Sie hatte genug davon. Die ständige Panik ihrer Eltern, das Mitleid. Sie wollte doch nur wie jedes andere 15-Jährige Mädchen sein, wollte mit Freunden ausgehen, wollte Partys machen und generell einfach nur Leben. Stattdessen war sie immer nur allein. Ihre Eltern gingen jeden Abend aus, und zur Gesellschaft schickte man ihr ein „Kindersitter“, ungefähr in ihrem Alter! Das war so erniedrigend und unglaublich peinlich. Jugendliche in ihrem Alter hatten keine Sitter mehr, die auf einen aufpassen mussten. Sie war wohl fähig auf sich allein aufzupassen, doch das
durfte sie nicht. ,, Du bist unser einziges Kind, wir wollen nur das Beste für dich.“ Hatten sie immer wieder gesagt, als Jill nachgefragt hatte. Aber sie wollte nicht das Beste, sie wollte Leben, wie jeder andere auch! Nun saß sie hier, in dem riesigen Garten, mit dem großen Anwesen hinterm Rücken, am Teich und starrte aufs Wasser, wobei ihre Füße immer kälter wurden, die sie durch die Oberfläche gesteckt hatte. Nein, ihre Eltern konnten ihr nicht mehr nur das Beste geben, denn sie besaß schon alles, nein, sie wollte
das Leben haben, welches ihr so unscheinbar genommen wurde. Jill wusste nicht, wie lange sie hier gesessen hatte, nachdem sie vor dem Sitter geflohen war, doch die jetzt aufkommende Kälte riss sie unweigerlich zurück in die Hölle. Als dann auch noch der Junge nach ihr rief, war alles vorbei. Sie stöhnte genervt auf. Der Typ behandelte sie wie ein kleines Kind, genau wie ihre Eltern.Es gab Zeiten, und die kamen im Moment immer öfter, da dachte sie darüber nach einfach wegzugehen, spurlos zu verschwinden. Ganz gleich was ihre Eltern dachten, es war ihr auch egal ob sie sich Sorgen
machten, denn ihre Beziehung zu ihnen war längst zerbrochen. ,, Jill, deine Eltern kommen gleich nach Hause, und du willst ihnen doch nicht etwa in diesen nassen Klamotten entgegentreten, oder?“, während er sprach grinste er sie spöttisch an. Sie hatte ihn gar nicht näher kommen hören. Was fiel diesem Jungen eigentlich ein? Ihre Kleidung war perfekt, es hatte niemanden zu interessieren was sie trug, nicht einmal ihren Eltern. Äußerlich uninteressiert erhob sie sich und nahm Ihre Schuhe in die Hand, die sie neben sich abgestellt hatte, dabei lächelte sie ihn unberührt an, obwohl sie innerlich
schon wieder kochte. Jill ging einfach an ihm vorbei, ließ ihn in der kalten Abendluft stehen und marschierte zum Haus hinauf. Die Tür zum Garten war noch geöffnet, und als sie dort ankam, hörte sie bereits den Motor des Autos ihrer Eltern. Sie waren zurück. Und noch einmal stöhnte sie, dieses Mal jedoch sichtlich gereizt. Manchmal wünschte sie sich, dass ihre Eltern nie mehr nach Hause kommen würden, dann wäre sie wenigstens allein in ihrem Leben und konnte tun wonach immer sie strebte. Gerade schloss sie die Balkontür, und
dabei versperrte sie dem Sitter ein reinkommen, als die Haustür geöffnet wurde und ihre Eltern eintraten. Alle beide Wohl gekleidet. Die Mutter, Jade, trug ihr geliebtes, dunkelblaues, langes Kleid, welches sie von ihrem Mann Raven zum Hochzeitstag bekommen hatte. Ihr blondes, langes Haar wellte sich um ihr Gesicht herum, was ihre grau-grünen Augen besonders zu Geltung brachte. Der Vater, Raven, hingegen trug einen weißen, makellos sauberen Anzug mit passender Krawatte. Sein kurzes, schwarzes Haar war perfekt nach hinten gekämmt worden, sodass man es als Frisur ansehen konnte. Dies passte jedoch nicht zu seinen braunen Augen,
die einen leichten stich von Grün beinhalteten, dachte Jill. Ja, das waren ihre Eltern. Kein Mensch konnte perfekt sein, deswegen dachten sie, sie seien etwas Besonderes. ,, Aber das seit ihr nicht …“, murmelte Jill leise und schlich hinter dem Rücken ihres Vaters vorbei zur Treppe, um heimlich zu verschwinden. Vielleicht würde der Sitter dann Ärger bekommen, weil er nicht gut genug aufgepasst hatte. Bei diesem Gedanken musste Jill leise auf kichern, was ein großer Fehler war.Innerhalb eines Sekundenbruchteils war sie auf die erste Stufe gehopst und schon ertönte die Stimme von ihrer Mutter, die sie ertappt hatte.
