, das war vielleicht merkwürdig!
Die Umgebung zog vorbei, ich wurde unangenehm herumgeworfen. Ob es ein Fehler war, in das Brummseldings
einzusteigen? Aber jetzt war es zu spät und schlimmstenfalls konnte ich ihn immer noch verknurren. Ein mächtiger Akita Inu wie ich konnte jedem das Fürchten lehren.
Als wir wieder hielten, brachte er mich in eines der großen Steinhöhlen, in denen diese Zweibeiner hausten. Darin war es schön gemütlich warm und in einem Abteil stand sogar ein eigener Pinkelbaum! Mit ganz vielem Knabberzeug zum Zerbeißen daran. Als ich es jedoch ausprobieren wollte, wurde der Zweibeiner wütend. Er befahl mir, still sitzen zu bleiben und ich tat es auch; natürlich nicht aus gehorsam,
sondern weil es an dem Kasten, in dem Feuer flackerte, schön gemütlich war.
Und dann geschah es: Aus irgendeinem Grund fing er an zu heulen! Er vermisste wohl sein Rudel, immerhin war er ganz allein. Ganz traurig und kläglich heulte er vor sich hin, es war herzzerreißend. Das konnte ich nicht mit ansehen, deshalb half ich ihm und machte mit. Zuerst sah der Zweibeiner mich komisch an, aber dann brach er in schallendes Gelächter aus. Ich verstand die Welt nicht mehr. Zuerst war er todtraurig und im nächsten Moment lachte er über
irgendetwas!
Menschen sind eine verdammt komische Spezies. Immerhin hat er mir dann eine leckere Wurst spendiert. Dafür hat sich der Aufwand allemal gelohnt. Mal sehen, vielleicht bleibe ich sogar bei ihm. Aber nur vielleicht. Er nennt mich neuerdings Schneeflocke und will, dass ich ihm irgendwelche Sachen bringe. Sehe ich so aus wie ein braver kleiner Dackel? Ich trage dem Typen doch nicht all seine komischen Papierrollen hinterher, wozu soll das bitteschön gut sein? Und das auch noch im tiefsten Winter! Er will doch nur selbst nicht rausgehen … Jeden Abend gibt er mir
eine Schale Futter und geht mit mir lange spazieren. Charlie hat mich ausgelacht, als er mich gesehen hat – angeleint und brav neben dem Zweibeiner hertrottend. Aber ich machte mir nichts daraus, denn ich hatte mein Rudel gefunden.