,, Jill, komm mal her, Schätzchen.“, Oh Gott wie sie diese Worte hasste, doch geschlagener weise musste sie sich wohl oder übel wieder in die Eingangshalle begeben. ,, Oh, Herr im Himmel. Wie siehst du denn aus?!“, fuhr Jade ohne einmal Luft zu holen fort und eilte auf ihre Tochter zu, wobei sie deren Kleidung misstrauisch musterte. Was geht dich das an, dachte Jill und hätte diese Worte beinahe laut ausgesprochen, doch noch mit Mühe und Not hatte sie es sich verkneifen können. Es gefiel ihr, wenn sie etwas tat, was
ihre Eltern nicht wollten. Sie hatte Jahrelang nach deren Pfeife getanzt, doch jetzt sollte damit Schluss sein. ,, Zieh dir sofort was anderes an!“, meckerte ihre Mutter los und schob sie in Richtung Treppe, doch Jill wich ein Schritt zurück, somit Jade sie nicht mehr berühren konnte und schüttelte grinsend den Kopf. Sie hoffte, das war ein deutliches Nein. Die Mutter wollte gerade etwas erwidern, doch als sie den Mund öffnete, kam der Vater wieder herein, der zuvor in die Küche verschwunden war und fragte: ,, Sag mal, wo ist den der
Junge?“ ,, Der steht draußen im Garten.“, antwortete Jill und drehte sich um, doch auf halber Treppe blieb sie erschrocken stehen, als zerberstendes Glas zu hören war. Scherben vielen zu Boden, nur um dort noch einmal zu zerspringen. Jade schrie erschrocken auf und alle drei drehten sich zur Balkontür um, vor welcher eine zerbrochene Scheibe in tausend kleine Teile zerfallen war.In diesem gewaltigen Scherbenhaufen stand der junge Mann, Jills Sitter, und starrte sie lächelnd an. ,, Ich denke, diese Scheibe zu bezahlen
wird für sie kein Problem sein.“, lächelte er und kam näher, wobei er eine Hand nach hinten zu seinem Hosenbund wandern ließ. Jill war langsam wieder zu ihren Eltern runter geschlichen und beobachtete den Jungen ganz genau. Was fiel ihm eigentlich ein? ,, Du ungezogener Bengel, mach das du weg kommst. Du bist gefeuert!“, fuhr ihr Vater den Ex-Sitter an, der wiederrum nur noch breiter grinste. Ja, es sah schon fast dämlich aus. Wäre diese Situation nicht so seltsam angespannt, durch irgendeinen Grund, dann hätte sie gelacht, hätte über das dämliche Grinsen des Jungen gelacht und
Spaß daran gehabt, doch sie konnte nicht. Aus irgendeinem, noch unbekannten Grund, wuchs ihre Nervosität fast ins unermessliche. Wieso nahm er seine Hand nicht mehr nach vorne, wieso lächelte er so seltsam? All diese Fragen spukten ihr gleichzeitig im Sinn herum, und ihr Verstand schien blockiert zu sein. Die ganze Zeit, wo sie nachdachte, schien nur wenige Sekunden anzudauern, denn jetzt antwortete der junge Mann auf die Aussage des Vaters.,, Ach ja, bin ich das?“, jetzt lachte er, triumphierend. ,, Dann sind sie es
auch.“ Ehe auch nur jemand reagieren konnte, schnellte die Hand des Ex-Sitters hervor und ein lauter, mechanischer Knall ertönte. Es war so unglaublich laut, doch auch dies hielt nur einige Sekunden an, wobei der Schall noch immer nicht verklungen war. Jills Vater gab keinen Ton von sich, als er zu Boden sank und sich, mit schmerzverzerrter Miene, die rechte Hand auf die Brust presste. ,, Dad!“, schrie Jill und stürzte von der letzten Treppenstufe herab zu ihrem
Vater, doch er rührte sich nicht und keine Minute verging, da fiel der zweite Schuss und neben ihr sank nun auch ihre Mutter zusammen. ,, Mom!“ Ein paar Mal zerrte und zog sie an den nun leblosen Körpern ihrer Eltern, mit der stillen Hoffnung sie würden einfach wieder aufstehen, aber viel Zeit zum überlegen und Trauern blieb nicht, denn schon hörte sie wieder das klicken der Waffe, die vom Mörder neu geladen wurde. Ihre Sicht war verschleiert, als sie nun ihren Blick hob und in die Augen des Mannes schaute, zu dem sie nie etwas
gefühlt hatte. Jetzt wusste sie auch warum. Die Tränen brannten, doch sie wagte es nicht zu blinzeln, befürchtete, dass der Typ dann abdrücken würde, deswegen kämpfte sie mit aller Macht gegen den Impuls an. ,, Warum weinst du, ich dachte du hast sie gehasst.“, gab er gleichgültig preis. Nein, sie hatte sie niemals richtig gehasst, es war nur Wut dafür, dass sie ihr nicht das Leben gaben das sie haben wollte, doch der Gedanke daran, dass sie nun niemals mehr da sein würden war schrecklich. Viel schlimmer als alles andere zuvor. Jill wusste nicht was sie tun oder denken sollte. Unbekannte
Gefühle wie Angst, Hass aber auch der unglaubliche drang, diesen jungen Mann die Waffe wegzunehmen und sie auf ihn zu richten übermannten sie beinahe, und sie begann zu zittern. Oder lag es nur am Schock? Er war es nicht wert zu antworten und sie erhob sich langsam, noch immer wandte sie den Blick nicht ab. Sie hatte ihn von Anfang an nicht leiden können, sie hatte ihm nicht vertraut, hatte ihn ignoriert, doch ihre Eltern haben ihn immer wieder eingestellt. Und das hier war jetzt die Strafe dafür. ,, Auch du wirst dieses Haus nicht
Lebend verlassen.“ Ihre Gedanken hatten sich immer weiter von dieser Situation entfernt, sodass sie jetzt grausam, durch seine Stimme, hierher zurück geschleudert wurde, zurück in die schmerzliche Realität. Verdammt, sie kannte nicht einmal seinen Namen, oder hatte sie ihn nur vergessen?Er hatte auch vor sie zu töten, und sie sah schon seinen Finger, der sich um den Abzug spannte.War es Real oder Einbildung? Ihre Sinne spielten verrückt, spielten ihr Streiche und plötzlich schob sich ein anderer Instinkt in ihre Mitte. Überrannte all die anderen Gefühle, sodass nur noch dies existierte.
Vielleicht war es auch nur das Adrenalin, das sich jetzt in ihrem ganzen Körper verbreitete und sie mit einer angenehmen wärme erfüllte. Jetzt gleich würde eh alles enden, sie würde nie die Welt da draußen sehen können, weil sie hier sterben würde, einsam. Nein. Das würde nicht geschehen. Mit einer fließenden Bewegung drehte sie sich um, machte einen großen Schritt zur Seite und sprintete die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, wobei sie den Mörder entwischte, ehe er schießen konnte. Jill hörte ihn schreien, ihren Namen. Kurz darauf hörte sie schon seine lauten Schritte, als er ihr
hinterher hechtete, doch sie war schneller, schon längst verschwunden. Die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern hatte sie verbarrikadiert und öffnete nun das Fenster, welches auf ein kleines Baldachin führte. Von dort aus musste sie auf die Einfahrt springen, das war ihre einzige Chance zu überleben. Ein Bein hatte sie bereits durchs Fenster gestreckt, als es wie verrückt an der Tür klopfte. Der Typ schlug mit der Faust dagegen, versuchte die Tür aufzuschieben, doch er schaffte es nicht. Wieder hörte sie einen verzweifelten Schrei, wieder ihr Name. Er wollte sie, es machte ihn rasend, dass
er ihr nicht ebenfalls eine Kugel durch den Körper jagen könnte.Krank, das war das einzige Wort was Jill darauf einfiel und hastig zwängte sie sich nach draußen. Ihr war nie aufgefallen, dass das Baldachin so weit von der Einfahrt entfernt war, aber sie musste sich beeilen, es blieb keine Zeit mehr. Hinter sich hörte sie die Tür krachend aufgehen, scheinbar hatte der Kerl sie aus den Angeln gerissen. ,, Verflucht.“, fluchte sie und nahm all ihren Mut zusammen und sprang.Durch den Aufprall auf dem Asphalt riss sie
sich die nackten Füße auf, da sie keine Schuhe trug. Sie schluchzte und rappelte sich langsam wieder auf, dabei drehte sie sich noch einmal zu ihrem Haus zurück. Der Mörder stand am Schlafzimmerfenster und hatte den Arm ausgestreckt. Er zielte erneut auf sie. Panisch rannte sie die Einfahrt hinab bis zur Landstraße, ohne sich noch einmal umzudrehen. Jetzt bereute sie es, dass sie und ihre Eltern in einem großen Anwesen außerhalb der Stadt Salt Lake City lebten. Na ja, eher gelebt hatten.Während sie in die tiefe Nacht rannte ließ sie ihren Gefühlen und Tränen freien Lauf, es gab kein Grund
mehr sie zu verdrängen.